Nachruf auf Thomas Ammer (1937-2024)

Der Mitbegründer des Eisenberger Kreises ist verstorben

Ilko-Sascha Kowalczuk

Das Foto zeigt Thomas Ammer im Alter von 18 Jahren

Etwa 1991 hörte ich zum ersten Mal von der Widerstandsgruppe „Eisenberger Kreis“. Das war eine Gruppe von über 20 jungen Oberschülern und Lehrlingen, die sich nach der Niederschlagung des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953 strikt konspirativ gebildet hatte, um Widerstand gegen die kommunistische Diktatur zu leisten. Ihr ausdrücklicher Antrieb war: Nie wieder! Ihr Vorbild waren die „Weiße Rose“ um die Geschwister Scholl. Der „Eisenberger Kreis“, ein Name, den die Staatssicherheit der Gruppe später gab, protestierte mit selbstgefertigten Flugblättern, mit Wandparolen, mit dem Herunterreißen von Propagandatafeln gegen die SED-Diktatur. Mitglied der Gruppe durften nur jungen Männer werden, weil Frauen als leichter erpressbar und als „schwatzhaft“ galten... Das Ende der Gruppe hat tragischerweise genau dieser Annahme widersprochen. 

Über die genaue Gruppengröße wussten nur 3, 4 Männer Bescheid, aber auch sie kannten nicht alle Mitglieder, die in kleinen Zellen organisiert waren. Um den konspirativen Charakter zu wahren, waren alle Mitglieder angehalten, sich im Alltag nicht sonderlich oppositionell zu geben, sondern „mitzulaufen“, um die Gruppe nicht gefährden. Nach dem Abitur einiger Mitglieder in den Jahren 1953-1955 weitete sich der Aktionsradius aus, weil nunmehr an mehreren Orten Gruppenmitglieder agierten. Zu den politischen Forderungen zählten u.a. freie Wahlen, Abzug der sowjetischen Besatzungstruppen, Freilassung politischer Gefangener, Pressefreiheit, Zulassung von Oppositionsparteien, Beendigung politischer Prozesse, Abschaffung der Stasi. Auch gegen die Militarisierung protestierte die Gruppe. So ist im Januar 1956 auf einen GST-Schießstand ein Brandanschlag verübt worden. Ein Fahrgastschiff, das 1956 auf den Namen „Stalin“ getauft herumfuhr, ist in einer nächtlichen Aktion in „Bayern“ umbenannt worden.

Zum Kopf der Gruppe zählte Thomas Ammer. 1937 in Eisenberg geboren hatte er gemeinsam mit Reinhard Spalke (1937-1995) und Johann Frömel (1935-2019) 1953 die Gruppe begründet. Sein Vater, ein Handwerker, der historische Tasteninstrumente herstellte, hatte sich als KPD-Mitglied am Widerstand gegen die NS-Diktatur aktiv beteiligt. Auf der Oberschule erlebte Thomas Ammer 1952/53 den Kampf gegen die Jungen Gemeinde hautnah mit. Das empörte ihn sehr – als FDJ-Mitglied. Er war an der Oberschule FDJ-Funktionär zur Tarnung und baute die Widerstandsgruppe auf. Das handhabte er so auch nach seinem Wechsel an die Universität Jena, wo er Medizin studierte und ebenfalls in der FDJ aktiv war.

Nach der Niederschlagung der ungarischen Revolution durch sowjetische Truppen im Herbst 1956, versuchte sich die Gruppe zu radikalisieren, zugleich ist die konspirative Vorsicht nochmals erhöht worden. Schließlich flog durch Verrat die Widerstandsgruppe auf: Ein Mann hatte Kontakt zur Gruppe unter Vortäuschung, er sei ein bundesdeutscher Journalist, gefunden, spionierte sie umfassend aus und so kam es schließlich am 13. Februar 1958 zur Verhaftung von 24 Gruppenmitgliedern – fünf hatten sich dem Zugriff durch Flucht noch entziehen können. Es folgten harte Wochen von Einzelhaft und Verhören; nicht immer gelang es, alle vorsorglich eingeübten Strategien einzuhalten. Aber sie blieben standhaft und mutig. Den Köpfen der Gruppe drohte die Todesstrafe. Damit spielte der Staat in seinen Erpressungsstrategien. Die jungen Männer hatten Glück, sie erhielten „nur“ Zuchthausstrafen. Thomas Ammer bekam vom Bezirksgericht Gera mit 15 Jahren Zuchthaus die höchste Strafe. Zunächst ist er in der Haftanstalt Waldheim eingesperrt worden, dann von November 1958 an in Brandenburg-Görden.

Am 14.8.1964 ist Thomas Ammer von der Bundesregierung freigekauft worden. Er konnte in die Bundesrepublik ausreisen. Dort studierte er in Tübingen, Bonn und Erlangen Politische Wissenschaften, Jura und Geschichte. Nach dem Studium arbeitete er in verschiedenen Institutionen der politischen Bildung, ehe er ab 1975 im Gesamtdeutschen Institut in Bonn und nach dessen Auflösung ab 1991 bis zur Berentung bis 2002 in der Bundeszentrale für Politische Bildung arbeitete.

Thomas Ammer war bis 1982 SPD-Mitglied. Als überzeugter Demokrat war er Antikommunist. Er stellte seine Erfahrungen und Erlebnisse lebenslang in den Dienst der Aufklärung über die kommunistische Diktatur. Als gewissenhafter Wissenschaftler und Publizist war er zeitlebens eine besonnene und abwägende, nie geifernde, immer nüchterne Stimme. Er wurde über Parteigrenzen hinweg geachtet, respektiert, ja, ich möchte sagen, so habe ich es erlebt: geliebt. Sein bescheidenes Auftreten, seine unprätentiöse Art, seine Zurückgenommenheit nahmen noch jeden für ihn ein. Er verfügte über ein schier grenzenloses Wissen über die SED-Diktatur. Immer war er ansprechbar, immer freundlich, immer zugewandt. Der große öffentliche Auftritt war nicht seine Sache, aber er verschloss sich diesem nicht, wenn es der Aufklärung diente.

Von 1992 bis 1998 war Ammer von der BpB abgeordnet und gehört zum wissenschaftlichen Mitarbeiterstamm der beiden Enquete-Kommissionen des Deutschen Bundestages zur Aufarbeitung und Folgen der SED-Diktatur. Ich hatte ihn am Rande einer Tagung 1991 erstmals persönlich kennengelernt – sofort war er bereit, dem ihm persönlich nicht bekannten jungen Mann Auskunft zu geben. Für mich war er zu diesem Zeitpunkt ein bereits bewunderter Autor, vor allem kannte ich ihn wegen eines Buches zu Geschichte der Universität Rostock (1979) und einer Dokumentation zur Auflösung der Stasi in Rostock (1991). Nun traf ich ihn am Rande von Tagungen immer wieder. Und als Mitarbeiter der Enquete-Kommission, der ich als Sachverständiger angehörte, war er für mich fast automatisch eine Persönlichkeit, die mir Halt und Kompass zugleich war. Er wurde von allen Mitgliedern der Kommission gleichermaßen hochgeschätzt – wahrscheinlich ist ihm das gar nicht genug gespiegelt worden, womöglich wäre ihm das auch peinlich gewesen. Er machte wirklich kein Gewese um seine Person und hat immer auf andere Schicksale verwiesen.

Als Ulrike Poppe, Rainer Eckert und ich 1994 für die Evangelische Akademie Berlin-Brandenburg und den Unabhängigen Historikerverband die erste große Tagung zur Geschichte von Opposition und Widerstand in der DDR organisierten und kurz darauf den ersten Sammelband dazu herausgaben, war es selbstverständlich, dass wir Thomas Ammer zur Mitarbeit einluden. Wir waren sehr dankbar, dass er mit einem Aufsatz zum Widerstand an den Universitäten dabei war. Ebenso denkwürdig war sein Auftritt in Jena vor der Enquete-Kommission, als er über den „Eisenberger Kreis“ berichtete.

Thomas Ammer bescherte mir eines meiner größten Glücksmomente als Historiker – und ich konnte nicht einmal etwas dafür: Ich befasste mich seit der Archivöffnung 1990/91 auch sehr intensiv mit der Geschichte des „17. Juni 1953“. Seit 1992 publizierte ich dazu kontinuierlich. 2002/04 forschte ich mit Bernd Eisenfeld (1941-2010, auch er ein früherer politischer Häftling: siehe mein Nachruf in: Deutschland Archiv 43(2010) 4, S. 601-603) und Ehrhart Neubert über die Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte des 17. Juni. Herauskam 2005 das voluminöse Buch „Die verdrängte Revolution“. Dieses wurde von vielen angefeindet – es enthielt zu viele unbequeme Tatsachen. Die gröbsten Attacken kamen aus Teilen der Geschichtswissenschaft, der wir ihre Ignoranz bis 1990 vorhielten, und von Teilen antikommunistischer Verbände, deren Zusammengehen mit neofaschistischen Kräften vor 1990 wir kritisch betrachteten. Thomas Ammer hingehen entdeckte etwas in dem Buch, was mir als Autor selbst nicht aufgefallen war: In einem großen Abschnitt gehe ich auf einen Mann ein, der für die Nazis, die Sowjets und dann für die Stasi als Informant arbeitete. Buchstäblich Tausende Menschen lieferte Harry Schlesing, so der Name, ans Messer. Er war ein Spitzel, wie ihn sich kein Romanautor ausdenken könnte: er zählte zu den Stasi-Spitzeln mit der größten Aktionsweite, ein Mann, der selbst Vizeminister Beater Strategien diktierte. Ich wertete erstmals die Aktenüberlieferung aus und schrieb ausführlich über ihn und sein Treiben. In dem Buch nimmt er viel Raum ein. Nach der Veröffentlichung rief mich Thomas Ammer an, sehr aufgeregt und zugleich tief befriedigt: Harry Schlesing war der Mann, der auch den „Eisenberger Kreis“ ausgekundschaftet und verraten hatte, ein übler Typ, der auch Thomas Ammers Lebensweg entscheidend negativ beeinflusst hatte. Ich war durch diese unverhoffte Entdeckung sehr glücklich – konnte ich doch Thomas Ammer ungeahnt so ein wichtiges Puzzleteil seiner Biographie liefern. Er publizierte wenig später, auf Bitte vieler hin, auch von mir, endlich den Bericht, den er kurz nach seiner Freilassung in die Bundesrepublik verfasst hatte über den „Eisenberger Kreis“ (https://www.kommunismusgeschichte.de/jhk/jhk-2007/article/detail/angeregt-durch-die-methode-der-geschwister-scholl-ein-rueckblick-auf-den-eisenberger-kreis-aus-dem-jahre-1965?type=0%27%22). Wer den Forschungsstand über die Gruppe kennt und diesen Bericht liest, kann nur staunen angesichts der Präzision und lernt zugleich einen Mann kennen, der faktenbasiert Geschichtsbetrachtung auch als Zeitzeuge betrieb.

Nun ist Thomas Ammer am 11. Oktober 2024 verstorben. Bis zuletzt verfolgte er intensiv und voller Anteilnahme die Geschehnisse. Der russländische Krieg gegen die Ukraine bekümmert ihn sehr – natürlich war er, der als Pazifist gegen das SED-Regime protestiert hatte, 100%ig auf der Seite der Ukraine und auch für eine solche militärische Unterstützung, die die Ukraine siegreich sein lassen kann. Nach einer kurzen Krankheit schlief Thomas Ammer für immer ein.

Er war in vielerlei Hinsicht ein großes Vorbild. Freiheit und Demokratie in Deutschland haben in Thomas Ammer eine leuchtende Biographie. Es liegt an uns, das Vermächtnis von Thomas Ammer zu bewahren und an die Nachgeborenen weiterzugeben. Baut ihm Denkmäler, benennt Straßen und Plätzen nach ihm, stiftet Demokratie-, Freiheits-, Aufarbeitungspreise mit seinem Namen, in seinem Sinne, dreht Spielfilme über ihn und sein Wirken – aber vor allem nehmt ihn als biographisches Beispiel im Schulunterricht und in der politischen Bildung: Besser geht es in dieser Welt nicht mehr. 

In tiefer Trauer und voller Hochachtung, Respekt und Stolz, ihn gekannt zu haben und voller Mitgefühl mit seiner Frau Vera: Ilko-Sascha Kowalczuk am Morgen des 15. Oktober 2024