(Un)Versöhnt: Repräsentationen von 'Versöhnung' zwischen nationalen Geschichtspolitiken und pluralen Gedenk-Kulturen seit 1989 – Erinnerungsorte und Interaktionsformen in vergleichender Perspektive
[English Version below]
„And reconciliation may not come, but truth must come. That’s the condition.”
Die Aussage des US-amerikanischen Anwalts und Bürgerrechtlers Bryan Stevenson vom April 2018 verdeutlicht exemplarisch, wie zivilgesellschaftliche Akteure aktuelle Versöhnungsdiskurse mit der Forderung nach historischer Wahrheit konfrontieren: Versöhnung als politisch-gesellschaftliche Zielvorgabe wird an die Bedingung geknüpft, die in nationalen Geschichtsnarrativen verschwiegenen oder verdrängten Wahrheiten anzuerkennen und öffentlich sichtbar zu machen. Mit dem maßgeblich von Stevenson initiierten „National Memorial for Peace and Justice“ in Montgomery/Alabama, das an die Opfer rassistischer Lynchmorde in den USA erinnert, wurde 2018 der Anspruch, delegitimierte Opfergruppen in der nationalen Gedenk-Topographie zu verankern, architektonisch-museal umgesetzt. Die Benennung der Gedenkstätte übernimmt staatliche Handlungsziele (Frieden und Gerechtigkeit) und vereinnahmt diese selbstbewusst für zivilgesellschaftliches Engagement.
Unsere Tagung fragt nach den medialen Repräsentationsformen, performativen Praktiken und ästhetischen Strategien, durch die aktuelle Versöhnungsdiskurse kommuniziert, kulturell übersetzt und transformiert werden. In historischer Perspektive gehen wir dabei von der Beobachtung aus, dass sich seit 1989 mit dem Ende der Blockbildung zwischen Ost und West sowohl die Schauplätze zwischenstaatlicher Versöhnungspolitiken vervielfacht haben und zugleich Versöhnungspostulate, die aus der ‚eigenen‘ konfliktbeladenen Vergangenheit abgeleitet werden, innergesellschaftlich neu verhandelt werden müssen. Nicht zuletzt die in den Jugoslawienkriegen manifest gewordene Rückkehr militärischer Konflikte nach Mitteleuropa hat dazu beigetragen, dass ‚geschlossene‘ Versöhnungsnarrative (etwa über den Aufbau der deutsch-französischen Freundschaft nach 1945) wieder geöffnet und auf ihren Orientierungswert für aktuelle Konflikttransformationen befragt werden.
Seither ist eine Vervielfachung und globale Verflechtung von Versöhnungsdesideraten und -postulaten zu verzeichnen, die in vermittelter Form nahe und ferne, historische und aktuelle Ereignis- und Erfahrungshorizonte für aktuelle Debatten synchronisieren. Dies verweist einerseits auf die einstweilige Unverzichtbarkeit des Versöhnungskonzepts in zahlreichen gesellschaftlichen und kulturellen Kontexten, insbesondere dort, wo die Transition zwischen konfliktueller Vergangenheit und Kooperation in der Gegenwart und Zukunft bewerkstelligt werden muss. Andererseits sieht sich der Versöhnungsbegriff im interessegeleiteten säkularen Kontext dem grundsätzlichen Verdacht ideologischer Verschleierung ausgesetzt und sein inflationärer Gebrauch wird als Indiz für eine fortschreitende Bedeutungsentleerung kritisiert (Hahn, Hans Henning u.a.: Erinnerungskultur und Versöhnungskitsch, 2008).
Gerade die semantische Unschärfe des Versöhnungsbegriffs verweist auf seine fortdauernde Ergänzungsbedürftigkeit in symbolischer, performativer und affektiver Hinsicht. Vor dem Hintergrund einer zunehmend synchronisierten Verflechtung lokal situierter Versöhnungsdiskurse bieten sich hier vielfältige Untersuchungsperspektiven für vergleichend angelegte Fallstudien an. Indem wir den Fokus auf die öffentlich wirksamen Repräsentationsformen, ästhetischen Strategien und medialen Inszenierungsformen legen, rücken wir Varianten der Rhetorizität und Expressivität von Versöhnungshandeln in den Mittelpunkt der Analyse. Damit soll zugleich der Versuch unternommen werden, die bislang stark von politik-, religions- und sozialwissenschaftlichen Zugängen geprägten ‚Reconciliation Studies‘ um eine kunst- und kulturwissenschaftliche Perspektive zu ergänzen.
Drei Untersuchungsbereiche lassen sich hierbei vorläufig näher eingrenzen; Anregungen zu weiteren Themenbereichen sind willkommen:
1. Lokalisierungen von Versöhnung: Weltweit sind in den letzten beiden Jahrzehnten in zahlreichen Städten Plätze, Brücken und Straßen in prominenten Lagen zu Trägern offizieller Versöhnungspostulate resemantisiert worden (z. B. Reconciliation Place im Regierungsviertel von Canberra mit zahlreichen Arbeiten von Aborigines-KünstlerInnen, 2001). Parallel dazu sind kriegszerstörte Bauwerke nach ihrer Wiederherstellung umgehend als Versöhnungssymbole adressiert worden (z. B. die Alte Brücke von Mostar oder die Dresdner Frauenkirche, 2004). Wie wurden und werden Orte und Objekte für Versöhnungsappelle vereinnahmt und angepasst, um veränderten gesellschaftlichen Forderungen gerecht zu werden? Geht mit diesen Akten, Versöhnungspostulate urban zu lokalisieren, der Wunsch nach einer diskursiven Schließung des Versöhnungsnarrativs einher? Wie differieren hier lokale Wahrnehmungen von der medial transportierten Versöhnungsrepräsentation? Lässt sich im Anschluss an Kirk Savage (Therapeutic Monument, 2006) von ‚therapeutischen‘ Lokalitäten sprechen?
2. Dokumentarische und fiktionale Imaginationen von Versöhnung: Aktuelle Versöhnungspostulate steuern die Relektüre historischer Konflikte und führen vielfach zu Reaktualisierungen von vergangenen Versöhnungsakten in fiktionaler Form. So hat etwa der kurzfristige Waffenstillstand zwischen deutschen und englischen Truppen zu Weihnachten 1914 und das dabei anberaumte Fußballspiel längst ein eigenes mediales Nachleben entwickelt, das sich Sportorganisationen und Verbände für die ‚eigene‘ Erinnerungskultur angeeignet haben. Weiterhin ist die konfliktträchtige Arbeit von Wahrheits- und Versöhnungskommissionen in Südafrika und weiteren Staaten wiederholt Gegenstand fotografischer Dokumentation und filmisch-literarischer Narration geworden. Welche Rückkoppelungen lassen sich zwischen dokumentarischer und dramaturgischer Behandlung von institutionalisierter Versöhnungsarbeit erkennen? Wie wirken z.B. filmische Inszenierungen auf die Erfahrung der Erinnerungsorte zurück?
3. Versöhnung und Naturästhetik: Bei der affektiven Modellierung von Versöhnung spielen naturalisierte Konzepte von zyklischer Regeneration und organischem Wachstum eine wichtige Rolle. Mit dem Friedenspark von Hiroshima ist bereits 1948 ein Typus von Gedenklandschaft geprägt worden, der die Spuren maximaler Zerstörungsenergie mit der regenerativen Resilienz des Pflanzlichen kontrastiert. Auch jüngere Memorial-Museen bieten neben und in einer traumatisch kodierten ‚Architektur der Absenz‘ auch Pflanzen-Enklaven (z. B. Garden of Stones mit eingesetzten Bäumen von Andy Goldsworthy im Museum of Jewish Heritage, New York oder der Garten des Exils im Jüdischen Museum Berlin von Daniel Libeskind). Der Genozid-Gedenkstätte in Kigali/Ruanda sind Gardens of Reflection angegliedert, wobei ein Teilbereich explizit dem Thema „Unity, Division and Reconciliation“ gewidmet ist. Beispiele für die Beanspruchung naturästhetischer Konzepte im deutsch-französischen Versöhnungsnarrativ ließen sich gleichfalls anführen (Deutsch-Französischer Garten in Saarbrücken, Jardin pour la paix im lothringischen Bitche). Neben den historischen Genealogien für die naturästhetische Rahmung von Versöhnungskonzepten wäre in vergleichender Perspektive zu ermitteln, wie ‚Versöhnung‘ von lokalen Akteuren als kulturelle Ressource eingesetzt wird.
Die interdisziplinär orientierte Tagung zielt darauf ab, konzeptuelle Zugänge aus dem Spektrum der Kunst-, Kultur-, Geschichts- und Medienwissenschaften zusammenzuführen. Im Hinblick auf die transregionale Ausrichtung des Vorhabens, sind Themenvorschläge aus dem Bereich inner- und außereuropäischer Area Studies willkommen. Ausdrücklich erbitten wir auch Beiträge von qualifizierten Nachwuchswissenschaftlern. Vortragssprachen sind Deutsch und Englisch.
Abstracts (max. 300 Wörter) für 30-minütige Referate inkl. Vortragstitel und ein kurzer CV können bis 19. Januar 2020 unter schaefer.s[at]mx.uni-saarland.de eingereicht werden.
Die Konferenz wird vom 19.–21. November 2020 an der Universität des Saarlandes in Saarbrücken stattfinden.
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(Un)Reconciled
Representations of ›Reconciliation‹ between National Politics of History and Plural Commemorative Cultures since 1989 – Places of Remembrance and Forms of Interaction in a Comparative Perspective
»And reconciliation may not come, but truth must come. That’s the condition.« — This statement by US attorney and civil rights activist Bryan Stevenson from April 2018 exemplifies how civil society actors confront current reconciliation discourses with the demand for historical truth(s): reconciliation as a socio-political goal is always contingent on the recognition and public visibility of truths hidden and repressed in national historical narratives. Initiated by Stevenson in 2018, the »National Memorial for Peace and Justice« in Montgomery, AL, remembering the victims of racist lynching in the US, for instance embraces the claim of delegitimized groups of victims in a national commemorative topography. Here, the actual naming of this memorial takes on state action goals (namely peace and justice) and confers them self-confidently on civil society engagement.
Our conference thus wants to explore such forms of media representation, performative practices and aesthetic strategies through which contemporary discourses of reconciliation are communicated, culturally translated and transformed. From a historical perspective, we start with the observation that since 1989—following the end of the block formation between ›East‹ and ›West‹—the sites of inter-state reconciliation policies have multiplied, and at the same time demands for reconciliation derived from the ›own‹ controversial past thus have to be renegotiated within the society. In this regard, it were not least the Yugoslav Wars, the return of military conflicts to Central Europe, which contributed to the reopening of ›closed‹ reconciliation narratives (for example about the development of Franco-German friendship after 1945) as well as to a new scrutinization concerning its orientation value for current conflict transformation.
Since then, we have seen a striking proliferation and growing interconnectedness of reconciliation discourses on a global scale, in which nearby and distant sets of events, past and present ranges of conflict-ridden experiences are synchronized via mediatization and thus processed for current debates. On the one hand, this may refer to the provisional indispensability of reconciliation in social and cultural contexts in general, especially where the transition between a conflictual past and cooperation in the present and the future must be accomplished. Simultaneously, the concept of reconciliation—influenced by partisan or bias interests within a secular context—is exposed to the potential suspicion of ideological obfuscation, while its inflationary use is criticized as an indicator of a progressive emptying of meaning (cf. Hahn, Hans Henning et al.: Erinnerungskultur und Versöhnungskitsch, 2008).
But just that very semantic blurring of the concept of reconciliation points to its continuing need for supplementation in a symbolic, performative and affective sense. And it is the increasingly synchronized interweaving of locally situated reconciliation discourses that ultimately offer a wide range of investigative perspectives for comparative case studies. By focusing on the publicly effective forms of representation, aesthetic strategies and media depiction, our emphasis thereby is on the rhetoricity and expressivity of reconciliatory acts, while at the same time we want to add a cultural studies and visual arts perspective to the expanding field of Reconciliation Studies, at present strongly marked by political sciences, ethic studies and sociology.
For our approach, we suggest three possible main topics but welcome any additional ideas:
1. Localizations of Reconciliation: Over the last two decades, places, bridges and streets around the world have been re-semanticized to convey a reconciliatory message (e.g. the »Reconciliation Place« in Canberra’s government district with numerous works by Aboriginal artists, 2001). Similarly, war-damaged buildings were immediately addressed as symbols of reconciliation after their restoration (e.g. the Mostar Bridge or the Dresden »Frauenkirche«, 2004). To what extent do sites and objects officially adopted for reconciliatory purposes shape the public perception of those places? Are such strategies to inscribe reconciliation into the urban fabric also accompanied by a desire for a discursive closure of the reconciliation narrative? How do local perceptions differ from the medially conveyed reconciliation representation? Is it possible to speak of ›therapeutic‹ localities, following Kirk Savage (Therapeutic Monument, 2006)?
2. Documentary and Fictional Imaginations of Reconciliation: Current calls for reconciliation control the re-reading of historical conflicts and often lead to re-actualizations of past acts of reconciliation in fictional form. For example, the short-term ceasefire between German and British troops around Christmas 1914 (including spontaneous games of football) has long since developed its own media legacy and is appropriated by sports organizations and associations for their ›own‹ culture of remembrance. Similarly, the conflictual work of truth and reconciliation commissions in South Africa and other states has repeatedly been the subject of photographic documentation as well as literary or cinematic narration. What kind of feedback can be identified between documentary and dramaturgical treatment of institutionalized reconciliation work? How do, for example, filmic productions in turn also influence the experience of places of memory?
3. Reconciliation and natural aesthetics: Naturalized concepts of cyclic regeneration and organic growth play an important role in the affective modeling of reconciliation. As early as 1948, the Hiroshima »Peace Park« marked a type of memorial landscape that contrasts the traces of maximum destruction with the regenerative resilience of plants. Other recent memorial museums feature plant enclaves as well (e.g. »Garden of Stones« with trees by Andy Goldsworthy at the Museum of Jewish Heritage, New York or the »Garden of Exile« outside the Jewish Museum Berlin by Daniel Libeskind). Similarly, the Genocide Memorial in Kigali, Rwanda consists of Gardens of Reflection, with a section dedicated explicitly to the topic of »Unity, Division & Reconciliation«. Further examples using such natural aesthetic concepts in the German-French reconciliation narrative include the »Deutsch-Französischer Garten« in Saarbrücken or the »Jardin pour la paix« in Bitche, Lorraine). In addition to the historical genealogies for the natural-aesthetic framing of concepts of reconciliation, it should also be explored in a comparative perspective how ›reconciliation‹ is used by local actors as a cultural resource.
This interdisciplinary conference aims to bring together conceptual approaches from the fields of art history, cultural studies, historical sciences and media studies. With regard to the transregional orientation of the project, we both welcome suggestions from intra- and extra-European Area Studies. We also specifically ask for contributions from qualified junior researchers. The conference languages will be German and English.
Abstracts (max. 300 words) for 30-minute presentations including a working title and a short CV are due by 19 January 2020. Please send your paper proposals to schaefer.s[at]mx.uni-saarland.de. Notifications will be sent out soon after the deadline.
The conference is to be held 19–21 November 2020 at Saarland University (Saarbrücken, Germany).
DEADLINE
19.01.2020