Tagungsbericht

3. Hermann-Weber-Konferenz zur Historischen Kommunismusforschung: Nach dem Terror. Formen der Herrschaft und Repression im Spätsozialismus

Tagungsbericht

Samuel Kunze

Die Redaktion dankt H-Soz-Kult und dem Autor Samuel Kunze für die Genehmigung, den Bericht über die 3. Hermann-Weber-Konferenz zur Historischen Kommunismforschung bei kommunismusgeschichte.de präsentieren zu können. 

Tagungsbericht: Nach dem Terror. Formen der Herrschaft und Repression im Spätsozialismus, 06.05.2021 – 08.05.2021 digital (Berlin), in: H-Soz-Kult, 23.06.2021, von Samuel Kunze www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-8977.

 

Die Androhung und Ausübung von Gewalt gegen die eigene Bevölkerung gehörte zu den Grundcharakteristika kommunistischer und staatssozialistischer Diktaturen im 20. Jahrhundert. Die Ausprägungen und Funktionen von Disziplinierungs- und Zwangsmaßnahmen veränderten sich jedoch im Verlauf der Zeit. So traten an die Stelle von willkürlicher Gewalt und Terror andere Formen von Repressionen, die zunehmend klaren und nachvollziehbaren Regeln folgten und auf diese Weise für die Bevölkerung berechenbar wurden. Wie verlief diese schrittweise Entwicklung, welche Ursachen lagen ihr zugrunde und welche Auswirkungen hatte sie auf die Stabilität der kommunistischen Regime? Auf diese Fragen sollte die von der „Gerda-und-Hermann-Weber-Stiftung in der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur“ geförderte 3. „Hermann-Weber-Konferenz zur Historischen Kommunismusforschung“ Antworten geben.

Zum Auftakt der Veranstaltung las der Schriftsteller EUGEN RUGE (Berlin) aus seinem Roman „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ und diskutierte mit JÖRG BABEROWSKI (Berlin) über die darin aufgeworfenen Probleme des Lebens in der Diktatur. Anhand der Erfahrungen des Protagonisten Kurt, eines von Ruges Vater inspirierten DDR-Historikers, ging es dabei vor allem um die Frage, wie dessen Erfahrungshorizont als Häftling des stalinistischen Lagersystems seine Wahrnehmung der DDR in den 1960er-Jahren prägte. Auf eindrückliche Art und Weise beschrieb Ruge die zwiespältige Gemütslage Kurts, die sich zwischen dem in der Lagerhaft erlittenen und noch immer präsenten Trauma der eigenen Machtlosigkeit und dem Gefühl der relativen Sicherheit in einem weitgehend kalkulierbar gewordenen SED-Regime bewegte.

Das erste Panel befasste sich mit Strategien der Legitimierung und Herrschaftssicherung poststalinistischer Regime. JÖRG GANZENMÜLLER (Weimar/Jena) ging in seinem Vortrag über Nikita Chruschtschows Entstalinisierungspolitik der Frage nach, wie und mit welchem Erfolg der sowjetische Generalsekretär die KPdSU ab 1956 als Herrschaftsinstrument wiederzubeleben versuchte. Er kam zu dem Schluss, dass Chruschtschows Ansatz, die Parteibasis zu stärken und sie auf diese Weise stärker in die Verantwortung zu nehmen, weitgehend scheiterte und lokale Funktionäre sich die neuen (kommunikativen) Freiheiten oft zu ihrem persönlichen Nutzen aneigneten.

ANDREAS PETERSEN (Zürich) vollzog den Weg deutscher Kommunisten aus dem sowjetischen Exil in die Spitzenpositionen der SED nach. Aus seiner Sicht war die Gruppe der sogenannten Moskauer stark vom Terror der 1930er-Jahre in der Sowjetunion geprägt und ihr politisches Agieren in der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR entscheidend von dieser Erfahrung beeinflusst.

PAVEL KOLÁŘ (Konstanz) beschäftigte sich mit der Entwicklung der Todesstrafe im Poststalinismus und deren Implikationen auf die Stabilität spätsozialistischer Regime und vertrat die These, dass die schrittweise Modernisierung und Humanisierung der Todesstrafe die Legitimität der Herrschenden unterminiert und auf diese Weise zu einem Machtverlust geführt habe.

An die Fragen von Legitimität und Herrschaft anschließend, widmete sich das zweite Panel den Dynamiken und Veränderungsprozessen von Repression und Herrschaftsausübung. IGOR CAŞU (Chişinău) arbeitete anhand von KGB-Akten zwei Grundtypen politischer Oppositioneller in der Moldawischen Sowjetrepublik nach 1956 heraus. Während die Gruppe der „Andersdenkenden“ lediglich Ort digital (Berlin) Veranstalter Lehrstuhl Geschichte Osteuropas, Humboldt-Universität zu Berlin; Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung; BMBF-Forschungsverbund „Landschaften der Verfolgung“ (Jörg Baberowski / Robert Kindler) Datum 06.05.2021 - 08.05.2021 auf konkrete Missstände hingewiesen und das Regime damit nur indirekt kritisiert habe, hätten die „Dissidenten“ die Dogmen und damit auch die Legitimität der kommunistischen Herrschaft grundsätzlich infrage gestellt.

JENS BOYSEN (Warschau) ging auf die Rolle der polnischen Armee als Stabilitätsfaktor für das spätsozialistische Polen ein. Er argumentierte, das Militär sei als Identifikationsobjekt für die Bevölkerung sowie als weitgehend autonomer und in manchen Fällen repressiver Machtfaktor von zentraler Bedeutung für das Überleben des Regimes gewesen.

Einen detaillierten Einblick in spätsozialistische Verwaltungspraktiken osteuropäischer Geheimpolizeien gab MURIEL BLAIVE (Prag) mit ihrer Studie zum Agieren der tschechoslowakischen Geheimpolizei in den 1970er- und 1980er-Jahren. Am Beispiel der Familie Ourada zeigte sie, dass die auf den ersten Blick sinnlos erscheinende überbordende Bürokratie der Polizei einer stringenten Logik folgte und es dem Sicherheitsapparat ermöglichte, flexibel auf neue, häufig auch widersprüchliche Anweisungen der Parteiführung zu reagieren.

Das dritte Panel behandelte die Wechselwirkungen von Kultur und spätsozialistischer Herrschaftsausübung. UDO GRASHOFF (Leipzig) stellte anhand des staatlichen Umgangs mit Suiziden in der DDR grundlegende Überlegungen zur Theoretisierung des politischen Tabus an. Ausgehend von der Feststellung, dass Sprechverbote im Kommunismus nicht etwa das Verschwinden einer Thematik bewirkt, sondern zu einer „gestörten Kommunikation“ geführt hätten, plädierte er für eine ganzheitliche Analyse politischer Tabus, die sowohl linguistische und semantische als auch zeitliche und räumliche Veränderungen berücksichtigen und verstärkt Akteurs-Perspektiven einbeziehen müsse.

OXANA NAGORNAJA (Jaroslawl) ging der Entwicklung der sowjetischen Kulturdiplomatie nach Beginn der Entstalinisierung 1956 nach. Am Beispiel des Schriftstellers Konstantin Fedins stellte sie heraus, dass sich die vom Stalinismus geprägten Kulturbotschafter nur unwillig und schrittweise den neuen politischen Gegebenheiten anpassten und sich daraus eine starke institutionelle Resistenz gegenüber Chruschtschows Entstalinisierungspolitik entwickelte.

DAVID ZELL (Birmingham) analysierte die Vorbereitungen der Feierlichkeiten zum Lutherjahr 1983 in der DDR und ging der Frage nach, wie und mit welchem Erfolg die SED-Führung die Inszenierung dieses Jahrestages sicherzustellen versuchte. Er kam zu dem Schluss, dass die Partei mit ihrem Anspruch, durch das Jubiläum die Einigkeit zwischen Staat und evangelischer Kirche zu demonstrieren, letztlich scheiterte und den staatlichen Führungsanspruch gegenüber der Kirche nur durch das umfassende Eingreifen des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) sicherstellen konnte.

Im vierten Panel wurde der analytische Blick geweitet für über den osteuropäischen Raum hinausgehende Perspektiven. Ausgehend von einer Einordnung der Rolle von Terror und Gewalt für die Entwicklung der Volksrepublik China, skizzierte DANIEL LEESE (Freiburg) das Spannungsverhältnis zwischen Recht und Politik, das die chinesische Politik bis heute kennzeichne. Für die Analyse plädierte er für das von Ernst Fraenkel entwickelte Konzept des Doppelstaates, mit dessen Hilfe man den inneren Grundkonflikt autoritärer Regime und Diktaturen fassbar machen könne.

An diese Ausführungen anschließend analysierte MARTIN WAGNER (Berlin) das Treffen der ZKSekretäre der Kommunistischen Parteien der Sowjetunion und Chinas im Juli 1963 als letzte Episode des Bündnisses beider Länder. Der bei diesen Gesprächen ausgetragene Deutungskampf um die sowjetische Entstalinisierungspolitik habe nicht nur die grundlegenden Defizite im Verhältnis beider kommunistischen Systeme offenbart, sondern auch die kurze Zeit später beginnende wechselseitige Diffamierung beider Seiten argumentativ vorbereitet.

Ebenfalls einen verflechtungsgeschichtlichen Ansatz verfolgte DOUGLAS SELVAGE (Berlin). Anhand der Zusammenarbeit zwischen dem MfS und dem kubanischen Innenministerium zeigte er, wie stark Kooperationsbeziehungen innerhalb des kommunistischen Lagers von politischen Konjunkturen und den Vorstellungen und Plänen sowjetischer Stellen abhängig waren.

Das fünfte und letzte Panel widmete sich den Akteuren, Formen und Auswirkungen politischer Repressionen. SEBASTIAN STUDE (Potsdam) wendete das sozialhistorische Erklärungsmodell der „Diktatur der Grenzen“ auf die Entwicklung der MfS-Ermittlungspraxis in der DDR an. Dabei arbeitete er sowohl eine zunehmende Verrechtlichung im Vorgehen der DDR-Geheimpolizei heraus als auch die im Verlaufe der DDR unveränderte Praxis, politisches Verhalten zu kriminalisieren und kriminelles Verhalten zu politisieren.

Im Anschluss daran diskutierte CHRISTIAN BOOSS (Berlin / Frankfurt/Oder) die Rolle der Staatsanwaltschaft im System der politischen Justiz der DDR. Ausgehend von einer Kritik an der vermeintlichen Dominanz des MfS bei der Verfolgung von Regimegegnern, betonte er die relative Eigenständigkeit der Staatsanwaltschaft in der Honecker-Ära, die auch ein wesentlicher Grund für die Verregelung der politischen Strafjustiz gewesen sei.

ANNA SCHOR-TSCHUDNOWSKAJA (Wien) beschäftigte sich mit der Verarbeitung des stalinistischen Terrors durch prominente sowjetische bzw. russische Schriftsteller und Schriftstellerinnen, die selbst nicht unmittelbar von physischer Gewalt betroffen waren. Zentrales Thema der Auseinandersetzung seien die Bedeutung und die Bedingungen von Lüge und Wahrheit in der Diktatur sowie all jene Aspekte gewesen, über die nicht gesprochen und geschrieben werden konnte. Zum Abschluss des Panels präsentierte HENDRICK BERTH (Dresden) Ergebnisse der sächsischen Längsschnittstudie zu den langfristigen Auswirkungen von Repressionserfahrungen. Er stellte heraus, dass von den 350 seit 1987 regelmäßig befragten Ostdeutschen neun Prozent unmittelbar von politischen Repressionen betroffen waren, ca. 40 Prozent sich im Alltag beobachtet fühlten und etwas weniger als die Hälfte der Befragten auf keinerlei Repressionserfahrungen zurückblickten.

Ausgehend von der Annahme, dass sich die kommunistischen Regime nach Stalins Tod zunehmend verrechtlichten und an die Stelle von Willkür und Gewalt subtilere Formen der Repression traten, konzentrierte sich die Konferenz vor allem auf die Auswirkungen dieser Entwicklung. Während Fragen nach neuen Strategien der Legitimierung und Herrschaftssicherung sowie nach dem Umgang und der Verarbeitung des Terrors aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet wurden, mussten andere Aspekte offenbleiben. Das betrifft nicht nur das Verhältnis von Ideologie und Pragmatismus, sondern auch die Frage, ob die vermehrte Verrechtlichung und Verregelung Ausdruck der Stärke oder aber Zeichen einer zunehmenden Schwäche der Regime war. Wünschenswert sind weitere Forschungen, die neben diesen Fragen andere Fallbeispiele untersuchen und die vorgestellten empirischen Forschungsergebnisse auch in theoretische Konzepte für die Untersuchung und Einordnung (kommunistischer) Diktaturen überführen.