Paul Merker war der höchste SED-Funktionär, der in den politischen Säuberungen Anfang der 1950er-Jahre in der DDR gemaßregelt, verhaftet und schließlich, zwei Jahre nach Stalins Tod, in einem Geheimprozess zu einer hohen Zuchthausstrafe verurteilt wurde. Über den Vorgang ist, auch wegen des antisemitischen Hintergrunds, ausgiebig publiziert worden.[1]
Merker[2], Jahrgang 1894[3], kam über die USPD 1920 in die KPD, wurde 1923 hauptamtlicher KPD-Funktionär mit Leitungsfunktionen im Bezirk Halle-Merseburg. 1926 wurde er Mitglied des KPD-Zentralkomitees (ZK) und des Politbüros, wurde mehrfach wiedergewählt und war bis 1930 führend in der Gewerkschaftspolitik. Dann wurde er wegen »ultralinker Abweichungen« in den Apparat der Kommunistischen Internationale (Komintern) nach Moskau abgeschoben und war zwei Jahre als Komintern-Beauftragter in den USA tätig.
1933 kehrte er nach Deutschland und in die Parteiarbeit zurück. Er war lange illegal in Deutschland tätig, bevor er 1935 auf der Brüsseler Konferenz wieder ins ZK und von diesem ins Politbüro gewählt wurde. Merker gehörte zur operativen Auslandsleitung – dem größeren Teil des Politbüros, das seinen Sitz erst in Prag, dann in Paris nahm. 1937 wurde das Politbüro in Moskau aufgelöst und durch ein kleineres Sekretariat in Paris ersetzt, zunächst mit Walter Ulbricht als Leiter, der nach einem Jahr durch Franz Dahlem abgelöst wurde, sowie Merker als Mitglied und Paul Bertz als Kandidat.[4]
1939 wurde Merker in Frankreich interniert, konnte flüchten und 1942 nach Mexiko ausreisen, wo er als ranghöchster Funktionär die KPD-Emigration leitete. Erst im Juni 1946 kam Merker zurück nach Deutschland. Sowohl die KPD als auch die SED reservierten für ihn einen Sitz im obersten Führungsgremium, im Juni 1945 im KPD-Sekretariat und im April 1946 im SED-Zentralsekretariat. 1949 wurde Merker Mitglied des wieder eingerichteten Politbüros und mit der Gründung der DDR zusätzlich Staatssekretär im Landwirtschaftsministerium.
Noch im Mai 1950 war geplant, Merker auf dem III. Parteitag der SED im Juli wieder ins Politbüro zu wählen – so Wilhelm Pieck in einem Gespräch mit Stalin.[5] Allerdings lief zu dieser Zeit bereits eine Untersuchung der Zentralen Parteikontrollkommission (ZPKK), die sich ursprünglich mit der Überprüfung führender SED-Funktionäre befassen sollte, die in westlicher Emigration oder Kriegsgefangenschaft gewesen waren,[6] schon bald aber vorrangig nach Verbindungen (oder zurückliegenden oberflächlichen Kontakten) von Parteifunktionären zu Noel Field suchte – der angebliche USA-Spion Field war 1949 die Schlüsselfigur im Budapester Schauprozess gegen László Rajk.[7]
Im Ergebnis der ZPKK-Untersuchung wurde Merker, der auf dem vorangegangenen III. Parteitag der SED nicht mehr ins ZK gewählt worden war, per Politbürobeschluss im August 1950 aus der Partei ausgeschlossen und nach Luckenwalde verbannt.[8] Der Zeitungsbericht über den Beschluss nannte Merker an erster Stelle der Auszuschließenden,[9] warf ihm neben den engen Beziehungen zu Field trotzkistische Positionen, mangelndes Verständnis für den deutsch-sowjetischen Pakt 1939 und die Befolgung amerikanischer Befehle vor. Im Gegensatz zu anderen Ausgeschlossenen wurde Merker nicht gleich verhaftet. Dies geschah erst Ende November 1952, wenige Tage nachdem das Neue Deutschland über den Prager Slánský-Prozess berichtete, Slánský habe in Prag »eine Verbindungszentrale für anglo-amerikanische Agenten« gegründet und Merker dort wiederholt empfangen.[10]
Merker blieb fast zweieinhalb Jahre in Untersuchungshaft. Anfangs wiesen die Vernehmungen teilweise eine antisemitische Richtung auf, als strebten sie einen Schauprozess nach dem Vorbild des Slánský-Prozesses an. Auch nach dem Tod Stalins blieben antisemitische Töne bis in die Verurteilung nicht aus. Das Neue Deutschland berichtete unterdessen von der Freilassung Fields[11] und der Gewährung politischen Asyls für ihn und seine Frau in Ungarn.[12]
Im März 1955 wurde Merker schließlich vom Obersten Gericht der DDR in einem Geheimprozess zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt, allerdings unter Anrechnung der Untersuchungshaft, wobei die juristische Argumentation selbst für diese Zeit dürftig war.[13]
Schon im Januar 1956 wurde Merker durch DDR-Staatspräsident Pieck begnadigt und freigelassen. Seine Freilassung wurde bisweilen in Erinnerungen[14] wie in wissenschaftlicher Literatur[15] irrtümlich als Folge des XX. Parteitags der KPdSU beschrieben. Der tatsächliche Verlauf der Begnadigung Merkers durch Pieck ist ein Gegenstand der vorliegenden Arbeit.
Die Vorgeschichte (ZPKK-Untersuchung zu Field, Parteiausschluss, Verhaftung und Geheimprozess) wird in der Literatur ausführlich behandelt, auf sie wird der Vollständigkeit wegen eingegangen. Ausführlicher und mit neuen Erkenntnissen dargestellt werden dagegen die Entstehung des Abschlussberichts der ZPKK zur Field-Untersuchung im August 1950 sowie der Parteiausschluss Merkers als Folge einer Denunziation des Politbürokandidaten und früheren Mitarbeiters im Pariser Sekretariat Anton Ackermann, bevor abschließend die Verhinderung der politischen Rehabilitierung Merkers 1956 durch die SED-Führung beschrieben wird.
I. Von der Vorgeschichte der Maßregelung bis zur Verhaftung
In Arbeiten über die Verfolgung kommunistischer Funktionäre in der DDR in den Jahren 1948 bis 1956 besteht eine gewisse Übereinstimmung in der Erzählung:[16] Es seien zwei Schauprozesse vorbereitet worden, einer nach dem Vorbild des ungarischen Rajk-Prozesses vom September 1949, ein zweiter nach dem Vorbild des Slánský-Prozesses in Prag vom November 1952. Die Vorbereitung zum ersten Prozess sei abgebrochen worden, wobei über die (vermuteten) Gründe Unterschiedliches berichtet wird: Die potenziellen Angeklagten seien zu widerständig gewesen, Pieck habe nicht zugestimmt oder deutschlandpolitische Erwägungen in Moskau hätten zum Abbruch geführt (Letzteres ist zumindest plausibel).
Den zweiten Prozess habe Stalins Tod verhindert. Überhaupt seien die Ereignisse (Maßregelungen, Verhaftungen, Verhöre und Vernehmungsstrategien, Verurteilungen) vor Stalins Tod und dem 17. Juni 1953 von der sowjetischen Besatzungsmacht zu verantworten, wenn auch mit der Hilfe deutscher Stellen, die Ereignisse danach hingegen ausschließlich von der SED-Führung.
Dokumentarisch belegt ist das nicht. Als Begründung für die genannte Erzählung dienen meistens Rückschlüsse aus Berichten deutscher Betroffener (etwa über Vernehmungen durch deutsche und sowjetische Staatssicherheitsbeamte) oder Mitteilungen von SED-Funktionären über Gespräche mit sowjetischen Funktionären (wie Piecks umfangreich überlieferte Notizen). Dabei ist unbestritten, dass die sowjetische Besatzungsmacht in der DDR über das Jahr 1954 hinaus in allem stets das letzte Wort hatte[17] – nur sind die Archive sowjetischer Provenienz, die ein Urteil über eine eventuelle Vorbereitung solcher Schauprozesse erlauben würden, nicht jedem zugänglich.
Dokumentarisch besser belegt ist hingegen die Untersuchung der ZPKK, aber auch hier ist die Einflussnahme sowjetischer Stellen (der SKK) zwar in einzelnen Punkten nachweisbar, ob es jedoch eine planmäßige und kontinuierliche Steuerung der Field-Untersuchung durch die SKK gegeben hat, bleibt auch hier unklar.[18]
Gut belegt ist schließlich die Steuerung des Verfahrens gegen Merker ab dem Herbst 1953 durch die SED-Führung und den Parteiapparat. Am 18. Oktober 1949 behandelte das SED-Politbüro den Tagesordnungspunkt »Überprüfung wichtiger Funktionäre aus westlicher Gefangenschaft oder Emigration« und beschloss: »Alle führenden Funktionäre, die länger als drei Monate in englischer, amerikanischer, französischer oder jugoslawischer Gefangenschaft, oder in englischer oder in amerikanischer Emigration waren, sollen systematisch überprüft werden.«[19] Der Beschluss war schon am Vortag im »Kleinen Sekretariat« unter der Leitung Ulbrichts und der Teilnahme des Sekretariatsmitglieds Dahlem gefasst worden,[20] verknüpft mit der zusätzlichen Forderung nach einer regelmäßigen Berichterstattung durch die Parteikontrollkommission an die Parteivorsitzenden (Pieck und Otto Grotewohl) und den Vorsitzenden des Sekretariats (Ulbricht). Von einer Überprüfung der Emigration in die Schweiz, Mexiko oder Frankreich war hier keine Rede. Das Politbüro beschloss außerdem die »Entlastung« Dahlems als Kaderverantwortlichen »auf eigenen Wunsch […], um sich ganz seinen Aufgaben für den Westen widmen zu können«. Die Kaderfragen wurden Ulbricht übertragen.[21]
Dass die Einrichtung der genannten Kommission eine Reaktion der SED-Führung auf den Budapester Rajk-Prozess war, liegt nahe. Der Name Field fiel nicht, die weitere Entwicklung zeigte aber, dass es neben der beschlossenen Überprüfung mit anschließender Säuberung (die zusätzlich auf frühere Mitglieder kommunistischer Splitter- und Oppositionsgruppen ausgedehnt wurde) vorrangig um die Kriminalisierung von Field-Kontakten ging.
Bereits eine Woche später wandte sich Hermann Matern an Ulbricht mit der (berechtigten) Klage, dass der Fall Field »ein umfangreicher Komplex« sei, der Genossen aus allen Zonen betreffe und sich »auch auf eine Anzahl leitender Genossen in den verschiedensten Funktionen« erstrecke. Er schlug die Bildung einer eigenen Kommission zur Untersuchung der Field-Angelegenheit vor, bestehend aus ihm, Matern, Herta Geffke (Mitglied der ZPKK), Otto Sepke (Vorsitzender der Landesparteikontrollkommission Mecklenburg und ein alter Bekannter Materns) sowie zwei zu benennenden Genossen aus den Westzonen.[22] Ulbricht erklärte am nächsten Tag sein Einverständnis und bat um eine Vorlage für das Kleine Sekretariat mit der Benennung eines Vertreters aus dem Westen.[23] Am 14. November 1949 beschloss das Kleine Sekretariat die Einrichtung von drei Kommissionen, zwei »zur Überprüfung der Genossen aus westlicher Emigration und Kriegsgefangenschaft« und die dritte wie von Matern vorgeschlagen (die Westgenossen sollten allerdings nicht ständig teilnehmen).[24]
Im Folgenden ist zumeist nur von der Untersuchung der Field-Angelegenheit bei SED-Funktionären die Rede, aber es gab darüber hinaus zahlreiche Maßregelungen von SED-Funktionären wegen ihrer Westemigration[25] oder der früheren Mitgliedschaft in einer kommunistischen Oppositionsgruppe. Hinzu kam die Untersuchung der westdeutschen KPD, die ebenfalls zu Maßregelungen, von Funktionsenthebungen bis hin zu Verhaftungen zahlreicher Leitungskader führte.[26] Öffentlich gemacht wurden durch die SED-Führung vor allem die Beschlüsse zur Field-Untersuchung im August 1950 sowie Anfang 1953 »Lehren« aus dem Slánský-Prozeß[27] – eine teilweise verschärfte Fortsetzung des Field-Beschlusses.
Die Arbeit der Field-Kommission zog sich bis zum 18. Juli 1950 hin, erst kurz vor dem III. Parteitag der SED (20.–24. Juli 1950) gab es eine Reihe von Vorschlägen zu personellen Beschlüssen sowie einen Gesamtbericht.[28] Zwar wurden Parteifunktionäre, wie z. B. Merker, die mit Field in Kontakt gekommen waren, zu Erklärungen aufgefordert und Befragungen unterzogen, aber scheinbar ging die Parteikarriere für die Betroffenen normal weiter, jedenfalls eine gewisse Zeit.
Bei Merker lässt sich das gut im Zusammenhang mit der Vorbereitung des III. Parteitags verfolgen. Am Abend des 4. Mai 1950 empfing Stalin mit weiteren Politbüromitgliedern Pieck, Grotewohl und Ulbricht (mit Fred Oelßner als Dolmetscher), um u. a. über den Parteitag zu sprechen. Dabei nannte Pieck die neun Vollmitglieder des Politbüros, die gewählt werden sollten, darunter Merker an fünfter Stelle, nach Pieck, Grotewohl, Ulbricht und Dahlem.[29] Auch in der weiteren Parteitagsvorbereitung schien für Merker alles normal zu laufen. In verschiedenen Beschlüssen des Politbüros wie des Sekretariats und in Pieck-Aufzeichnungen finden sich Aufträge an die Mitglieder der Parteiführung, darunter Merker, im Neuen Deutschland Beiträge zur Vorbereitung zu veröffentlichen. Es gab Planungen, welche der ausländischen Delegationen von Merker empfangen werden sollten, und in einer Liste der zu wählenden ZK-Mitglieder steht Merker ebenfalls an fünfter Stelle.[30] Die zeitlich letzten Beschlüsse, in denen Merker vorkommt, sind der Sekretariatsbeschluss vom 10. Juli 1950, der festlegt, dass Merker als Diskussionsredner zum Ulbricht-Referat sprechen solle, und der Politbüro-Beschluss vom 16. Juli 1950, der Merker als Mitglied der Redaktionskommission während des Parteitags vorsieht.[31]
Als Folge der personellen Vorschläge der Field-Untersuchungskommission war Merker dann jedoch nicht als Redner auf dem Parteitag,[32] und wurde auch nicht ins ZK gewählt.[33] Während die ZPKK zu den im Field-Beschluss vom August genannten Personen am 18. Juli 1950 Einzelbeschlüsse (zu Funktionsenthebung, Parteiausschluss usw.) fasste, hatte sie zu Merker schon einen ersten Beschluss am 14. Juli 1950 gefasst. Nach Aufzählung der Kontakte Merkers zu Field heißt es in dem Beschluss: »Aufgrund der vorliegenden Tatsachen ist die Kommission der Ansicht, dass Gen. Merker nicht Mitglied des ZK sein kann.«[34] In einem zweiten ZPKK-Beschluss zu Merker vom 18. Juli heißt es weiter: »Aus Gründen der Sicherheit ist der Gen. Merker von seinen Partei- und Regierungsfunktionen abzuberufen.«[35] Parteifunktionen hatte Merker nach dem Parteitag somit nicht mehr, sein Regierungsamt hatte er noch bis zum 23. August inne.
Am 18. Juli 1950 schickte Matern die personellen Beschlüsse (oder Vorschläge dazu – das ist nicht einheitlich formuliert) und den Bericht der ZPKK zur Untersuchung der Angelegenheit Noel Field an das Politbüro. Im Begleitbrief heißt es u. a.: »Gestützt auf die Lehren des Rajk- und Kostoff-Prozesses und auf die Erfahrungen der KPdSU gegen alle Abweichungen und Feinde der Partei, sieht sich die ZPKK gezwungen, die nachfolgenden harten Beschlüsse zu fassen. […] Wenn auch einige der von den Beschlüssen betroffenen Genossen nur vorübergehende Verbindungen zu den Agenten des amerikanischen Imperialismus gehabt haben, so besteht im Hinblick auf die hervorragende Funktion, die diese Genossen bekleiden, stets die Gefahr neuer Anknüpfungspunkte. Die zunehmende Verschärfung des Klassenkampfes erfordert die unbedingte Sicherung der Partei.«[36]
Die personellen Beschlüsse schienen zusammen mit Pieck getroffen worden zu sein, jedenfalls enthält die entsprechende Akte ein Blatt mit der charakteristischen Handschrift Piecks mit der Überschrift »Field-Sache« und der Auflistung: »Merker abberufen, Beling abberufen, Abusch abberufen, Kreikemeyer Ausschluß, Spitzer abberufen, Bauer Ausschluß, Fuhrmann Westkommission keine Funktion, Teubner keine leitende Funktion, Goldhammer Ausschluß, Stibi abberufen, Henny Stibi abberufen, Maria Weiterer Ausschluß, Ende Ausschluß«.[37] Im dann endgültig beschlossenen und veröffentlichten Field-Dokument fehlte der Name Abusch (warum, bleibt unklar), die Maßregelung für Teubner fiel schärfer aus (auch hierfür findet sich in den Akten keine Erklärung) und insbesondere Merker wurde als Parteifeind beschimpft und heftiger gemaßregelt – die Gründe dafür werden weiter unten besprochen.
Am 19. August 1950 schickte Ulbricht einen Entwurf der Erklärung der ZPKK mit den »vorgeschlagenen organisatorischen Beschlüssen gegen die genannten leitenden Parteifunktionäre« an die Politbüromitglieder und schlug vor, die Erklärung durch das Politbüro beschließen zu lassen. Der Beschluss solle dann in allen Grundorganisationen verlesen und »durchgearbeitet« werden, außerdem solle im Neuen Deutschland darüber berichtet werden. Schließlich sei den funktionsenthobenen oder ausgeschlossenen Mitgliedern das Dokument zur Kenntnis zu bringen und ihnen die Möglichkeit zu einer schriftlichen Äußerung zu geben.[38]
Den Ulbrichtʼschen Vorschlägen entsprechend beschloss das Politbüro am 22. August 1950 das Field-Dokument in einer ersten Fassung und die begleitenden Maßnahmen, verbunden mit dem Zusatz, das Dokument solle dem ZK zur Beschlussfassung vorgelegt werden.[39] Die »organisatorischen Beschlüsse« gegen die leitenden Funktionäre sind in zwei Gruppen gefasst: »Die am engsten mit Field verbundenen Leo Bauer, Bruno Goldhammer, Willi Kreikemeyer, Lex Ende und Maria Weiterer haben dem Klassenfeind in umfangreicher Weise Hilfe geleistet und werden aus der Partei ausgeschlossen. Die Genossen Paul Merker, Bruno Fuhrmann, Hans Teubner, Walter Beling und Wolfgang Langhoff, deren Beziehungen zu Field ebenfalls sehr enge waren, deren Tätigkeit aber nur zu einer mittelbaren Unterstützung des Klassenfeindes führte, werden aller ihrer Funktionen enthoben.«[40]
Eine Woche später verschärfte das Politbüro die Formulierung seiner Beschlussfassung, insbesondere zu Merker. Auf einer ZK-Tagung am 24. August 1950, also zwischen den beiden Politbürositzungen, hielt nicht Matern, der im Urlaub war, sondern Geffke das Referat »Massnahmen gegen Verletzung der Wachsamkeit durch eine Reihe von Parteifunktionären«, in dem sie mitteilte, bei Merker hätten sich in den letzten Tagen »neue politische Momente« ergeben, die Untersuchung sei deswegen nicht abgeschlossen, die ZPKK-Erklärung solle aber trotzdem beschlossen werden. Demzufolge stimmte das Plenum grundsätzlich zu und beauftragte das Politbüro mit der endgültigen Formulierung und Durchführung der notwendigen Maßnahmen. Die Merker betreffenden »neuen politischen Momente« seien verheerende Äußerungen Merkers zum deutsch-sowjetischen Pakt, von denen Anton Ackermann erst kürzlich berichtet habe.[41]
Ackermann hielt die angeblichen Äußerungen Merkers mit dem Datum 29. August 1950 schriftlich für die ZPKK-Akten fest.[42] Offenbar hatte er seine Anschuldigungen nicht in der Politbürositzung am 22. August vorgebracht, sonst wäre der Beschluss so nicht gefasst worden, sondern kurz danach. Gegenüber wem er sie äußerte, wurde nicht mitgeteilt. Ackermanns Einlassung ist es wert, in ihrem wesentlichen Teil wörtlich zitiert zu werden, denn wie sich zeigen wird, war sie frei erfunden: »Als die Presse den Abschluss des Nichtangriffspaktes der UdSSR mit Deutschland meldete, berief Genosse Dahlem eine Sitzung ein, an der, wie mir bestimmt erinnerlich ist, folgende Genossen teilnahmen: Dahlem, Merker, Bertz, Eisler und der Unterzeichnete. Im Verlaufe der Aussprache über den zu fassenden Beschluss des ZK der KPD zum Nichtangriffspakt der UdSSR/Deutschland kam es beim Genossen Merker zu einem direkten Wutanfall. In äußerster Erregung brachte er zum Ausdruck, dass es immer dasselbe sei, was die ausländischen Kommunisten aufbauen, wird durch die Außenpolitik der Sowjetunion wieder zerschlagen. So sei es wiederholt gewesen. Mit dem Abschluss des Nichtangriffspaktes sei von den Russen wieder eine Suppe eingebrockt worden, die die deutschen Kommunisten nun auszulöffeln hätten.
Nach einer heftigen Diskussion wurde dann beschlossen, dass die Genossen Eisler und Ackermann den Entwurf einer Stellungnahme der KPD auszuarbeiten haben. Der Beschluss ist dann auch in der ›Rundschau‹ (Schweiz) erschienen.
Über den Verlauf der Sitzung und die antisowjetischen Äußerungen des Gen. Merker hat der Unterzeichnete nach Ankunft in Moskau den dort weilenden Mitgliedern des ZK der KPD wie auch den Genossen Dimitrow und Gulajew (Leiter der Kader-Abteilung der Komintern) mündlich Bericht erstattet. Ich habe auch einen ausführlichen schriftlichen Bericht über die Vorgänge in Paris kurz vor Ausbruch des Krieges geschrieben. Der Bericht muss im Komintern-Archiv vorhanden sein.
Als Paul Merker aus der mexikanischen Emigration nach Deutschland zurückkehrte und in den Parteivorstand der SED kooptiert werden sollte, hat der Unterzeichnete abermals sehr ernst auf die Vorgänge in Paris und die damaligen Äusserungen des Paul Merker hingewiesen.«[43]
Schon der letzte Satz macht Ackermanns Aussage unglaubwürdig: Wenn er 1946 auf die Äußerungen Merkers hingewiesen hätte (er schrieb wohlweislich nicht, vor welchem Gremium), dann wäre dies nicht folgenlos geblieben.
Heute lässt sich leicht feststellen, dass die Aussage insgesamt nicht der Wahrheit entsprach, denn der erwähnte schriftliche Bericht Ackermanns liegt im KPD-Archiv.[44] Zur besagten Sitzung, in der die inkriminierte Behauptung Merkers gefallen sein soll, schrieb Ackermann damals darin: »Nach dem Abschluss des Nichtangriffspaktes fand eine längere Aussprache der Genossen Franz [Dahlem], Paul [Merker], Gross [Gerhart Eisler] und Ackermann statt, die davon [der Diskussion des Paktes außerhalb der Sowjetunion] noch sehr beherrscht war. Es war natürlich nicht leicht, mit einem Male die ganze Bedeutung und Tragweite dieses Ereignisses einzuschätzen. Ein solcher Vorwurf wird ja auch gegen niemand erhoben und das Dokument,[45] das aufgrund der ausgiebigen Diskussion fertig gestellt wurde, ist nicht das schlechteste unter den ersten Dokumenten zum Nichtangriffspakt. Ganz richtig wurde sofort die Möglichkeit fast legaler Diskussion im Lande über die Politik der Sowjetunion wie auch über das sozialistische Land selbst in den Vordergrund gestellt und positiv die Freundschaft zwischen den zwei Völkern unterstrichen. Der Hauptmangel dieses Dokuments besteht darin, dass es noch vom Geiste eines primitiven Antifaschismus beherrscht ist. Keine einheitliche Meinung konnte darüber erzielt werden, ob der Nichtangriffspakt nur eine vorübergehende Sache sei oder nicht, ob die Tatsache dieses Paktes einschneidende Konsequenzen für die gesamte Politik unserer Partei im Lande haben würde oder nicht und auch nicht über den Charakter des unmittelbar bevorstehenden Krieges. Es gab eine solche Stimmung, wenn Hitler trotz des Paktes mit der Sowjetunion dennoch Polen angreift, dann wird die SU Polen zu Hilfe kommen und doch noch eine gemeinsame Front mit England und Frankreich gegen Hitler zustandekommen. Es gab eine Stimmung, dass, wenn jetzt England entschlossen ist, Hitler fertig zu machen, so bedeutet das für uns Arbeit zu leisten. Es gab auch wiederholt Diskussionen darüber, ob der Ausbruch des Krieges mit einer Entwicklung der Volksfreiheiten in Frankreich verbunden sein wird oder mit dem Gegenteil. Es hiess, der Krieg gegen Hitler wird schwer sein, die Arbeiter der Pariser Vororte sind die wahre Maginotlinie, keine französische Regierung wird ohne die Entfaltung der Masseninitiative auskommen. Das muss die Entwicklung der demokratischen Rechte und Freiheiten zur Folge haben, die französische Regierung wird uns, ähnlich wie das in Spanien der Fall war, die Möglichkeit geben, den Kampf gegen Hitler zu führen.«[46]
Im Bericht findet sich keine antisowjetische Äußerung, keine Kritik gegen den Nichtangriffspakt und auch keine Bemerkung zu einem Beitrag Merkers. Nicht nur Merker bestritt gegenüber der ZPKK die ihm vorgehaltene Äußerung,[47] eine glaubwürdige Aussage des linientreuen Kommunisten, auch die angeblichen Zeugen des Vorfalls, Dahlem und Eisler, konnten sich nicht erinnern.[48]
1953 wiederholte Ackermann seine Vorwürfe, die jetzt gegen Dahlem verwendet werden sollten: »Mich hat es sehr eigenartig berührt, dass weder Eisler noch Franz Dahlem sich daran erinnern können […]. Ich habe das ganze berichtet als ich [1940] nach Moskau kam […]. Ich hatte das damals in Gegenwart von Dimitroff, Pieck, Ulbricht usw. gesagt.«[49] Die Vermutung liegt nahe, dass Ackermann beauftragt worden war, die Vorwürfe vorzubringen, von wem auch immer.[50] Dafür spricht auch, dass er Pieck und Ulbricht damit faktisch vorwarf, von Merkers angeblichen antisowjetischen Aussagen gewusst zu haben.
Schon auf dem III. Parteitag im Juli 1950 hatte Ackermann übrigens eine Gehässigkeit gegen Merker platziert, als er in seiner ansonsten belanglosen Rede von der in der SED nicht überwundenen »Theorie der kleinen Zörgiebels« sprach, eine Bemerkung, die die Mehrheit der Delegierten wie der Zeitungsleser nicht verstanden haben dürfte, aber lang gediente Funktionäre wussten natürlich, dass Merker 1930 mit diesem Vorwurf aus der Parteiführung gedrängt worden war.[51]
Ganz egal, wie die Politbüromitglieder zu Ackermanns Vorwürfen standen, die angebliche antisowjetische »Blasphemie« Merkers konnte in der ideologisch aufgeheizten Situation nicht ungesühnt bleiben. Darum verschärfte das Politbüro in seiner Sitzung am 29. August 1950 das Field-Dokument in einer »Schlussredaktion«.[52] So wurden Merker und anderen jetzt trotzkistische Positionen, Unverständnis für den deutsch-sowjetischen Pakt und weitere Untaten vorgeworfen und beschlossen: »Paul Merker wird an die Spitze der Auszuschließenden gestellt.« Mit diesen und anderen Änderungen wurde das Dokument endgültig bestätigt und zur Zusendung an die Grundorganisationen freigegeben, außerdem sollten ein kurzes Kommuniqué und ein erläuternder Artikel im Neuen Deutschland erscheinen.[53]
Bereits am 23. August 1950 hatte das Kleine Sekretariat die Abberufung der im Field-Beschluss genannten Funktionäre von ihren Funktionen beschlossen. Dazu gehörte u. a., dass Merker seine Funktion als Staatssekretär unverzüglich niederzulegen habe.[54] Außerdem setzte die ZPKK den oben genannten Beschluss um, die Betroffenen am 23. August 1950 über ihre Maßregelung bzw. den Parteiausschluss zu informieren. Von den sechs Ausgeschlossenen wurden drei kurz danach verhaftet: Leo Bauer, Bruno Goldhammer und Willi Kreikemeyer.[55] Warum Merker, der nun als Hauptübeltäter galt, frei blieb, ist unklar.[56]
Die folgenden mehr als zwei Jahre bis zur Verhaftung Merkers im November 1952 verbrachte dieser im zugewiesenen Wohnort Luckenwalde, zuerst als Leiter einer HO-Gaststätte, dann als freiberuflicher Übersetzer für Belletristik. Gegen Merkers Tätigkeit als Gaststättenleiter hatten im Frühjahr 1951 »Gäste« protestiert, sodass er die Stelle verlor.[57] Merker schrieb im Zuge dessen an Pieck und schlug diesem vor, sich literarisch zu betätigen, was Pieck gegenüber Ulbricht befürwortete. Dieser und Matern hatten schließlich keine Einwände. Im Sommer 1952 bestätigte Pieck die Möglichkeit zu Übersetzungsarbeiten noch einmal in einem eigenhändig unterschriebenen Brief mit der Anrede »Lieber Paul Merker«.[58]
Am 30. November 1952 wurde schließlich auch Merker verhaftet –[59] eine Woche, nachdem das Neue Deutschland über den Prager Slánský-Prozess berichtet hatte, Slánský habe in Prag »eine Verbindungszentrale für anglo-amerikanische Agenten« eingerichtet und Merker dort wiederholt empfangen.[60] Das Politbüro beauftragte daraufhin am 25. November 1950 »die Organe der Staatssicherheit […] unverzüglich die Untersuchung darüber durchzuführen«.[61]
II. Die Untersuchungshaft – Dezember 1953 bis März 1955
Am Tag der Verhaftung[62] wurde als Grund für die Ermittlung angeführt: »Merker ist ein Agent imperialistischer Geheimdienste und betätigte sich in deren Dienst und Auftrag vor und nach 1945.« Den Untersuchungsvorgang übernahm der stellvertretende Leiter der Untersuchungsabteilung des MfS, ein Oberstleutnant.[63] Obwohl Merker intensiv vernommen wurde, teilweise in Anwesenheit eines sowjetischen Beraters, spielte die jüdische Problematik in den ersten sechs Wochen keine Rolle. Die erste protokollierte Vernehmung zu diesem Thema fand Mitte Januar 1953 statt, zeitnah zur neuen antisemitischen Kampagne in Moskau, der angeblichen »Ärzteverschwörung«. Gleich zu Beginn der Vernehmung wurde laut Protokoll nach den Verbindungen zwischen Merker und dem Geschäftsträger des Staates Israel in der DDR gefragt. Eine sinnlose Frage, weil die DDR überhaupt keine diplomatischen Beziehungen mit Israel pflegte. Ein zweites Verhör zum Thema fand am 3. März 1953 statt, kurz vor Stalins Tod.[64]
Natürlich sind die Vernehmungsprotokolle keine Wortprotokolle der Vernehmungen, sondern in der Sprache der Staatssicherheitsbehörde verfasste und aus den Vernehmungen extrahierte Sätze, die der Vernommene möglicherweise auch ganz anders formuliert hat. Das wird schon an der Kürze der Protokolle deutlich: meist ein bis zwei Schreibmaschinenseiten für stundenlange Vernehmungen. Einen besseren Eindruck vom Verlauf der Vernehmungen geben die Berichte eines Kammeragenten in Merkers Zelle, also eines extra zur Ausforschung von Häftlingen in die Zelle gesetzten MfS-Spitzels. In Merkers Fall wurde dieser Kammeragent von Mitte Januar bis Mitte April 1953 eingesetzt, und Merker benutzte die Gespräche mit diesem offenbar auch, um mit der Leitung der Staatssicherheit über die Verhöre zu kommunizieren. Merker erzählte ihm von der ständigen Anwesenheit eines sowjetischen Offiziers, von unflätigen und antisemitischen Beschimpfungen sowie Drohungen, auch gegen Familienangehörige.[65] Später berichtete Merker außerdem, man habe ihn zum Juden machen wollen.[66] Dabei war er nachweislich kein Jude, wie die Dresdener Gestapo schon 1937 festgestellt hatte.[67]
Zwar spielten antisemitische Vorwürfe in den Vernehmungen der ersten Monate keine herausragende Rolle, dafür wurde Merker in den Anfang 1953 veröffentlichten »Lehren aus dem Prozeß gegen das Verschwörerzentrum Slansky. Beschluß des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands« als »zionistischer Agent« beschuldigt.[68] Dieses antisemitische Machwerk diente verschiedenen Zwecken. Einerseits sollte es beweisen, dass die SED-Führung unter der Anleitung der SKK der aktuellen sowjetischen Politik folgte. Andererseits wurde es von Ulbricht ausgenutzt, um seinen innerparteilichen Rivalen Dahlem auszuschalten.[69]
Weitere Themen der Verhöre waren laut der Protokolle Merkers innerparteiliche Auseinandersetzungen in der KPD bis 1939, die Internierung und anschließende Emigration 1942/43, die Verbindungen zu Field (»Frage: Mit welchen imperialistischen Geheimdiensten stehen Sie in Verbindung?«) und den Angeklagten im Slánský-Prozess, zu einzelnen KPD/SED-Funktionären, wie Dahlem, Eisler und Wilhelm Koenen, die Streitigkeiten der KPD-Emigranten in Mexiko untereinander wie mit Funktionären anderer kommunistischer Parteien.[70]
Ab dem Sommer 1953 wurden die Vernehmungen Merkers für das MfS offenbar zweitrangig, was sich an den wechselnden Untersuchungsführern zeigt: bis August 1953 ein stellvertretender Hauptabteilungsleiter und Oberstleutnant, dann ein stellvertretender Abteilungsleiter und Major und ab März 1954 ein Sachbearbeiter und Leutnant.[71] Den Verantwortlichen in Partei und Staatssicherheit scheint im Sommer 1953 klar geworden sein, dass es keinen öffentlichen Prozess geben würde, und ein nicht öffentlicher Prozess auch ohne Aussagen Merkers auskäme.
In einem »Sachstandsbericht« des verhörenden Majors vom Januar 1954 wurden Merker »verschiedene parteischädigende Handlungen« vor 1933 vorgeworfen, Verbindungen zu Field und zum französischen Geheimdienst und schließlich festgestellt: »Der momentane Stand der Untersuchung ist folgender: Der Beschuldigte Merker widerruft seine Aussagen, die er während der U.-Haft gemacht hat. Er bestreitet energisch parteifeindlich oder verbrecherische [sic] gehandelt zu haben. Die Untersuchung wird durch das Verhalten des Merker erschwert. Trotzdem, dass einige Unterlagen vorhanden sind, die klar zeigen welches trotzkistische Element er ist, streitet er die ihm vorgehaltenen Dinge ab und gibt an, das seien Fehler der Partei, aber nicht seine.«[72]
Ein »Schlussbericht« der Ermittlungen des verhörenden Leutnants vom Mai 1954 wirft Merker ebenfalls parteifeindliches Handeln in der Zeit bis 1933 vor (darunter die Zörgiebel-Affäre), und versucht, Merker der Zusammenarbeit mit der Gestapo zu verdächtigen, auch wenn festgestellt werden musste, dass diese »trotz intensiver Untersuchung nicht bewiesen werden« konnte. Ausführlich wird die »vom amerikanischen Geheimdienst gelenkte Tätigkeit« in Frankreich, Mexiko und der DDR dargelegt, angeblich bewiesen durch die Zusammenarbeit mit Field. Der umfangreichste Teil der Vorwürfe betraf die Mexiko-Emigration, gefolgt von einer Beschreibung der angeblichen Zusammenarbeit mit verschiedenen späteren Angeklagten im Slánský-Prozess. Weiter wurden 20 Zeugen benannt, darunter die nach dem Slánský-Prozess hingerichteten Geminder und Simone, zahlreiche Mexiko-Emigranten und der unverzichtbare Ackermann.[73]
III. Der Geheimprozess im März 1955
Unter strenger Geheimhaltung[74] fand am 29. und 30. März 1955 die Gerichtsverhandlung gegen Merker vor dem Obersten Gericht der DDR statt, den Vorsitz hatte Walter Ziegler, die Anklage vertrat Richard Krügelstein, stellvertretender Generalstaatsanwalt. Das Urteil waren acht Jahren Zuchthaus, allerdings unter Anrechnung der Untersuchungshaft, die juristische Argumentation war selbst für diese Zeit dürftig.[75]
Ursprünglicher Grund für die Ermittlung war die Annahme, dass »Merker [...] ein Agent imperialistischer Geheimdienste« sei, aber Field war inzwischen als Agentenführer ausgefallen. Durch die Gewährung politischen Asyls für Field in Ungarn stellte sich sogar heraus, dass er Kommunist war, wie von Merker immer behauptet. Das Gericht behalf sich sodann damit, im Urteil alle möglichen Kontaktpersonen als Agent oder Spion zu bezeichnen, ohne auf eine konkrete »Agententätigkeit« Merkers einzugehen. Außerdem unterstellten die Richter der französischen Beamtin Esmiol, die Merker 1942 ein Ausreisevisum verschafft hatte, leitendes Mitglied eines französischen Nachrichtendienstes zu sein. Deswegen müsse auch Merker Mitarbeiter dieses Dienstes sein – dies entspreche »der gerichtsbekannten Praxis der Spionageorganisationen«.
Ein Viertel des Urteilstextes beschrieb die Querelen in der mexikanischen Emigration, in denen das Gericht zahlreiche kriminelle Handlungen sah. Antisemitische Äußerungen fielen, aber weniger als etwa in den »Lehren aus dem Slánský-Prozeß«. Vorwiegend wurden Merker allerlei Kontakte zu jüdischen und zionistischen Kreisen vorgeworfen, zudem habe er die Entschädigung jüdischer Großkapitalisten gefordert. Weiter beschuldigte man Merker des Trotzkismus, begründet mit seinem Verhalten als Parteifunktionär vor 1939. Schließlich wurden ihm engste Verbindungen zum »Verschwörerzentrum mit Rudolf Slansky an der Spitze« vorgeworfen – das ergebe sich u. a. aus »den zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemachten und verlesenen Dokumenten« aus dem Prager Slánský-Prozess. Allerdings dürfte es der Parteiführung wie den beteiligten Juristen im Frühjahr 1955 egal gewesen sein, wie dürftig die Urteilsgründe waren, sie gingen davon aus, dass all das verborgen bleiben würde.
Wohl nur zufällig blieb jedoch ein umfangreiches Verhandlungsprotokoll erhalten.[76] Danach verzichtete Merker auf einen Anwalt, verteidigte sich aber selbst engagiert und ausführlich. Nach der Verlesung der Anklage gab Merker eine umfassende Darstellung seines Lebensweges und seiner politischen Tätigkeit, immer wieder unterbrochen von Einsprüchen und »Vorhalten« der Richter und des Staatsanwaltes. Dabei widersprach er zahlreichen Behauptungen der Anklage, etwa zu seinen angeblichen Aussagen zum Nichtangriffspakt. Slánský betreffend beharrte er darauf, diesen nicht zu kennen. Ihm daraufhin aus dem Gerichtsprotokoll des Slánský-Prozesses vorgelesene Passagen bezeichnete er als »völlig erlogen«.
Unterbrochen von einer Mittagspause dauerte dieser Teil der Verhandlung vermutlich von morgens bis 17 Uhr und umfasst im Verhandlungsprotokoll 14 Seiten. Danach wurden die Zeugen gehört. Dem früheren Chauffeur des tschechoslowakischen Botschafters, ein Angestellter der Staatssicherheit, der enge Beziehungen Merkers zum Botschafter bezeugte, warf Merker Lügen vor. Dem Zeugen Ackermann widersprach Merker und betonte seine positive Einstellung zum Nichtangriffspakt. Auch gegenüber den weiteren Zeugen Erich Jungmann, Alexander Abusch und Henny Stibi beharrte Merker auf seiner Darstellung der Ereignisse in Mexiko. Er beantragte die Anhörung von Entlastungszeugen – das Gericht lehnte ab und schloss die Beweisaufnahme.
Am zweiten Verhandlungstag sprach zuerst der Staatsanwalt, dann hielt Merker ein umfangreiches Schlusswort (fünf Seiten im Verhandlungsprotokoll). Er verteidigte darin u. a. seine Arbeit in der KPD vor 1933, ging noch einmal auf seine Haltung zum Nichtangriffspakt ein, verglich seine Ausreise mit falschen Papieren über Frau Esmiol mit der Rückkehr Lenins nach Russland im berühmten plombierten Eisenbahnwagen durch Deutschland, erklärte seine Handlungen in Mexiko. Ausführlich wies er eine Verbindung zu den Angeklagten des Slánský-Prozesses zurück. Er sei kein Agent, stehe fest auf dem Boden des Kommunismus, der Sowjetunion, der Partei, und seine Verbundenheit zur sozialistischen Bewegung sei unerschütterlich. Abschließend bemerkte er, keinen Urteilsantrag stellen zu wollen, das überließe er dem Gericht, betonte aber, dass er sich an die Geheimhaltung der Verhandlung auch im Falle einer späteren Freilassung halten werde.
Nach einer Pause über den Nachmittag wurde dann das Urteil verkündet.
Offen bleibt die Frage, welcher Zweck mit einer geheim gehaltenen Verurteilung Merkers verfolgt wurde.[77] Bis zum Frühjahr 1953 glaubte man in der SKK, der Parteiführung und der MfS-Spitze vielleicht noch, Merker als Angeklagten in einem öffentlichen Prozess zu brauchen – im Sommer 1953 wird allen Verantwortlichen klar geworden sein, dass es keinen öffentlichen Prozess gegen ehemalige führende Parteifunktionäre mehr geben würde.[78]
Eine politisch kluge Entscheidung wäre es gewesen, die verhafteten, aber noch nicht verurteilten früheren Parteifunktionäre, soweit sie im Gewahrsam der DDR-Behörden waren (wie z. B. Merker, der frühere stellvertretende KPD-Vorsitzende Fritz Sperling, Goldhammer), einfach freizulassen und die Schuld für das Vorgefallene den Umständen zuzuweisen. In mindestens zwei Fällen ist so verfahren worden, bei den KPD-Funktionären Alfred Drögemüller[79] und Willi Prinz[80]. Allerdings waren Merker, Sperling und Goldhammer, im Unterschied zu Drögemüller und Prinz, in der DDR-Presse zahlreicher Vergehen beschuldigt worden, sodass es der DDR-Führung, vor allem Ulbricht, möglicherweise schwerfiel, rational zu entscheiden – die Verurteilungen waren eine törichte Art von Rechthaberei[81] und sollten Ulbricht ein Jahr später Schwierigkeiten bereiten.[82]
Vermutlich war die SED-Führung seit dem Sommer 1953 allein verantwortlich für den weiteren Umgang mit den im Umfeld der Field- und der Slánský-Prozesse Verhafteten. In der ersten Jahreshälfte 1954 gab es geheim gehaltene Prozesse gegen Sperling (im März verurteilt zu sieben Jahren Zuchthaus) und Goldhammer (im April verurteilt zu zehn Jahren Zuchthaus).[83]
Die Akten zeigen, dass SED-Parteiführung und -apparat auch die Lenkung des Verfahrens gegen Merker übernahmen, allerdings ohne jede Eile. Nach einer Notiz des MfS vom September 1953 wies Matern auf die Punkte hin, auf die die Untersuchung zu konzentrieren sei. An erster Stelle stand Merkers Eintreten für eine Entschädigung von Juden »und des damit verbundenen Versuches der Verschleuderung von Volksvermögen«. Es folgte die »antisowjetische Linie Merkers« und dessen Eintreten für Field, wozu Matern der ZPKK noch Material übergab. Zum vierten Punkt, dem »Versuch Merkers, massenhaft Agenten zionistischer Organisationen in der DDR einzubauen«, notierte Mielke handschriftlich: »nur Annahme«. Vereinbart wurde, Matern den Vernehmungsplan Merkers zu zeigen, damit er »wichtige Hinweise« geben und Material zur Verfügung stellen könne.[84]
Im Sommer 1954 befassten sich verschiedene Partei- und Justizstellen mit dem Fall Merker. Am 8. Juli schrieb der stellvertretende Generalstaatsanwalt unter Berufung auf den oben genannten Abschlussbericht des MfS an die Justizministerin, dass er ein Verfahren unter Ausschluss der Öffentlichkeit mit einem Strafantrag von 15 Jahren Zuchthaus anstrebe.[85]
Am 9. August kam die »Justizkommission beim ZK«,[86] bestehend aus Anton Plenikowski, Leiter der ZK-Abteilung Staatliche Verwaltung, Justizministerin Hilde Benjamin (die sich selbst natürlich »Justizminister« nannte), Generalstaatsanwalt Ernst Melsheimer und einem weiteren Mitarbeiter, zusammen, die den genannten Schlussbericht des MfS »behandelt und festgelegt [hat], dass in der Anklage die Verbrechen des Merker nach 1945 gegen die deutsche Arbeiterklasse und gegen das deutsche Volk stärker hervorgehoben werden sollen, wobei seine Verbindungen zu Agenten westlicher Geheimdienste und seine Versuche, unter Ausnutzung seiner Funktion solche Agenten in das Gebiet der damaligen sowjetischen Besatzungszone einzuschleusen und somit dem amerikanischen Imperialismus personelle Positionen zu verschaffen, als besonders verbrecherisch zu werten sind«.[87]
Am 17. August brachte Plenikowski eine Vorlage in die Politbürositzung ein, in der auf der Grundlage der genannten Festlegung der Justizkommission dem Politbüro vorgeschlagen wurde, das Strafverfahren gegen Merker kurzfristig vor dem Obersten Gericht unter Ausschluss der Öffentlichkeit durchzuführen, bei einer zu beantragenden Strafe von 15 Jahren Zuchthaus.[88]
Zusammen mit der Vorlage zu Merker wurde eine Vorlage zur Verurteilung des früheren Justizministers Max Fechner eingebracht. Beide Vorlagen wurden mit der Bemerkung zurückgewiesen, sie seien zu überarbeiten und dem Politbüro erneut vorzulegen. Ein zuerst im Arbeitsprotokoll vermerkter Termin zwei Wochen später wurde wieder gestrichen. Über die Gründe der Zurückweisung findet sich nichts in den Akten.[89] Im Politbüro wurde der Prozess gegen Merker danach nicht mehr behandelt.
Als letzte Maßnahme des Parteiapparats gegen Merker gab es im September »erläuternde Bemerkungen« aus einer Besprechung zwischen Sepke (Mitglied der Field-Kommission der ZPKK) und (vermutlich) Plenikowski, in denen noch einmal Vorschläge und »Hauptpunkte« für eine Anklage genannt werden. Am umfangreichsten ausgeführt wird darin die Verbindungsaufnahme Merkers zu Field in Frankreich und Mexiko vor 1945 und in Deutschland nach 1945.[90]
Mit der Freilassung Fields im November 1954 sowie der nachfolgenden Gewährung politischen Asyls waren alle diese Papiere natürlich Makulatur.[91] Endgültig entschieden wurde die Angelegenheit dennoch erst Anfang März 1955, in der Sicherheitskommission des ZK unter der Leitung Ulbrichts. Im Protokoll dazu heißt es: »E) Der Bericht des Genossen Wollweber über den Stand der Untersuchung gegen Paul Märker [sic] und Fechner wird zur Kenntnis genommen. Es wird vorgeschlagen, in ca. 4 Wochen beide Fälle der Justiz zur Aburteilung zu übergeben, Strafmass darf nicht unter 6 Jahre sein.«[92] Zwei Wochen später berichtete Ulbricht im Politbüro über die Beschlüsse der Sicherheitskommission, ohne Merker und Fechner zu erwähnen.[93]
IV. Die Begnadigung durch Pieck
Die Begnadigung Merkers ist der Hartnäckigkeit seiner Frau und dem Wohlwollen Piecks zu verdanken.
Margarete Merker (1903–1984) war die Tochter des KPD-Funktionärs Gustav Menzel, bekannt in der Partei als Betreuer politischer Häftlinge. Nach einer kaufmännischen Lehre arbeitete sie als Sekretärin und Buchhalterin, ab 1925 in der Gewerkschaftsabteilung des ZK der KPD. Hier lernte sie Paul Merker kennen und wurde seine Lebensgefährtin. Er trennte sich für sie von seiner Familie. Margarete Menzel begleitete Paul Merker von 1931 bis 1933 in die USA und von 1934 bis 1935 zur illegalen Arbeit in der KPD-Landesleitung nach Deutschland. Ab 1935 war sie Merkers Mitarbeiterin in der operativen Auslandsleitung bzw. im Sekretariat der KPD in Prag und Paris, emigrierte dann wie Merker nach Mexiko und kehrte mit diesem 1946 nach Deutschland zurück. In Mexiko nannte sie sich Merker, verbunden mit der Absicht, unmittelbar nach der Rückkehr zu heiraten – das war unmöglich, weil die erste Ehe Merkers noch nicht aufgelöst war. 1948 trennte sich Margarete Menzel für kurze Zeit aus privaten Gründen von Merker, kehrte allerdings nach dessen Parteiausschluss zu ihm zurück und heiratete ihn schließlich 1952. Da sie sich weigerte, ihren Mann zu verurteilen, wurde sie im Juni 1953 selbst aus der Partei ausgeschlossen.[94]
Margarete Merker blieb nach der Verhaftung ihres Mannes ohne jede Nachricht von oder über Paul Merker. Sie schrieb zahlreiche Briefe, den ersten wenige Wochen nach der Verhaftung, an verschiedene SED-Größen, um etwas über ihren Mann zu erfahren – an den Präsidenten und Parteivorsitzenden Pieck und Generalsekretär Ulbricht (die beiden kannte sie schon vor 1933 persönlich), an den Ministerpräsidenten und Parteivorsitzenden Grotewohl, den ZPKK-Vorsitzenden Matern, den Staatssekretär für Staatssicherheit Wollweber und andere. Nach der Mitteilung im Neuen Deutschland am 19. November 1954 über die Freilassung Fields forderte sie mit Verweis auf den neuen Sachverhalt eine »Klärung der Sache« ihres Mannes. Eine Antwort erhielt sie bis zum Sommer 1955 nicht. Nur die ZPKK ließ mündlich ausrichten, sie möge sich doch an staatliche Stellen wenden.[95]
Paul Merker wurde nach seiner Verurteilung ins Zuchthaus Brandenburg verlegt und durfte im Mai 1955 einen ersten Brief an seine Frau schreiben.[96] Die Staatssicherheit hatte einer Schreiberlaubnis an die Ehefrau unter der Bedingung ihrer Überwachung am Wohnort zugestimmt.[97] Margarete Merker versuchte nach Erhalt des Briefes erfolglos, über das Urteil informiert zu werden und eine Besuchserlaubnis zu bekommen. Anfang September schrieb sie deshalb eine Eingabe an die Präsidialkanzlei des DDR-Präsidenten Pieck. Die Kanzlei forderte die Generalstaatsanwaltschaft auf, direkt zu antworten und die Präsidialkanzlei über ihre Antwort zu informieren. Sie benachrichtigte auch Margarete Merker über das Vorgehen. Da diese einen Monat später noch ohne Antwort war, schrieb sie ein zweites Mal an die Kanzlei. Dieses Mal wurde ihr von der Staatsanwaltschaft eine Besuchserlaubnis zugesagt. Die Ehefrau bedankte sich und fragte gleichzeitig an, ob der Präsident Fürsprache einlegen könne, damit sie über das Urteil informiert würde. Auch hier schrieb die Präsidialkanzlei an die Generalstaatsanwaltschaft »mit der Bitte, der Einsenderin in der entsprechenden Weise zu antworten und hierbei ausdrücklich auf die Eingabe an unseren Präsidenten bezug [sic] zu nehmen«. Weiter wurde ein Bericht zur Sache erbeten und die Antragstellerin erneut informiert.[98]
Am 5. November 1955 fand der Besuch Margarete Merkers bei ihrem Ehemann statt. Der Aufsicht führende MfS-Offizier fertigte einen Bericht über den Besuch an, in dem er u. a. darüber informierte, dass Merker im Vorgespräch nach der Möglichkeit eines Gnadengesuchs an den Präsidenten durch seine Frau gefragt habe – er habe geantwortet, dass es nur über die Strafvollzugsanstalt eingereicht werden könne.[99] Zwei Wochen später, am 20. November, berichtete Margarete Merker in einem an den Präsidenten gerichteten Brief über den Besuch und dass sie am 18. November im Büro des Generalstaatsanwalts mündlich über das Urteil informiert worden sei. Sie schrieb weiter über den schlechten körperlichen Zustand ihres Mannes und bat schließlich zu prüfen, ob ihm ein »Gnadenerweis zuteil werden« könne.[100]
Zehn Tage später schrieb die Leiterin der Rechtsabteilung, Elfriede Thaler, eine Hausmitteilung an den Chef der Präsidialkanzlei, Staatssekretär Max Opitz: »Aufgrund früherer Eingaben haben wir der Frau M. eine Besuchserlaubnis und die Unterrichtung wegen des Urteils verschafft. Das Gnadengesuch werde ich beim ZK vorlegen.« Darauf antwortete Opitz am 7. Dezember, das Gnadengesuch müsse mit einem verantwortlichen Genossen im Sektor Justiz des ZK behandelt werden und der Präsident bitte um Mitteilung über das Ergebnis dieser Besprechung. Schließlich folgte am 13. Dezember 1955 unter dem Vermerk »Eilt! Streng vertraulich!« die Überreichung des Gnadengesuchs an das Ministerium für Justiz, verbunden mit der Bitte um die Übersendung eines Gnadenberichts und dem Verweis auf ein »geführtes Telefongespräch in der Sache«.[101]
Nach der Verfassung übte der Präsident der DDR das Begnadigungsrecht aus,[102] aber in Wirklichkeit bestimmten üblicherweise Parteigremien, vorzugsweise das Politbüro, das politische Handeln des Präsidenten. Allerdings gab es immer wieder Dinge, die in den Gremien, genauer in den offiziellen und überlieferten Akten, nicht auftauchten, obwohl sie irgendwo und irgendwie entschieden wurden – die Begnadigung Merkers war so eine Angelegenheit. Allen Beteiligten wird klar gewesen sein, dass die maßgebliche Person in dieser Frage Ulbricht war, und Pieck gehörte zu den wenigen, die Ulbrichts Zustimmung in dieser Frage erwirken konnten. Irgendwann zwischen dem 20. November und dem 13. Dezember musste Pieck Ulbrichts Einverständnis erlangt haben, das nur in der Notiz eines Mitarbeiters vom 15. Dezember 1955 im Büro der Justizministerin über das oben genannte »Telefongespräch in der Sache« dokumentiert ist: »Zu der Gnadensache Paul Merker hat die Genossin Thaler dem Genossen Böhme folgendes [sic] gesagt: Der Genosse Pieck sei an der Stellungnahme sehr interessiert; der Genosse Walter Ulbricht habe erklärt, die Gnadensache soll auf normale Weise im Apparat erledigt werden.«[103] »Auf normale Weise im Apparat erledigt werden« hieß, dass für den Gnadenbericht die Stellungnahmen von Justizministerium, Gericht, Staatsanwaltschaft und Innenministerium eingeholt wurden,[104] die wohl von dem Wunsch der Parteioberen gewusst haben dürften.
Die Stellungnahme der Justizministerin vom 27. Dezember 1955, die eine Begnadigung befürwortete, lässt sich so zusammenfassen: Die Verurteilung beruhe auf zwei Komplexen, dem Verhalten Merkers vor 1945, »rechtlich gewürdigt als eine Schwächung der Völker in ihrem Kampf gegen den deutschen Faschismus im Sinne des Kontrollratsgesetzes«, und dem Verhalten nach 1945, bei dem er »engste Verbindung zu dem tschechoslowakischen staatsfeindlichen Verschwörerzentrum Slansky« unterhalten habe, die gegen den Bestand der DDR gerichtet gewesen seien. Die Bewertung des Verhaltens vor 1945 – ob es strafrechtlich relevant sei oder nur ein schwerer politischer Fehler und im Rahmen der Partei zu beurteilen – hänge vom Charakter des Verhaltens nach 1945 ab. Für die Zeit nach 1945 seien außer dem Zusammentreffen mit drei Verurteilten des Slánský-Prozesses keine konkreten Handlungen festgestellt worden, über den Inhalt der Gespräche sei ebenfalls nichts bekannt. Außerdem werde das Urteil des Slánský-Prozesses in der Tschechoslowakei als nicht mehr ausreichend begründet angesehen und als bewiesen angenommene Tatsachen nicht mehr für zutreffend gehalten, wie die Ministerin aus verschiedenen Quellen erfahren haben wollte. Insbesondere sei eine Reihe von Verurteilten, auch in Ungarn, freigelassen worden, »die wegen ihrer Verbindungen zu den gleichen westlichen Agenten [deren Namen absichtlich nicht genannt sind, J. M.] abgeurteilt wurden«. Wenn aber die »Verbindung zu diesen Personen« – erneut nicht näher bestimmt, um wen es sich dabei handelt – nicht mehr belastend sei, dann sei auch die strafrechtliche Einschätzung des Verhaltens in der Emigration anders, und »da er bereits mehr als drei Jahre in Haft ist, [sei] eine Begnadigung von Merker zu befürworten«.[105] Diese Stellungnahme ist auch darum interessant, weil sie die Begründung der Urteilsaufhebung im Juli 1956 vorwegnahm.[106] Vor allem zeigt sie aber, dass es schon im März 1955 keinen Grund für eine Verurteilung gab.
Die Stellungnahme des stellvertretenden Generalstaatsanwalts Krügelstein, der die Anklage vertreten hatte, bestand nur aus dem Satz, er trete der Auffassung des Ministers für Justiz bei. Gleichzeitig schrieb er einen Brief an den Leiter der Präsidialkanzlei, dass er eine Entscheidung des Politbüros über die Sache für notwendig erachte und eine materielle Sicherstellung Merkers für erforderlich halte, damit dieser nicht in den Westen fliehe, denn er habe gute Beziehungen zu jüdischen Kapitalisten in Mexiko.
Der Innenminister Maron schloss sich ebenfalls der Stellungnahme des Ministers der Justiz an und verwies zuvor noch auf die gute Führung und den bedenklichen Gesundheitszustand Merkers, der nur bedingt haftfähig sei.[107]
Nur der Vizepräsident des Obersten Gerichts Ziegler, der die Verhandlung gegen Merker geleitet hatte, wollte keine befürwortende Stellungnahme abgeben. Die von Merker begangenen Verbrechen in der Emigration und später seien so schwerwiegend, dass das Urteil in vollem Umfang gerechtfertigt sei – exemplarisch hebt Ziegler Merkers Veröffentlichungen in Mexiko hervor und die Bezeichnung eines anderen Emigrantenpaares als Trotzkisten, um den eigenen Trotzkismus zu tarnen. Danach heißt es: »Falls das Gnadengesuch mit der Veränderung der politischen Einstellung gegenüber Noel Field im Zusammenhang stehen sollte, so war diese Veränderung dem Senat bereits bei der Verhandlung bekannt und ist die Verbindung Merkers zu Field weder ihm strafrechtlich zur Last gelegt noch in der Hauptverhandlung erörtert worden.« Unter diesen Gesichtspunkten seien eher die Verurteilten Sperling und Goldhammer zu begnadigen.[108]
Die vom Präsidenten unterzeichnete »Gnadenentscheidung« trägt das Datum 17. Januar 1956, allerdings hielt der Leiter der Präsidialkanzlei in einer Aktennotiz fest, dass er nach dem Eingang der oben genannten Stellungnahmen am 18. Januar noch mit Matern gesprochen habe: »Genosse Matern schloss sich der Meinung der genannten Instanzen an und bemerkte, man sollte Merker freilassen.« Erst danach habe er am 18. Januar den Gnadenerweis zur Unterschrift vorgelegt. Am 23. Januar wurde Margarete Merker informiert, die sich am 26. Januar bedankte.[109] Am 27. Januar 1956 wurde Paul Merker freigelassen.[110]
V. Nach der Freilassung – vergebliches Bemühen um politische Rehabilitierung
In den ersten Wochen nach der Freilassung dürfte Paul Merker mit Bettruhe, Arztbesuchen und Behördengängen beschäftigt gewesen sein. In einem späteren Brief an Pieck spricht er von einer lang anhaltenden Erschöpfung und einem Herzleiden. Hinzu kam die völlige Mittellosigkeit. Seine Konten waren bei der Verhaftung beschlagnahmt worden, die Anerkennung als Verfolgte des Naziregimes (VdN), die eine auskömmliche Rente beschert hätte, war ihm wie auch seiner Ehefrau entzogen worden. Margarete Merker hatte nach längerem Bemühen eine Arbeitsstelle als Schreibkraft in einem Luckenwalder Betrieb gefunden, aber für zwei Personen wird das Geld dennoch nicht gereicht haben. Paul Merker beantragte eine Invalidenrente, die am 7. März 1956 in Höhe von 79,40 Mark bewilligt wurde.[111]
Am 7. März 1956 berichteten in Westberlin Zeitungen und Rundfunk von der Freilassung Merkers – so eine Information des MfS. Unter der Überschrift »Feindpropaganda zum XX. Parteitag der KPdSU« informierte das MfS zwei Tage zuvor: »Bei der Hetze gegen den Genossen Walter Ulbricht nimmt man auch Bezug auf frühere Maßnahmen zur Reinhaltung der Partei. Dabei stellt man die Frage nach der Rehabilitierung von Paul Merker und Franz Dahlem. Z. B. hetzt die Westberliner ›Nachtdepesche‹, dass Genosse Walter Ulbricht eine große Schlappe erleiden würde, wenn seine ›Erzfeinde‹ wiederkommen.«[112]
Nach Arzt- und Behördengängen dürfte sich in der Kleinstadt Luckenwalde die Freilassung Merkers herumgesprochen haben, und nachdem das im Osten intensiv gehörte Westradio auf die Bedeutung des Falls hingewiesen hatte, wird die entsprechende Information in das nahe gelegene Westberlin gelangt sein.
In diesem Zusammenhang muss der Parteiführung, vor allem Ulbricht, klar geworden sein, dass die Verurteilung Merkers lange nach der Freilassung Fields ein Problem darstellte, auch wenn die dramatischen Ereignisse etwa in Polen und Ungarn, eng verknüpft mit der Rehabilitierung unschuldig Verurteilter und mit Führungswechseln, nicht vorhersehbar gewesen waren. Merker argumentierte in seiner ersten Bitte um die Klärung seines Verhältnisses zur Partei in einem Brief an Pieck im April 1956, auf den weiter unten eingegangen wird, ausgesprochen friedlich und parteifromm, als seiner Partei treu verbunden. Zu diesem Zeitpunkt wäre es vernünftig gewesen, dem gesundheitlich angeschlagenen früheren Parteifunktionär, dessen Name durch die Zeitungskampagnen über die Beschlüsse zu Field und Slánský bekannt geworden war, ein unbedeutendes, aber ehrenvoll klingendes Amt anzubieten, um ihn wieder in die Partei einzubinden. Die Parteiführung, vielleicht auch Ulbricht allein, entschied jedoch anders. Zwar wurde Merker juristisch rehabilitiert und materiell entschädigt, natürlich nicht öffentlich, aber die Aufhebung des Parteiausschlusses wurde erst abgelehnt, dann hinausgezögert – erst 1958 erhielt Merker sein Mitgliedsbuch.[113]
Den ersten Versuch, »nach der langen völligen Abgeschlossenheit« das Verhältnis zu seiner Partei zu klären, machte Merker Mitte April 1956 mit einem Brief an Pieck.[114] Zuerst verwies Merker auf sein Studium des einschlägigen Materials der kommunistischen Parteien, etwa des XX. Parteitags, was ihm bestätige, »dass auch das ungerechte Vorgehen gegen mich von Vertretern Berias, die in der DDR tätig waren, veranlasst wurde«.[115] Es folgte eine zurückhaltende Beschreibung der Vernehmungen und Merkers Haltung dabei: »Nach Überwindung einer kurzen, durch die gegen mich erhobenen hemmungslosen Anschuldigungen und ihre Begründung verursachten Verwirrung« habe er sich geweigert, sich selbst oder andere schuldlose Menschen als »imperialistische Agenten« zu bezeichnen, was »als eine Forderung des Politbüros des ZK der Partei an mich hingestellt« worden sei. Er sei überzeugt, dass Pieck, Grotewohl und Ulbricht davon keine Kenntnis hatten. Er habe sich mit allen Kräften gegen die »geäusserten Absichten, mich zum Träger und zur zentralen Figur eines grossen politischen Sensationsprozesses in Berlin zu machen, zur Wehr gesetzt« und entschieden zurückgewiesen, dass die Untersuchung mit »gesetzwidrigen und teilweise verbrecherischen Methoden […] auf Veranlassung des Politbüros des ZK oder seines Sekretariats geschehe«. Die genannte kurze Verwirrung und anschließende Verweigerung falscher Beschuldigungen entspricht den Feststellungen im oben genannten Sachstandsbericht des MfS vom Januar 1954 (Merker widerrufe frühere Aussagen), der antisemitische Tenor mancher Vernehmung wurde nicht erwähnt. Dann sprach Merker eine für die Parteiführung unerfreuliche Tatsache an: »Umso bedrückender ist es für mich, dass noch nach der Entlarvung Berias und nach der Klärung der Field-Angelegenheit ein Prozess gegen mich durchgeführt worden ist.« Er wolle wissen, warum das geschehen sei, und »da ich darauf nur eine Antwort finde, sehe ich mich veranlasst, Dir und der Parteileitung folgendes zu erklären.« Leider deutet er nicht an, welche Antwort er gefunden hatte. Er erklärte sodann weiter, dass er nie vorsätzlich etwas getan habe, was der Partei hätte schaden können, auch in seiner Gerichtsverhandlung sei er »so zurückhaltend wie möglich auf[getreten], um zu verhüten, dass Feinde der DDR mein Auftreten ausnützen könnten«. Er und seine Frau hätten »über den ganzen Fall Stillschweigen bewahrt und werden das auch in Zukunft tun«. Beide stünden treu zur Partei und befänden sich in Übereinstimmung mit der Politik der Partei. Abschließend bietet er »eine umfassende schriftliche Darstellung meiner Angelegenheit« an, falls dies als notwendig erachtet werde. Als Schlussformel gegenüber Pieck wählte Merker: »In unwandelbarer Verbundenheit«.
Karl Schirdewan beschrieb 1998 in seinen Erinnerungen, wie die SED-Führung im Frühjahr 1956 von sowjetischer Seite gedrängt wurde, politische Fehler der Stalinzeit zu korrigieren und die »sozialistische Gesetzlichkeit« wiederherzustellen.[116] Um dem nachzukommen, bildete die Parteiführung eine »Kommission des Zentralkomitees zur Überprüfung von Angelegenheiten von Parteimitgliedern« unter Leitung Ulbrichts. Weiter gehörten ihr Schirdewan, Matern, Friedrich Ebert, Helmut Lehmann (zwei frühere Sozialdemokraten, Lehmann war bis 1950 Mitglied des Zentralsekretariats bzw. des Politbüros), Wollweber, Hans Kiefert (1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Erfurt) und Bruno Haid (stellvertretender Generalstaatsanwalt) an. Geffke und Mielke nahmen ständig an den Sitzungen teil, ohne Kommissionsmitglieder zu sein.[117] Die Kommission selbst wurde, wenn man dem Protokoll einer Politbüro-Sitzung vom 20. März 1956 glauben will, auf Vorschlag der ZPKK gegründet, die Zusammensetzung vom Politbüro bestimmt.[118] Formal beschlossen wurde die Gründung der Kommission dann auf der 26. ZK-Tagung am 22. März 1956. Ulbricht begründete sie mit den Worten, »[…] daß es notwendig ist im Sinne dessen, was auf dem XX. Parteitag gesagt wurde, eine Reihe Angelegenheiten ehemaliger Parteimitglieder oder Fälle von Parteimitgliedern, die Strafen erhalten haben […] zu überprüfen und zu entscheiden«. Dem ZK werde man dann Bericht erstatten.[119]
Tatsächlich entschied die Kommission über die Freilassung, Begnadigung und Strafverkürzung eines weit größeren Personenkreises, darunter von sowjetischen Militärtribunalen und in den Waldheim-Prozessen Verurteilte, sogenannte Agenten des Ostbüros der SPD, Funktionäre der Blockparteien und schließlich mehr als zehntausend Kriminelle mit geringen Strafen.[120] Schirdewan verweist in seinen Erinnerungen darauf, dass so die von Parteikontrolle und Staatssicherheit verfolgten SED-Genossen »in einem Meer von begnadigten Verbrechern weitgehend verborgen bleiben« sollten.[121]
Für den Fall Merker, aber auch die Fälle Sperling und Goldhammer, erwies sich die Kommission, dominiert von den Verantwortlichen für die Repression, als geeignetes Instrument, um eine politische und »parteimäßige« Rehabilitierung hinauszuschieben oder unmöglich zu machen. Die erste Sitzung der Kommission fand am 19. April 1956 statt, dem Eingangstag von Merkers Brief in der Präsidialkanzlei. Sein Fall konnte an diesem Tag daher noch nicht behandelt werden.[122] In der zweiten Kommissionssitzung am 25. April nahm die Kommission »Kenntnis von einem Schreiben Paul Merkers zur Frage seiner Strafen« und beschloss, dass Geffke eine Aussprache mit Merker dazu führen und dann Bericht erstatten sollte.[123] Geffke bestellte Merker zu einer »längeren Aussprache« am 30. April in die Kreisleitung Luckenwalde.[124] Notizen von dieser Unterredung scheinen nicht zu existieren, aber der Anfang eines Briefes Merkers an die ZPKK zeigt, was Geffke wollte. Einleitend heißt es darin: »Eurem Wunsche nachkommend, gebe ich nachfolgend eine Darstellung meiner Stellungnahme zur Judenfrage, wie ich sie in der Zeit meines Aufenthaltes in Mexiko zum Ausdruck brachte, und deren falsche Auslegung mit als Anklagepunkte gegen mich verwendet wurden.« Der Brief mit 38 Seiten beginnt mit der Widerlegung der »gegen mich erhobenen Beschuldigungen«, nennt Gründe für Merkers Interesse an »den einfachen jüdischen Menschen und den fortschrittlichen Angehörigen der jüdischen Intelligenz«, schildert Merkers politische und publizistische Tätigkeit zur »Judenfrage« und seine Stellung zur Wiedergutmachungsfrage. Weiter geht er detailliert auf die Vorgänge in der mexikanischen Emigration ein wie auch auf eine Reihe von Einzelfragen, darunter die Beschuldigungen im Zusammenhang mit dem Slánský-Prozess.[125] Persönliche Unterlagen seines Falles besaß Merker nicht mehr. Sie waren vom MfS beschlagnahmt worden. So dauerte die Fertigstellung des Briefes entsprechend lange. Er trägt das Datum des 1. Juni 1956. Ein Begleitbrief zeigt jedoch,[126] dass der Brief erst am 11. Juni abgeschickt wurde. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Kommission ihre Tätigkeit faktisch schon beendet, die letzte Sitzung fand am 14. Juni 1956 statt. Der Brief, den Merker im Anschluss an die Aussprache mit Geffke verfasste, wurde in der Kommission nicht behandelt. Gelesen wurde er offenbar aber schon: Es finden sich vereinzelt Anstreichungen und Bemerkungen von unbekannter Hand darin.
In der dritten Sitzung der Kommission am 4. Mai, »nach dem Bericht der Gen[ossi]n Geffke über die durchgeführte Aussprache mit Paul Merker wurde folgendes beschlossen: 1. Paul Merker wurde am 1.12.1952 [richtig 30.11.] verhaftet. Seine Verhaftung erfolgte auf Grund von bestimmten Anhaltspunkten und auf Grund von Aussagen einiger Angeklagter im Slánský-Prozeß, die eine gründliche Untersuchung notwendig machten. Die unter Berücksichtigung neuer Gesichtspunkte durchgeführte Nachprüfung dieser Angelegenheit führte zur Freilassung Merkers zu Beginn dieses Jahres. Das endgültige Ergebnis dieser Nachprüfung ergibt, daß die Merker zur Last gelegten Anschuldigungen ungenügend bewiesen sind, und daß Merker durch Aufhebung des Urteils und durch Freispruch zu rehabilitieren ist.« Weiter wurde festgelegt, dass der Generalstaatsanwalt entsprechende Maßnahmen zur Rehabilitierung zu veranlassen habe, Merkers beschlagnahmte Konten freizugeben und die VdN-Rente zu zahlen sei. Der Sekretär der Kommission forderte den Generalstaatsanwalt Melsheimer auf, den Freispruch zu veranlassen (was am 13. Juli geschah), und wies den Minister für Arbeit an, die Anerkennung der VdN-Mitgliedschaft und die rückwirkende Rentenzahlung sicherzustellen.[127]
Merker wurde über diesen Beschluss nicht informiert, der ja verklausuliert behauptet, die Anschuldigungen des Strafprozesses würden zu Recht bestehen, nur seien sie ungenügend bewiesen – veröffentlicht wurde dann eine etwas mildere Formulierung. Im Kommuniqué der 28. ZK-Tagung, veröffentlicht im Neuen Deutschland am 31. Juli, heißt es: »Das Zentralkomitee stellte nach Prüfung der Angelegenheit Paul Merker fest, daß die ihm zur Last gelegten Anschuldigungen in der Hauptsache politischer Natur sind, die eine strafrechtliche Verfolgung nicht rechtfertigen.«[128] Von einer Aufhebung des Parteiausschlusses oder einer politischen Rehabilitierung Paul Merkers ist nicht die Rede. Im Gegensatz zu seiner Frau, deren Parteiausschluss als »überspitzte Entscheidung« aufgehoben wurde.[129] Diese Linie – Beendigung der Haft durch Begnadigung (und bei Merker sogar eine Urteilsaufhebung), aber Beharren auf der Richtigkeit der Parteibeschlüsse – wurde auch bei Sperling und Goldhammer praktiziert.[130] Zutreffend schreibt Schirdewan in seinen Erinnerungen: »Ulbricht hätte es nur zu gern gesehen, wenn sich die Opfer der irrationalen Hexenjagd mit Gnadenakten begnügten, nach denen sie jedoch moralisch nach wie vor als Verbrecher, Parteifeinde oder zumindest unsichere Kantonisten dargestellt werden könnten.«[131]
Auch der Field-Beschluss wurde nicht etwa vollständig aufgehoben, sondern, wie im Kommuniqué der 28. ZK-Tagung formuliert, »überprüft und der Inhalt dieser Erklärung, soweit er sich aus den Prozessen Rajk in der Volksrepublik Ungarn und gegen Kostoff in der Volksrepublik Bulgarien ergibt, aufgehoben«.[132] Was mit dieser unklaren Formulierung gemeint war, ergibt sich aus einem durchgestrichenen Teil des Entwurfs für die Aufhebung des Field-Beschlusses durch die Kommission: »Das Zentralkomitee ist jedoch nach wie vor der Meinung, daß ein Teil der Parteimitglieder in der Emigration gegenüber des Unitarian Service Committees Noel H. Fields nicht die genügende Wachsamkeit an den Tag gelegt hat.«[133] Überhaupt nicht eingegangen wurde auf den Slánský-Beschluss,[134] das antisemitische Machwerk aus der Feder Materns, der nie aufgehoben wurde, bei dem man aber so tat, als gäbe es ihn nicht.[135]
Über den Beschluss zu Merker im Kommuniqué der 28. ZK-Tagung wurde dieser von Ulbricht in einem Brief vom gleichen Tag informiert.[136] Der Brief ist ohne jede Anrede, aber Merker wird darin von Ulbricht geduzt. Ulbricht teilt zusätzlich mit, die Aussagen einiger Angeklagter im Slánský-Prozess hätten eine gründliche Untersuchung notwendig gemacht und die Überprüfung der nicht gerechtfertigten strafrechtlichen Verfolgung hätte zur Freilassung und zur Wiederaufnahme des Verfahrens geführt.
Am 23. August antwortet Merker darauf in zwei Briefen: Einen richtete er an die Privatadresse Ulbrichts, den anderen an die offizielle Adresse des Zentralkomitees, mit Kopien an die Parteivorsitzenden. Im ersten kurzen Brief[137] erwähnt er den zweiten[138], eine Stellungnahme zum Beschluss des 28. ZK-Plenums in seiner Sache. Dieser habe ihn »nach allem, was mir im Verlaufe von sechs Jahren angetan wurde, wie ein Faustschlag ins Gesicht« getroffen. Er könne sich nicht vorstellen, »dass der Beschluss das Ergebnis einer wirklichen Behandlung meiner Angelegenheit im ZK-Plenum ist und diese damit ihren Abschluss gefunden« habe. Er wäre dankbar für eine Rücksprache mit Ulbricht oder einem von Ulbrichts Beauftragten, »der auch mir bekannt ist, und der nicht unmittelbar an dem Vorgehen gegen mich beteiligt war«. Im zweiten Brief bittet er unter Verweis auf »die unklare Formulierung des Beschlusses« des 28. Plenums das »Zentralkomitee über einige Fragen um Aufklärung«. »Hält das Zentralkomitee die gegen mich erhobenen und öffentlich verbreiteten Anschuldigungen weiter aufrecht«, verbunden mit dem Zugeständnis, dass eine strafrechtliche Verfolgung nicht gerechtfertigt sei, so ersuche er um Mitteilung, »welche der zahllosen, gegen mich erhobenen, verleumderischen Anschuldigungen das 28. ZK Plenum zu einer solchen Auffassung veranlasst hat«. Weiter heißt es zur Field-Erklärung vom August 1950: »Die damalige Erklärung des Zentralkomitees schliesst meinen Ausschluss aus der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands ein, der wegen meine[r] Beziehungen zu dem, in diesen Prozessen fälschlich als Spion bezeichneten Noel Field, über die ich eine wahrheitsgetreue Aufklärung gegeben hatte, zu Unrecht erfolgt ist. Ich bitte mich darüber aufzuklären, ob die teilweise Aufhebung dieser irrtümlichen Erklärung nun auch die Wiederherstellung meiner Parteimitgliedschaft einschliesst, und wenn nicht, wie das 28. ZK Plenum die Aufrechterhaltung meines Parteiausschlusses begründet. Ich weise in diesem Zusammenhang daraufhin, dass meine Beziehungen zu Field den einzigen Zweck verfolgten, den sowjetischen Freunden nützlich zu sein.« Weiter sei ebenfalls nicht ersichtlich, ob die Beschlüsse zum Slánský-Prozess ganz oder teilweise aufgehoben seien. Wenn nicht, »bitte ich mich aufzuklären, ob sich das 28. ZK Plenum die darin enthaltenen schweren Verleumdungen, die mich sogar zu einem Agenten imperialistischer Mächte stempelten, weiter zueigen macht«. Seit seiner Freilassung vor sieben Monaten bestehe seine Verbindung zur Parteiführung nur über die Staatssicherheit und über die ZPKK. »Alles, was in meiner Angelegenheit geschieht, geschieht durch dieselben Personen, die unter dem Druck der Beriabande an meiner Verfemung unmittelbar beteiligt gewesen sind.« Er werde »von der Parteiführung immer noch wie ein Aussätziger gemieden.« Er habe den Eindruck, dass die politische Behandlung seines Falls »nicht das Ziel verfolgt, schweres Unrecht auch in politischer Hinsicht aus der Welt zu schaffen, sondern es zu beschönigen, und es, wenn auch in stark abgeschwächter Form weiter aufrecht zu erhalten«. Nach den grundsätzlichen Fragen erhob Merker eine Reihe von Forderungen: »1. Wiederherstellung meiner alten Parteimitgliedschaft und eine, meine früheren Parteifunktionen berücksichtigende Heranziehung zur Parteiarbeit. 2. Eine der Öffentlichkeit sichtbare Handlung der Parteiführung oder der Regierung, die zeigt, dass meine vollständige Rehabilitierung erfolgt ist.« Weiter forderte er die Aufhebung des Verbots seiner Schriften, die Rückgabe der beschlagnahmten Briefe, Manuskripte, Fotos, die Beschaffung einer Wohnung im Randgebiet Berlins und schließlich eine Haftentschädigung. Abschließend verwies er auf seinen schlechten Gesundheitszustand, der eine hauptamtliche Arbeit in einer Staats- oder Parteifunktion vorläufig unmöglich mache. »Ich stehe aber zur ehrenamtlichen Mitarbeit und für geeignete zeitweise Aufträge zur Verfügung.«
Für Ulbricht waren die Sommermonate 1956 eine kritische Zeit. In den Volksdemokratien gab es Machtkämpfe zwischen sogenannten Reformern und Konservativen in der Parteiführung, und es war ungewiss, ob und wie sich die sowjetische Parteiführung einmischen würde. In Ungarn setzte die sowjetische Führung Mátyás Rákosi faktisch ab, verbrachte ihn im Juli in die Sowjetunion, wo er bis zu seinem Tod 1971 blieb.[139] Ob die sowjetische Parteiführung in der DDR eingreifen würde, war zu diesem Zeitpunkt offen, aber mit Schirdewan gab es einen von der Besatzungsmacht unterstützten potenziellen Nachfolger für Ulbricht. Hinzu kamen die parteiinterne Kritik an Ulbrichts Führungsstil und außerhalb der Partei eine wachsende Unzufriedenheit in der Bevölkerung, die für Missstände materieller wie ideeller Art in naheliegender Weise Ulbricht verantwortlich machte. Allerdings ging Ulbricht taktisch geschickt vor. Er setzte sich scheinbar an die Spitze einer »Entstalinisierungsbewegung«, etwa mit dem Vorsitz in der oben genannten Kommission oder in den Beratungen und Beschlüssen des 28. ZK-Plenums Ende Juli 1956 durch die Ankündigung des Kampfes gegen Dogmatismus und Personenkult, für mehr Demokratie und Meinungsfreiheit in der DDR. Gleichzeitig wurden materielle Versprechungen gemacht – kürzere Arbeitszeiten, höhere Renten, verstärkter Wohnungsbau. Ulbricht gewann Zeit, und tatsächlich war die Gefahr, man könne ihn politisch entsorgen, um Reformen in der DDR voranzutreiben, nach den Herbstereignissen in Ungarn vorbei.
Im Sommer allerdings kamen die Fragen über die Vergangenheit, wie sie Merker stellte, noch ungelegen, und Ulbricht fand Wege, damit umzugehen. Er antwortete Merker auf die zwei Briefe Anfang September, die Anrede lautete jetzt »Werter Genosse Paul!«.[140] In der Frage der Wiederherstellung der Parteimitgliedschaft gab er Merker recht, dass dessen »Aufnahme in die Partei auf Grund der Beschlüsse des 28. Plenums unverzüglich hätte vollzogen werden müssen«. Allerdings zögerten die ZPKK und Ulbricht diese Wiederherstellung in der Folge trickreich hinaus. In deutlicher Missachtung von Merkers Wunsch nach einer Rücksprache mit einem von Ulbricht Beauftragten, »der nicht unmittelbar an dem Vorgehen gegen mich beteiligt war«, bot dieser ein Gespräch mit Matern an, zur Besprechung der Parteifragen und zur Regelung praktischer Dinge. Außerdem hätte er die Staatssicherheit angewiesen, die beschlagnahmten Manuskripte zurückzugeben, und die Staatsanwaltschaft, den materiellen Schaden zu ersetzen. Von Parteiarbeit und einer öffentlich sichtbaren Rehabilitierung war nicht die Rede, aber Ulbricht bot ein persönliches Gespräch zu einem späteren Zeitpunkt (nach einer China-Reise) an. Nur auf eine der grundsätzlichen Fragen, die Merker im ersten Teil seines zweiten Briefes formal an das ZK gestellt hatte, ging Ulbricht ein, auf den »fälschlich als Spion bezeichneten Noel Field«. Hierzu Ulbricht: »Zu Deiner Bemerkung über Noel H. Field möchte ich bemerken, daß wir nicht beurteilen können, welche Rolle Noel H. Field gespielt hat, der ja bekanntlich Leiter einer amerikanischen Hilfsorganisation war. Da diese Angelegenheit nicht der Untersuchung durch unsere Organe unterlag, sind wir nicht in der Lage, eine Einschätzung dieses Herrn zu geben.«[141]
Warum Ulbricht die zutreffende Bemerkung Merkers, es handle sich bei Field um einen Kommunisten, der für die Sowjetunion gearbeitet habe, in so gewundener Weise zurückwies, bleibt rätselhaft.[142] Überhaupt ist der geradezu zwanghafte Umgang Ulbrichts mit Field, der sich zuvor schon in der nur teilweisen Aufhebung des Field-Beschlusses zeigte, seltsam. Dass der Spion Field nicht von der SED erfunden wurde, war jedem klar, auch wenn die tatsächlichen Hintergründe damals unbekannt waren.[143] Sicher ist nur, dass die Person Fields in den folgenden Jahren von Ulbrichts Amtszeit tabuisiert wurde – seine Erwähnung in der DDR als Unterstützer von Antifaschisten und Verfolgten des Naziregimes war erst 1975 möglich.[144]
Am 12. September 1956 führte Matern in Begleitung Geffkes eine Aussprache mit Merker.[145] Matern erklärte, die ZPKK wolle die »alte Parteimitgliedschaft« Merkers wiederherstellen, was die volle Rehabilitierung bedeute, allerdings müsse der Beschluss der ZPKK durch das ZK bestätigt werden, was noch einige Zeit dauern werde. Merker war damit einverstanden. Die anderen Wünsche Merkers konnten gleich geregelt werden, und es wurde u. a. vereinbart, eine Wohnung mit Garten am Stadtrand, aber mit S-Bahn-Anschluss zu beschaffen (das war dann in Eichwalde), Merker zur Mitarbeit in Gewerkschaftsfragen heranzuziehen und dies durch die Veröffentlichung von Artikeln unter seinem Namen öffentlich zu machen.
Im Beschluss der ZPKK vom 22. September 1956 über die Aufhebung des Parteiausschlusses, zur Vorlage an das Politbüro, stand zur Begründung (vermutlich wahrheitswidrig), es habe eine gründliche Aussprache mit Merker über »seine fehlerhaften politischen Auffassungen in einigen Fragen der Vergangenheit« stattgefunden, und Merker habe »ausführlich schriftlich Stellung genommen«.[146] Mit der schriftlichen Stellungnahme war wohl der Brief vom 1. Juni gemeint, in dem Merker die seinerzeit erhobenen Beschuldigungen zurückwies und keine »fehlerhaften politischen Auffassungen« einräumte.
Am 14. November 1956, dem dritten Tag des 29. ZK-Plenums, teilte Ulbricht der Versammlung mit, das Politbüro habe sich mit einem Beschluss und einem Vorschlag der ZPKK über die Wiederaufnahme Merkers in die Partei befasst, aber durch ein Versehen sei das Dokument nicht exakt formuliert worden, und deshalb bitte er, dass das ZK das Politbüro bevollmächtigen solle, diese Wiederaufnahme zu formulieren und zu veröffentlichen – was einstimmig beschlossen wurde. Auf Nachfrage verweist Ulbricht darauf, dass auf dem vorhergehenden Plenum diese Frage offengelassen worden sei, aber inzwischen hätte die ZPKK alles nachgeprüft, es gebe keinen Grund, Merker nicht wieder aufzunehmen. Matern ergänzte, es sei darum gegangen, die politischen Fehler Merkers zu klären, was man in zwei gründlichen Aussprachen getan habe.[147]
Am 29. Dezember 1956 beschloss das Politbüro, »entsprechend dem Auftrag des Zentralkomitees […] die Rehabilitierung Paul Merkers und seine Wiederaufnahme in die Partei«.[148] Von einer Veröffentlichung des Beschlusses war keine Rede, und in Merkers Kaderakte findet sich auch kein Beschluss, in dem das Wort Rehabilitierung vorkommt.
Der Vollzug der Wiederaufnahme Merkers in die Partei wurde lange hinausgezögert. Im Mai 1957 fragte Matern die Abteilung Organisation im ZK der SED, wer das Dokument ausstellen müsse, Merker habe ihm mitgeteilt, noch nicht im Besitz eines Parteidokuments zu sein.[149] Im Jahr darauf schrieb Geffke eine Aktennotiz für die Kaderakte Merkers, dass dem 2. Sekretär der Kreisleitung der SED Berlin-Mitte am 18. Februar 1958 der Beschluss zu Merkers Wiederaufnahme übergeben worden sei, den man bis zum Abschluss der Prozesse gegen Harich und Janka zurückgehalten habe. »Dann ist die Angelegenheit in Vergessenheit geraten und nicht richtig gelaufen.«[150] Als abschließende Bosheit vermerkte Geffke noch, mit der Auszeichnung für die 40-jährige Parteizugehörigkeit (Merker war im Februar 1918 der USPD beigetreten) könne ruhig noch ein Jahr gewartet werden.
Die von Geffke angesprochene Verwicklung Merkers in die Harich-Janka-Affäre ist bekannt, die Ursachen und Hintergründe sind es nicht immer.[151] Sicher ist nur, dass Merker in die Harich-Janka-Affäre durch seine Teilnahme an der Zusammenkunft mit Harich und anderen in Jankas Haus am 21. November 1956 verstrickt war oder verstrickt wurde,[152] ungewiss hingegen, ob das ein für Ulbricht günstiger und von diesem ausgenützter Zufall war oder ob es sich um eine kunstvolle und lange vorbereitete Intrige handelte. Eine überzeugende dokumentarisch gestützte Darstellung der Harich-Janka Affäre scheint nicht zu existieren, und sie ist vielleicht auch gar nicht möglich. Hier soll zum Schluss nur kurz darauf eingegangen werden, wie Ulbricht diese Situation ausnutzte.
Am 29. November 1956 wurde Wolfgang Harich als »Anführer einer staatsfeindlichen Gruppe« verhaftet, so das Neue Deutschland einen Tag später.[153] Walter Janka wurde am 6. Dezember verhaftet, ohne eine Meldung in der DDR-Presse.[154] Unter dem gleichen Datum schrieb Merker an Matern, offenbar in Anlehnung an das erwähnte Gespräch im September, er sei zwar gesundheitlich nicht in der Lage, eine ständige Tätigkeit auszuüben, wolle sich aber über die Möglichkeit einer geeigneten Arbeit beraten.[155] Am 8. Dezember bat Ulbricht Merker (mit der Anrede »Werter Genosse Paul«), ihn am 11. Dezember im ZK aufzusuchen.[156]
Ebenfalls am 8. Dezember schrieb Merker eine fünfseitige Darstellung seiner Beziehung zu Janka und Harich, maschinenschriftlich mit umfangreichen handschriftlichen Ergänzungen, offenbar auf Anforderung der Staatssicherheit. Darin die Sätze: »Der einzige Genosse, mit dem ich seit meiner Entlassung in Verbindung war, war der Genosse Walter Janka. Und gerade dieser Genosse ist, wie mir der Genosse Mielke mitteilen liess, in Verbindung mit der Angelegenheit Wolfgang Harich verhaftet worden.«[157] Merker beschrieb hier Jankas Werdegang, lobte ihn als »einen der Partei, der Sowjetunion und dem Sozialismus unbedingt ergebenen Genossen« und schilderte dann die Zusammenkunft mit Harich in Jankas Haus am 21. November, allerdings ohne die dort gemachten Vorschläge zur Veränderung der Parteiführung zu erwähnen.
Am 17. Dezember beauftragte Ulbricht einen Mitarbeiter des ZK, Vorschläge für eine Tätigkeit Merkers zu machen, und nannte selbst Lektionen zur Gewerkschaftsgeschichte an der Gewerkschafts-Hochschule sowie eine Lektorentätigkeit als Möglichkeiten.[158] Natürlich war Ulbricht zu diesem Zeitpunkt durch Mielke über das Treffen vom 21. November im Haus Jankas und die dort besprochenen Dinge informiert,[159] und es liegt nahe, sowohl das Treffen mit Merker am 11. Dezember (auf dem es nach einer späteren Auskunft Merkers an Kießling um eben diese Arbeit Merkers gegangen war)[160] als auch diesen Auftrag an den Parteiapparat als intrigantes Spiel zu sehen, in dem eine Entscheidung Ulbrichts längst gefallen war. Sofort nachdem Ulbricht Vorschläge für eine mögliche Tätigkeit Merkers vorgelegt wurden, entschied er, dass wegen dessen Verwicklung in die »Angelegenheit Harich« nur eine Lektorentätigkeit in einem belletristischen Verlag infrage käme. Merker resignierte und war einverstanden.[161]
Am 19. Dezember berichtete der Spiegel über Pläne Harichs und seiner Freunde, Ulbricht durch Merker als »deutschen Gomułka« abzulösen.[162] Damit wurde öffentlich ausgesprochen, was Ulbricht wirklich fürchtete – eine Absetzung durch die Mitglieder der Parteiführung, auch wenn Merker aus verschiedenen Gründen als »deutscher Gomułka« völlig ungeeignet war. Das dürfte ein weiterer Grund für die Demütigung Merkers in den Folgemonaten durch die Vorführung als Belastungszeuge in den Prozessen gegen Harich und Janka gewesen sein.
Merker unterließ in den folgenden Jahren bis zu seinem Tod weitere Bemühungen um eine öffentliche Rehabilitierung. Er arbeitete als Lektor, Herausgeber und Übersetzer für Belletristik in den Sprachen Englisch, Französisch und Spanisch für den Verlag »Volk und Welt«. Außerdem übernahm er zahlreiche ehrenamtliche Aufgaben auf lokaler Ebene, wie z. B. als Kreisvorsitzender der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft. Als Parteiveteran hielt er Vorträge und Jubiläumsreden.[163]
Eine der Forderungen Merkers im schon erwähnten Brief vom 23. August 1956 war eine für die »Öffentlichkeit sichtbare Handlung der Parteiführung oder der Regierung, die zeigt, dass meine vollständige Rehabilitierung erfolgt ist«. Tatsächlich erfüllte Ulbricht diese Bitte in den 1960er-Jahren: Auf den Festveranstaltungen zum 45. wie zum 50. Jahrestag der Gründung der KPD durfte Merker mit der Parteiführung und weiteren Parteiveteranen im Präsidium Platz nehmen, 1968 sogar in der ersten Reihe,[164] und wurde mit Orden ausgezeichnet.[165] Ein Grund dafür war möglicherweise, dass Merker nach den beschriebenen Ereignissen von 1956 aus nichtigen Anlässen Briefe voller Schmeicheleien und Ergebenheitsbeteuerungen an Ulbricht geschickt hatte, eine Art Unterwerfungsritual, das Ulbricht aufmerksam zur Kenntnis nahm.[166] Umfangreich waren die von Merker nach 1957 geschriebenen Erinnerungen – aber auch hier hielt er sich an die Vorgaben und Sprachregelungen der Parteigeschichtsschreibung in der Ulbrichtzeit.[167]
In den Jahren 1956 und 1957 hatte Merker jeden Kontakt zu Dahlem vermieden, auch um Vorwürfen, sich »fraktionell« zu betätigen, auszuweichen.[168] In den 1960er-Jahren gab es jedoch wieder Kontakt zwischen den beiden, sowohl schriftlich in Form von Briefen als auch persönlich. Wegen seiner Memoiren hatte Dahlem den Kontakt zu den Mitgliedern der damals in Paris ansässigen KPD-Führung wieder aufgenommen. Ob Merker, der über exklusive Kenntnisse in Bezug auf das Pariser Sekretariat, insbesondere aus der Zeit der Abwesenheit Dahlems verfügte, diesem behilflich war, ist nicht belegt.
Dahlems Verfolgungsgeschichte verlief milder. Er war nicht in Haft und wurde 1957 wieder ZK-Mitglied. Zu seinem 80. Geburtstag 1972 verkündete die SED-Führung sogar öffentlich, er sei das Opfer falscher Anklagen gewesen, auch wenn der tiefere Grund dieses Eingeständnisses der Wunsch Honeckers war, seinen früheren Mentor Ulbricht zu demütigen. Dahlem hatte, im Gegensatz zu Merker, zu keiner Zeit aufgegeben, seine öffentliche Rehabilitierung einzufordern. Mehr noch, er forderte seit 1956 die öffentliche Rehabilitierung aller wegen Field Gemaßregelten, darunter ausdrücklich Merker. Hinzu kommt, dass Dahlem seine eigene Rolle bei der Verfolgung Merkers 1950 selbstkritisch hinterfragte.[169]
Merker starb 1969, und selbst der verstorbene Merker schien Ulbricht noch beschäftigt zu haben: Die Staatssicherheit überwachte die Trauerfeier am 19. Mai 1969 in einem Vorgang »Krematorium« und fertigte hunderte Fotos der Teilnehmer an.[170]
[1] Beispielhaft seien genannt Jeffrey Herf: Antisemitismus in der SED. Geheime Dokumente zum Fall Paul Merker aus SED- und MfS-Archiven, in Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (im Folgenden: VfZ) 42 (1994), H. 4, S. 635–667; Wolfgang Kießling: Partner im Narrenparadies. Der Freundeskreis um Noel Field und Paul Merker, Berlin 1994; Joachim Ackermann: Parteisäuberungen. Die Fälle Paul Merker und Franz Dahlem (= Arbeitspapiere des Forschungsverbundes SED-Staat Nr. 22), Berlin 1996; Gerd Koenen: Die DDR und die »Judenfrage«. Paul Merker und der nicht stattgefundene »deutsche Slánský-Prozeß« 1953, in: Leonid Luks (Hg.): Der Spätstalinismus und die »jüdische Frage«, Köln 1998, S. 237–270; Hermann Weber: Schauprozess-Vorbereitungen in der DDR, in: Hermann Weber/Ulrich Mählert (Hg.): Terror. Stalinistische Parteisäuberungen 1936–1953, Paderborn 2001, S. 459–486; George H. Hodos: Schauprozesse. Stalinistische Säuberungen in Osteuropa 1948–1954, Berlin 2001, hier insbesondere Kap. 10; Stefan Meining: Kommunistische Judenpolitik. Die DDR, die Juden und Israel, Münster 2002, hier das Kap. 2 zum Fall Merker; Wilfriede Otto: Erinnerung an einen gescheiterten Schauprozess in der DDR, in: Ulrich Mählert u. a. (Hg.): Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 2008, Berlin 2008, S. 114–130.
[2] Biografische Daten zu Merker wie zu anderen KPD- und SED-Funktionären finden sich z. B. in Hermann Weber/Andreas Herbst: Deutsche Kommunisten. Biographisches Handbuch 1918 bis 1945, 2. Aufl., Berlin 2008, oder Helmut Müller-Enbergs (Hg.): Wer war wer in der DDR? Ein Lexikon ostdeutscher Biographien, 5. Aufl., Berlin 2010.
[3] Franz Dahlem und Walter Ulbricht waren fast gleichaltrig mit Merker, zwei bzw. ein Jahr älter, und die Parteibiografien der drei gleichen einander in größeren Zeitabschnitten im Zeitraum 1920–1950: 1920 über die USPD in die KPD gekommen, Aufstieg ins Zentralkomitee und dessen Politbüro in der zweiten Hälfte der 1920er-Jahre (das »Thälmannsche ZK«), Mitgliedschaft im Politbüro und dessen »operativer Auslandsleitung« bzw. im Pariser Sekretariat ab 1935, ab 1946 im SED-Zentralsekretariat bzw. -Politbüro.
[4] Zur Politbüroauflösung siehe Jacques Mayer: Über die Auflösung des KPD-Politbüros im Februar 1937 – Ein Arbeitspapier, in: https://doi.org/10.18452/24154 (ges. am 2. Juni 2022).
[5] Siehe Bernd Bonwetsch: Stalin und die Vorbereitung des 3. Parteitags der SED. Ein Treffen mit der SED-Führung am 4. Mai 1950, VfZ 51 (2003), Nr. 4, S. 575–607, hier S. 606.
[6] Siehe Beschluß des Politbüros der SED vom 18.10.1949, Bundesarchiv (im Folgenden: BArch) DY 30/IV 2/2/51, Bl. 82.
[7] Zur Person Noel Fields siehe Bernd-Rainer Barth: Wer war Noel Field? Die unbekannte Schlüsselfigur der osteuropäischen Schauprozesse, in: Anette Leo (Hg.): Vielstimmiges Schweigen – neue Studien zum DDR-Antifaschismus, Berlin 2001, S. 197–221; ausführlicher siehe Bernd-Rainer Barth/Werner Schweizer (Hg.): Der Fall Noel Field – Schlüsselfigur der Schauprozesse in Osteuropa, 2 Bde., Berlin 2005/2007.
[8] Siehe den endgültigen Beschluss des SED-Politbüros »Erklärung des Zentralkomitees und der Zentralen Parteikontrollkommission der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands zu den Verbindungen ehemaliger deutscher politischer Emigranten zu dem Leiter des Unitarian-Service-Comittee Noel H. Field« vom 29. August 1950, BArch DY 30/IV 2/2/106, Bl. 145–152.
[9] Siehe »Das ZK der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands zur Verbindung von Funktionären der SED mit amerikanischen Agenten«, in: Neues Deutschland vom 1. September 1950, S. 5.
[10] Neues Deutschland vom 25. November 1952, S. 5; schon am 23. November 1952, S. 2, berichtete das Neue Deutschland, Bedrich Geminder habe am Vortag ausgesagt, dem »deutschen Trotzkisten« Merker Spionagematerial geliefert zu haben.
[11] Neues Deutschland vom 19. November 1954, S. 5.
[12] Neues Deutschland vom 25. Dezember 1954, S. 5.
[13] Siehe Herf: Antisemitismus in der SED (Anm. 1); siehe auch Rudi Beckert: Die erste und letzte Instanz – Schau- und Geheimprozesse vor dem Obersten Gericht der DDR, Goldbach 1995, S. 194–207; das Urteil aus den MfS-Akten, BArch, MfS AU 192/56, Bd. 6, Bl. 73–82, ist bei Herf, S. 643–649, abgedruckt. Das Stasi-Unterlagen-Archiv hat eine Reihe von Dokumenten zu Merker elektronisch zugänglich gemacht unter www.stasi-unterlagen-archiv.de/informationen-zur-stasi/themen/beitrag/vom-spitzenkader-zum-imperialistischen-agenten/ (ges. am 29. Mai 2022), darunter das genannte Urteil und dessen Aufhebung.
[14] »Nachdem er im Gefolge des XX. KPdSU-Parteitages aus dem Gefängnis zurückgekommen war, erzählte uns Paul Merker seine Geschichte.« Siehe Walter Janka, in: Neues Deutschland vom 22. Juni 1990, S. 10; ähnlich in Walter Janka: Spuren eines Lebens, Reinbek 1992, S. 347.
[15] Siehe Koenen: DDR und »Judenfrage« (Anm. 1), S. 260; Herf: Antisemitismus in der SED (Anm. 1), S. 637; Weber: Schauprozess-Vorbereitungen (Anm. 1), S. 483.
[16] Siehe dazu z. B. Fußnote 1; siehe auch Barth/Schweizer: Der Fall Noel Field (Anm. 7), Bd. 2, S. 381–395.
[17] So musste Anfang der 1950er-Jahre das SED-Politbüro seine Entscheidungen vor der Beschlussfassung durch die SKK (Sowjetische Kontrollkommission) in Karlshorst genehmigen lassen, siehe Jan Foitzik (Hg.): Sowjetische Interessenpolitik in Deutschland 1944–1954 – Dokumente, München 2013, S. 78 f.
[18] Bei Gennadij Bordjugow: Das ZK der KPdSU(B), die Sowjetische Militäradministration in Deutschland und die SED 1945–1951, in: Hermann Weber (Hg.): Terror – Stalinistische Parteisäuberungen 1936–1953, Paderborn u. a. 2001, S. 238–350, heißt es unter Berufung auf Aktenbestände sowjetischer Provenienz: »Die Parteisäuberung stand unter ständiger Kontrolle der SKK.« Es wird außerdem belegt, dass die ZPKK durch ihren Vorsitzenden Hermann Matern regelmäßig bei der SKK über den Fortgang der Field-Untersuchung berichtete (ebd., S. 304–308) und die SKK in aufgeführten Einzelfällen Material gegen SED-Funktionäre lieferte.
[19] BArch, DY 30/IV 2/2/51, Bl. 82.
[20] Siehe BArch, DY 30/J IV 2/3/57, Bl. 35, 56.
[21] Siehe BArch, DY 30/IV 2/2/51, Bl. 82.
[22] Siehe BArch, DY 30/70982, Bl. 265, Brief Materns vom 24. Oktober 1949 an »das Kleine Sekretariat, Gen. Ulbricht«.
[23] Ebd., Bl. 266.
[24] Siehe BArch, DY 30/J IV 2/3/63, Bl. 10 f. Dahlem ist auf dieser Sitzung abwesend. Es scheint allerdings so, als wären die Beschlüsse des Kleinen Sekretariats »Zur Bestätigung« an Pieck und Grotewohl gegangen (siehe z. B. BArch, DY 30/J IV 2/3A/116, Bl. 4 f.). Die ursprüngliche Paginierung der letztgenannten wie auch anderer Akten lässt vermuten, dass die Arbeitsakten des Sekretariats anfangs sehr viel umfangreicher waren als überliefert.
[25] Ein bekanntes Beispiel ist Jürgen Kuczynski, der nach einem Politbürobeschluss vom 6. Juni 1950 als Vorsitzender der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft zurücktreten musste, aber Vizepräsident blieb, siehe auch Neues Deutschland vom 20. Juni 1950, S. 1. Falsch ist die bisweilen anzutreffende Behauptung, der Rücktritt sei 1953 im Zusammenhang mit einer antisemitischen Kampagne erfolgt.
[26] Siehe dazu z. B. Herbert Mayer: Durchsetzt von Parteifeinden, Agenten, Verbrechern ...? – Zu den Parteisäuberungen in der KPD (1948–1952) und der Mitwirkung der SED (= Hefte zur DDR-Geschichte 29), Berlin 1995.
[27] Siehe Neues Deutschland vom 4. Januar 1953, S. 5 f.
[28] Über die Verfahrensweise in der Field-Untersuchung siehe z. B. Wolfgang Kießling: Leistner ist Mielke. Schatten einer gefälschten Biographie, Berlin 1998, S. 114–120.
[29] Siehe Bonwetsch: Stalin und der 3. Parteitag (Anm. 5), S. 606. Im Übrigen machte Stalin Vorschriften über die Größe des ZK und den Wahlmodus der Vorsitzenden und des neu eingeführten Generalsekretärs. Auch eine Säuberung der Partei, verbunden mit einem Umtausch der Mitgliedsbücher, wurde für Januar 1951 durch Pieck angekündigt.
[30] Siehe BArch, DY 30/IV 2/2/95, Bl. 54–56, 79; Merkers Artikel zur Bauernfrage erschien im Neuen Deutschland vom 15. Juli 1950, S. 5 f.; BArch, NY 4036/652, Bl. 296, 299–301, 383 f., die Pieck-Aufzeichnungen sind undatiert.
[31] Siehe BArch, DY 30/J IV 2/3/125, Bl. 3.; BArch, DY 30/IV 2/2/98, Bl. 9.
[32] BArch, DY 30/40015, Bl. A–E, enthält die Rednerliste des Parteitags ohne Merker – ob er überhaupt auf dem Parteitag war, ist unklar. Bei Janka: Spuren eines Lebens (Anm. 14), S. 332 f., steht ohne Beleg, dass Merker auf dem Parteitag war und erst dort erfuhr, dass er nicht im Präsidium Platz nehmen dürfe.
[33] Siehe BArch, DY 30/IV 2/2/100, Bl. 2 f., 18 f. – gedruckte Liste der vom Parteitag ins ZK zu wählenden Personen, wie sie dem Politbüro-Protokoll vom 23.7.1950 beiliegt, dort beschlossen und an die Parteitagsdelegierten für die Wahl ausgegeben wurde. Im Pieck-Nachlass findet sich eine Notiz Ulbrichts für Pieck und Grotewohl, die zeigt, wie es sich tatsächlich zutrug: Die Vorschlagsliste für die ZK-Mitglieder musste vor dem Beschluss eilig zur Bestätigung an die »Freunde« gehen, um anschließend abends gedruckt werden zu können, damit sie am Folgetag für die Wahl zur Verfügung stand, BArch, NY 4036/662, Bl. 386. Die gedruckte Liste wurde also nachträglich ins Protokoll aufgenommen.
[34] BArch, DY 30/70994, Bl. 137 f.
[35] Ebd., Bl. 139.
[36] Ein Durchschlag des Begleitbriefs Materns findet sich in den ZPKK-Akten, BArch, DY 30/70982, Bl. 301, das Original im Pieck-Nachlass, BArch, NY 4036/661, Bl. 106. Unklar bleibt, warum dann einen Monat nichts geschah, jedenfalls nichts, was die Akten widerspiegeln.
[37] BArch, DY 30/70982, Bl. 69 [Unterstreichungen im Original].
[38] BArch, DY 30/70982, Bl. 9.
[39] BArch, DY 30/IV 2/2/105, Bl. 205.
[40] Ebd., Bl. 372.
[41] BArch, DY 30/IV 2/1/86, Bl. 106, 132.
[42] Siehe BArch, DY 30/70994, Bl. 53, »Betrifft: Antisowjetische Äußerungen Paul Merkers« vom 29. August 1950, handschriftlich datiert und unterschrieben mit »A. Ackermann«.
[43] Ebd.
[44] Anton Ackermann »Bericht über die Partei von der Berner Konferenz bis zum Kriegsausbruch« vom 4. Mai 1940, BArch, RY 1/I 2/3/20, Bl. 55–115; 1950 lagen diese Akten im Moskauer Parteiarchiv und waren schwer zugänglich. Hier wird Bl. 75 f. zitiert.
[45] Abgedruckt in Jan Foitzik: Die Kommunistische Partei Deutschlands und der Hitler-Stalin-Pakt – Die Erklärung des Zentralkomitees vom 25. August 1939 im Wortlaut, VfZ 37 (1989), H. 3, S. 499–514.
[46] Anton Ackermann »Bericht über die Partei von der Berner Konferenz bis zum Kriegsausbruch« vom 4. Mai 1940, BArch, RY 1/I 2/3/20, Bl. 55–115, hier Bl. 75 f.
[47] Siehe Erwiderung Merkers vom 28. August 1950 auf die Vorwürfe betr. seiner Äußerungen zum Nichtangriffspakt, BArch, DY 30/70994, Bl. 140–143.
[48] Siehe dazu auch Kießling: Narrenparadies (Anm. 1), S. 9–20.
[49] Befragung Ackermanns durch die ZPKK am 9.4.1953, BArch, DY 30/100362, unpag., 9 Seiten, hier S. 3. Außerdem wiederholte Ackermann seine Beschuldigungen auf dem ZK-Plenum im Mai 1953, BArch, DY 30/IV 2/1/115, Bl. 258–270.
[50] Die MfS-Akten enthalten einen Entwurf der Ackermann-Erklärung für die ZPKK mit handschriftlichen Korrekturen, die nicht von Ackermann stammen und das Papier in seine endgültige Fassung brachten, BArch, MfS AU 192/56, Bd. 3, Bl. 45 f. Kießling hält Ackermann für einen langjährigen Informanten der sowjetischen Staatssicherheit, siehe Kießling: Leistner ist Mielke (Anm. 28), S. 25.
[51] BArch, DY 30/40017, Bl. 407; abgedruckt im Neuen Deutschland vom 24. Juli 1950, S. 7. Der Name des Berliner Polizeipräsidenten von 1929 Karl Zörgiebel wurde stellvertretend für die SPD-Funktionäre gebraucht; »kleine Zörgiebel« nannte man kleine SPD-Funktionäre, die in der Theorie des »Sozialfaschismus« Gegner waren. Die Sicht der SED-Geschichtsschreibung findet sich in: Institut für Marxismus-Leninismus (Hg.): Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung in acht Bänden, Bd. 4, Berlin 1966, S. 239 f. 1965 wurde Merker übrigens eingeladen, das Manuskript des Achtbänders zu kommentieren. Er verwies in einem Brief vom 30. Juni 1965 an das Institut für Marxismus-Leninismus (im Folgenden: IML) u. a. darauf, dass er den Begriff der »kleinen Zörgiebel« nie gebraucht, geschweige denn erfunden habe, BArch, NY 4102/46, Bl. 165 f. Siehe dazu auch Meining: Judenpolitik (Anm. 1), S. 20–23; oder Bert Hoppe: In Stalins Gefolgschaft – Moskau und die KPD 1928–1933, München 2007, S. 158–163, wo vom Wohlwollen der Komintern-Führung zu Merkers Haltung berichtet wird.
[52] Das Reinschriften-Protokoll, BArch, DY 30/IV 2/2/106, Bl. 95–97, Bl. 145–152, enthält die endgültige Field-Erklärung mit dem Titel »Erklärung des Zentralkomitees und der Zentralen Parteikontrollkommission der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands zu den Verbindungen ehemaliger deutscher politischer Emigranten zu dem Leiter des Unitarian Service-Commitee Noel H. Field«.
[53] Neues Deutschland vom 1. September 1950, S. 5.
[54] Siehe BArch, DY 30/J IV 2/3/133, Bl. 1.
[55] Siehe Kießling: Leistner ist Mielke (Anm. 28), S. 142–145.
[56]Ebd., S. 143. Kießling behauptet ohne Beleg, dies sei Piecks Intervention zu verdanken. Vielleicht war es auch einfacher und die durch das sowjetisch dominierte MfS vorgenommenen Verhaftungen waren möglicherweise schon vor den Textänderungen im Field-Dokument mit sowjetischen Stellen vereinbart gewesen.
[57] Dieser Protest war vielleicht nicht einmal von außen organisiert, sondern entsprang dem »gesunden Volksempfinden« kleiner Parteifunktionäre. Eine von Ulbricht geforderte Überprüfung ergab, dass Matern die Entfernung Merkers aufgrund der Beschwerden von Schülern einer Verwaltungsakademie angeordnet hatte, BArch, DY 30/IV 2/11/v. 801, Bl. 100, 110.
[58] Brief Merker an Pieck: BArch, DY 30/IV 2/11/v. 801, Bl. 96–98, 110; Brief Pieck an Merker: BArch, NY 4102/2, Bl. 9.
[59] Siehe Einlieferungsanzeige in die Haftanstalt des MfS, BArch, MfS AU 192/56, Bd. 4, Bl. 9; ein Haftbefehl wurde am 1. Dezember ausgestellt und am 2. Dezember verkündet, ebd., Bl. 6 f.
[60] Neues Deutschland vom 25. November 1952, S. 5; schon am 23. November, S. 2, berichtete das Neue Deutschland, Geminder habe am Vortag ausgesagt, dem »deutschen Trotzkisten« Merker Spionagematerial geliefert zu haben.
[61] BArch, DY 30/IV 2/2/249, Bl. 8, Politbürositzung vom 25. November 1952 – der Beschlusstext beruft sich auf »Rundfunkmitteilungen über den Prozeß«. Im Arbeitsprotokoll wird übrigens Mielke, nicht Zaisser, als Adressat des Beschlussauszugs genannt, ebenda, Bl. 3.
[62] Die Zeit der Untersuchungshaft ist bei Kießling unter Verwendung der MfS-Akten ausführlich beschrieben. Kießling: Narrenparadies (Anm. 1), S. 159–188, siehe dazu auch Meining: Judenpolitik (Anm. 1), S. 167–173.
[63] BArch, MfS AU 192/56, Bd. 1, Bl. 2 f.
[64] BArch, MfS AU 192/56, Bd. 4, Bl. 294–298, Bl. 230 f.
[65] Siehe BArch, MfS AU 192/56, Bd. 3, Bl. 263–406; bei Kießling: Narrenparadies (Anm. 1), S. 276–338, findet sich eine ausführliche Darstellung der Berichte dieses Kammeragenten.
[66] Im Gespräch mit Kießling berichtete Merker 1966, in den Vernehmungen sei gesagt worden »Vielleicht sei er aber doch Jude und wisse es nur nicht […]. Eine jüdische Großmutter werde sich doch wohl finden lassen.« Kießling: Narrenparadies (Anm. 1), S. 323 f. Die Frage scheint auch die SED-Führung beschäftigt zu haben, denn das MfS notierte am 8. Dezember 1952, Genosse Matern bezweifele, dass Merker Jude sei, BArch, MfS AS 251/56, Bd. 16A, Bl. 213.
[67] Die Dresdener Gestapo schrieb am 3. Juni 1937 an die Gestapo-Zentrale in Berlin als Antwort auf ein Auskunftsersuchen aus Berlin zu Merker im Rahmen eines Ausbürgerungsverfahrens »M[erker] ist Reichsdeutscher, arischer Abstammung und glaubenslos. Früher war er ev[angelisch]-luth[erischer] Konfession. Seine Eltern und Großeltern entstammen einem alten Bauerngeschlecht und waren ev[angelisch]-luth[erischer] Konfession.« Ausbürgerungsakte Merkers für die Ausbürgerungsliste vom 9. Dezember 1937, Politisches Archiv des Auswärtigen Amts (PAAA) RZ 214/99677, Bl. 322–334, hier Bl. 326. Ich danke Andreas Herbst für diese Information. Siehe dazu auch Meining: Judenpolitik (Anm. 1), S. 24 sowie die Anmerkung 56 auf S. 39.
[68] Beschlossen im Politbüro am 20. Dezember 1952, BArch, DY 30/IV 2/2/254, Bl. 5–20; am 2. Januar 1953 mit der Auflage geändert, »das Dokument so umzustellen, daß das Material über Merker hintereinander kommt und anschließend daran das Material über Müller, Sperling und die Pariser Auslandsleitung der KPD«, BArch, DY 30/J IV 2/2/255, Bl. 4. Veröffentlicht wurde das Dokument im Neuen Deutschland vom 4. Januar 1953, S. 5 f.
[69] Merker wurde darin z. B. vorgeworfen, ein Subjekt der USA-Finanzoligarchie zu sein, die Verschiebung von deutschem Volksvermögen zu fordern, den Kosmopolitismus und die Ausplünderung Deutschlands durch die imperialistischen Mächte zu propagieren – alles begründet mit Handlungen Merkers in Mexiko, wie sie der ZPKK aus zahlreichen Aussagen der ehemaligen mexikanischen Emigranten bekannt waren. Ein tiefer liegender Grund für solche Aussagen waren unterschiedliche Auffassungen im SED-Apparat über eine mögliche Entschädigung »arisierten« Vermögens in den Jahren bis 1950. Siehe hierzu Meining: Judenpolitik (Anm. 1), S. 76–130.
[70] Siehe BArch, MfS AU 192/56, Bd. 1, 2, 4.
[71] Siehe BArch, MfS AU 192/56, Bd. 1, Bl. 3.
[72] BArch, MfS AU 192/56, Bd. 2, Bl. 134–136. Im Text steht durchgehend »Fild« für Field.
[73] BArch, DY 30/J IV 2/2A/369, Bl. 164–184.
[74] Wie die Geheimhaltung im zeitnah stattfindenden Prozess gegen Max Fechner organisiert wurde, ist beschrieben in Rudi Beckert: Lieber Genosse Max – Aufstieg und Fall des ersten Justizministers der DDR Max Fechner, Berlin 2003, S. 275.
[75] Einschätzungen des Urteils mit einem Exkurs über die Rechtsgrundlagen finden sich bei Beckert: Instanz (Anm. 13), S. 22–31, 194–207; siehe auch Meining: Judenpolitik (Anm. 1), S. 167–173.
[76] BArch, MfS HA IX Nr. 21711, Bl. 51–80. Ein der Akte beigefügter Vermerk von 1988, ebd., Bl. 18 f., teilt mit, das sei der Band 26 des Vorgangs, der Verbleib der fehlenden Bände könne nicht festgestellt werden.
[77] Kießling nennt als Motive Ulbrichts ohne Beleg die Furcht vor dem Rivalen Merker (wenig plausibel) und Rachsucht, siehe Wolfgang Kießling: In den Mühlen der großen Politik. Heinrich Mann, Paul Merker und die SED (= Hefte zur DDR-Geschichte 36), Berlin 1996, S. 14; siehe auch Kießling: Narrenparadies (Anm. 1), S. 337. Wenig wahrscheinlich ist ein Wunsch der Besatzungsmacht nach einer Verurteilung – dem wäre man schneller nachgekommen.
[78] Einige der an den Moskauer Verhältnissen geschulten höheren Funktionäre, wie etwa Ulbricht und Pieck, dürften schon vor der Freilassung und Rehabilitierung Fields zumindest geahnt haben, dass das ganze Konstrukt der politischen Prozesse in den sogenannten Volksdemokratien und die nachfolgenden Repressionen auf einem aufgeblasenen Schwindel beruhten. Überliefert ist die durch Hanna Wolf mitgeteilte Äußerung Wilhelm Zaissers zum Slánský-Prozess: »Ich kenne Slansky und glaube das alles nicht, aber wenn Gottwald das braucht, bin ich damit einverstanden.« Zit. nach Heike Amos: Politik und Organisation der SED-Zentrale 1949–1963, Münster 2003, S. 194. Nach der Freilassung Fields Ende 1954 können nur noch sehr dumme Funktionäre den offiziellen Begründungen für die Säuberungen der Jahre zuvor geglaubt haben.
[79] Verhaftet im Februar 1951, freigelassen im September 1953, siehe dazu Michael F. Scholz: Skandinavische Erfahrungen erwünscht?, Stuttgart 2000, S. 128 f., 169, 171 f.
[80] Verhaftet im Februar 1951, freigelassen im April 1954, siehe dazu Jörg Berlin: Willi Prinz (1909–1973) – Ein Vorsitzender der Hamburger KPD als Opfer des Stalinismus, Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte (ZHG) 96 (2010), S. 101–140.
[81] Noch im März 1956 billigte die MfS-Spitze eine Feststellung Mielkes, dass bei den Verfahren im Zusammenhang mit Field und Slánský »keine Festnahmen durchgeführt wurden[,] wo keine konkreten Beweismittel vorlagen«, so im Protokoll einer Sitzung des MfS-Kollegiums vom 19. März 1956, BArch, MfS SdM 2801, Bl. 1 f.
[82] Auch bei den Parteistrafen, die 1950 öffentlich gemacht wurden, verfuhr die Parteiführung ganz unterschiedlich, ohne dass Gründe dafür erkennbar sind. Schon am 9. November 1954, also kurz vor der Freilassung Fields, hob das SED-Politbüro das Funktionsverbot für Walter Beling und Wolfgang Langhoff sowie den Parteiausschluss von Maria Weiterer auf, BArch, DY 30/J IV 2/2/388, Bl. 8. Die Aufhebung des Funktionsverbots für Bruno Fuhrmann und Hans Teubner lehnte das Politbüro ab, siehe die zugehörige Arbeitsakte BArch, DY 30/DY 30/J IV 2/2A/383, Bl. 155–157. Matern merkte in diesem Zusammenhang an, wenn man aus den Parteibeschlüssen »die mit Noel H. Field im Zusammenhang stehenden Fragen« herausnehmen würde, dann bliebe »nichts wesentliches übrig«. Offenbar wusste die Parteiführung vor der Freilassung Fields am 16. November 1954 von dem Ereignis.
[83] Siehe Beckert: Instanz (Anm. 13), S. 183, 186 f.
[84] BArch, MfS AU 541/53, Bd. 1, Bl. 3.
[85] BArch, DP 1/22180, Bl. 469–473.
[86] Im Protokoll der ersten Sitzung dieser Justizkommission vom 10. Juli 1954, aus den Akten des Büros der Justizministerin Benjamin, BArch, DP 1/21125, nicht paginiert, ist zu Beginn lesen: »Die Kommission hat die Aufgabe, das Politbüro bei der Durchführung von wichtigen Prozessen zu beraten.«
[87] Vorlage der ZK-Abteilung Staatliche Verwaltung für das Politbüro, BArch, DY 30/J IV 2/2A/369, Bl. 162 f., Arbeitsprotokoll der Politbürositzung vom 17. August 1954.
[88] Ebd., im Anhang der Vorlage war der oben genannte Schlussbericht des MfS.
[89] Ebd., Bl. 5; Ulbricht und Pieck waren urlaubsbedingt abwesend, Grotewohl und Matern anwesend.
[90] Siehe BArch, DY 30/IV 2/4/117, Bl. 280–284; die Notizen sind vom 6. September 1954.
[91] Reaktionen darauf von Staatssicherheit oder Parteiführung scheinen nicht überliefert zu sein.
[92] BArch, DVW 1/39545, Bl. 1–4, Sitzung der Sicherheitskommission des ZK der SED am 4. März 1955 mit den Teilnehmern Ulbricht, Grotewohl, Matern, Schirdewan, Stoph, Wollweber und Röbelen. Es ist nur der Beschluss überliefert, der Vortrag Wollwebers ist auch in den MfS-Unterlagen nicht auffindbar.
[93] BArch, DY 30/J IV 2/2A/415, Bl. 3, 7; Arbeitsprotokoll der Politbürositzung vom 22. März 1955 mit Notizen des Protokollführers Otto Schön über Ulbrichts Bericht.
[94] Siehe hierzu den Nachlass von Paul und Margarete Merker, BArch, NY 4102/62, NY 4102/64. Die Ausschlussgründe finden sich im ZPKK-Beschluss für die Wiederaufnahme in die SED vom 14. Mai 1956, BArch, DY 30/3377, Bl. 77. »Ihr Mann, Paul Merker, wurde in Haft genommen und sie sollte zugeben, dass er ein imperialistischer Agent ist. Das lehnte sie ab und deshalb erfolgte der Ausschluss.«
[95] Ein Teil dieser Briefe liegt als Durchschlag im Nachlass Merker, BArch, NY 4102/64, andere sind in Archivbeständen der Empfänger. Häufig wurden die Briefe weitergeschickt, etwa an Ulbricht oder die Staatssicherheit.
[96] Die Briefe Merkers aus Brandenburg an seine Frau sind im Nachlass erhalten, BArch, NY 4102/27, Bl. 16–26. Der nach dem Inhalt als erster erkennbare Brief ist auf Bl. 17, auf seiner Rückseite ist das Datum des Poststempels »2.5.55« zu erkennen. Die Briefe selbst sind undatiert, vermutlich eine Forderung der Haftanstalt.
[97] Siehe BArch, MfS AU 192/56, Bd. 3, Bl. 124.
[98] BArch, DA 4/1319, Bl. 411–418; BArch, MfS AU 192/56, Bd. 6, Bl. 103–108.
[99] BArch, MfS AU 192/56, Bd. 3, Bl. 127 f.
[100] BArch, DA 4/1319, Bl. 410.
[101] Ebd., Bl. 406–409.
[102] Artikel 107 der Verfassung der DDR: »Der Präsident übt für die Republik das Begnadigungsrecht aus, wobei er von einem Ausschuß der Volkskammer beraten wird.«
[103] BArch, DP 1/22180, Bl. 475.
[104] Obwohl das »Untersuchungsorgan« die Staatssicherheit war, seit dem 24. November 1955 wieder ein eigenes Ministerium, und nicht mehr dem Innenministerium unterstand. Die einzige überlieferte Reaktion des MfS ist eine handschriftliche Notiz Mielkes vom 30. November auf dem oben genannten Bericht zum Besuch Margarete Merkers in der Haftanstalt, es sei »sofort [ein] Auszug über Straftaten u[nd] Urteil [zu] fertigen«.
[105] BArch, DA 4/1319, Bl. 403 f.
[106] Siehe BArch, MfS AU 192/56, Bd. 6, Bl. 123–125.
[107] BArch, DA 4/1319, Bl. 398, 401 f.
[108] BArch, DP 1/22180, Bl. 476.
[109] Siehe BArch, DA 4/1319, Bl. 390 f., 394 f.
[110] Siehe BArch, MfS AU 192/56, Bd. 6, Bl. 115.
[111] BArch, DY 30/IV 2/11/v. 801, Bl. 309–311, BArch, NY 4102/64, Bl. 25, 32; BArch, NY 4102/2, Bl. 236.
[112] Die Informationen aus BArch, MfS, AS 79/59, Bd. 1a, Bl. 59 f., 99–103, in der elektronischen Variante von Henrik Bispinck (Hg.): Die DDR im Blick der Stasi 1956 – die geheimen Berichte an die SED-Führung, Göttingen 2016, www.ddr-im-blick.de/jahrgaenge/jahrgang-1956/report/westliche-rundfunk-und-presseberichte-zum-xx-parteitag-der-kpdsu-2 und www.ddr-im-blick.de/jahrgaenge/jahrgang-1956/report/westliche-rundfunk-und-presseberichte-zum-xx-parteitag-der-kpdsu-3 (ges. am 20. September 2022).
[113] Im Herbst 1956 war Merker zudem in die Harich-Janka-Affäre verwickelt und ihm mit Verweis darauf eine politische Rehabilitierung verweigert worden.
[114] Brief vom 14. April 1956, mit dem Eingangsstempel der Präsidialkanzlei vom 19. April, BArch, DY 30/IV 2/11/v. 801, Bl. 309–311; veröffentlicht in Herf: Antisemitismus in der SED (Anm. 1), S. 650–652.
[115] Die Nennung Lavrentij Berijas als Schuldiger an allen Untaten der Stalinzeit entsprach dem Sprachgebrauch der Parteiführung und war in der DDR besonders lange üblich. Erfunden hatte das Chruščëv 1953 nach der Beseitigung des politischen Konkurrenten Berija, einmal weil man Stalin als Urheber der Verbrechen zu diesem Zeitpunkt noch nicht nennen wollte, zum anderen zur eigenen Entlastung, denn die weiteren Mitglieder der Parteiführung unter Stalin waren mindestens genauso belastet wie der Sündenbock Berija. Mit den Schauprozessen in den Volksdemokratien hatte Berija nichts zu tun, den Posten als Innenminister hatte er im Dezember 1945 abgegeben, um sich seiner wichtigeren Aufgabe als Verantwortlicher für die sowjetische Atomrüstung zu widmen (abgesehen davon, dass die Staatssicherheit zu dieser Zeit nicht mehr zum Innenministerium gehörte).
[116] Karl Schirdewan: Ein Jahrhundert Leben – Erinnerungen und Visionen. Autobiographie, Berlin 1998, S. 256
[117] Die Protokolle der Sitzungen und Teile des Schriftverkehrs sind im Büro Ulbricht erhalten, BArch, DY 30/3376 und DY 30/3377; auch veröffentlicht in: Zur Entlassung werden vorgeschlagen. Wirken und Arbeitsergebnisse der Kommission des Zentralkomitees zur Überprüfung von Angelegenheiten von Parteimitgliedern 1956. Dokumente, Berlin 1991.
[118] Siehe BArch, DY 30/J IV 2/2/465, Bl. 2.
[119] Siehe BArch, DY 30/IV 2/1/156, Bl. 42.
[120] Siehe Abschlußbericht der Kommission vom 12.7.1956, BArch, DY 30/3376, Bl. 108–115.
[121] Schirdewan: Ein Jahrhundert Leben (Anm. 116), S. 261.
[122] BArch, DY 30/3376, Bl. 1–4; die Begnadigung Goldhammers wurde da schon festgelegt, Bl. 2.
[123] Ebd., Bl. 7.
[124] Siehe BArch, NY 4102/27, Bl. 30. Es ist nicht ganz klar, wann die Aussprache stattfand und ob es weitere gab – in Merkers Briefen finden sich verschiedene Daten.
[125] BArch, DY 30/IV 2/11/v. 801, Bl. 230–267, Brief vom 1. Juni 1956. Teile sind bei Herf: Antisemitismus in der SED (Anm. 1), S. 652–667, veröffentlicht. Der gesamte Brief ist publiziert in Wolfgang Kießling: Paul Merker in den Fängen der Sicherheitsorgane Stalins und Ulbrichts (= Hefte zur DDR-Geschichte 25), Berlin 1995, S. 27–68.
[126] Siehe BArch, NY 4102/27, Bl. 69.
[127] Siehe BArch, DY 30/3376, Bl. 25 f., 37, 40.
[128] Neues Deutschland vom 31. Juli 1956, S. 1.
[129] BArch, DY 30/3376, Bl. 65 f.
[130] Ebd., Bl. 89.
[131] Schirdewan: Ein Jahrhundert Leben (Anm. 116), S. 260.
[132] Neues Deutschland vom 31. Juli 1956, S. 1.
[133] BArch, DY 30/3376, Bl. 104.
[134] Eigentlich handelt es sich um zwei Beschlüsse des ZK der SED, »Lehren aus dem Prozeß gegen das Verschwörerzentrum Slansky« vom 20. Dezember 1952, veröffentlicht im Januar 1953, und »Über die Auswertung des Beschlusses des ZK der SED ›Lehren aus dem Prozeß gegen das Verschwörerzentrum Slansky‹« vom 14. Mai 1953.
[135] Noch 1975 forderte Dahlem von Honecker die Aufhebung des Slánský-Beschlusses. Honecker ließ dies im Politbüro beraten, um Dahlem dann fälschlicherweise mitzuteilen, dieser Beschluss existiere nicht mehr, wie aus den 1956 gefassten Beschlüssen hervorginge, BArch, DY 30/9990, Bl. 92 f., 99–107.
[136] BArch, NY 4102/27, Bl. 84.
[137] Ebd., Bl. 91.
[138] BArch, DY 30/IV 2/11/v. 801, Bl. 268–272.
[139] Die Vorstellung, Ulbricht sei der ostdeutsche Rákosi, war sicher nicht sachgerecht, saß aber wohl in manchem Funktionärskopf, etwa wenn Schirdewan im Herbst 1956 in einer Auseinandersetzung der Parteiführung sagte: »Ich will nicht, daß Walter Ulbricht den Weg von Rakosi geht.« Karl Schirdewan: Aufstand gegen Ulbricht, Berlin 1995, S. 109.
[140] BArch, NY 4102/27, Bl. 92, Brief vom 7. September 1956.
[141] Ebd.
[142] Ein paar Tage später druckte das Neue Deutschland am 20. September 1956, S. 5, auszugsweise einen Brief Fields an die ungarische Parteizeitung Szabad Nep ab, eingeleitet vom Hinweis auf dessen falsche Beschuldigung und Rehabilitierung; vollständig ist der Brief in Barth/Schweizer: Der Fall Noel Field, Bd. 2, S. 259–261, abgedruckt.
[143] Die Verschwörungstheorie um Field war eine Erfindung Rákosis, siehe dazu ebd., S. 365–381.
[144] Siehe Hans Teubner: Exilland Schweiz 1933–1945, Berlin 1975, S. 158, 201 f.
[145] Siehe Aktennotiz in der Kaderakte Merkers, BArch, DY 30/IV 2/11/v. 801, Bl. 222.
[146] Ebd., Bl. 221.
[147] BArch, DY 30/IV 2/1/167, Bl. 116 f. Auf einer Politbürositzung am 10. November 1956 war Matern beauftragt worden, einen neuen Beschlussentwurf, die Rehabilitierung Merkers betreffend, für das Plenum vorzubereiten, BArch, DY 30/J IV 2/2/512, S. 5.
[148] BArch, DY 30/J IV 2/2/520, Bl. 4.
[149] BArch, DY 30/IV 2/11/v. 801, Bl. 197.
[150] Ebd., Bl. 196.
[151] Das ist darum überraschend, weil sich nach 1989 neben Harich und Janka selbst, zuletzt in heftigem Streit liegend, weitere Zeitzeugen zu Wort gemeldet haben sowie in gewisser Weise, post mortem, über seinen Biografen und Vertrauten Wolfgang Kießling, auch Merker. Zusätzlich liegen, soweit sie erhalten sind, SED- und MfS-Akten offen, und zahlreiche Forscher haben sich mit dem Thema beschäftigt. Allein die Ermittlungsakte des MfS zu Janka umfasst 88 Bände, BArch, MfS AU 89/57.
[152] Siehe z. B. Kießling: Narrenparadies (Anm. 1), S. 214–216.
[153] Neues Deutschland vom 1. Dezember 1956, S. 1, mit dem Titel »Staatsfeindliche Gruppe unschädlich gemacht«.
[154] Brigitte Hoeft (Hg.): Der Prozeß gegen Walter Janka und andere – Eine Dokumentation, Berlin 1990, S. 15 f.
[155] BArch, NY 4102/27, Bl. 95.
[156] Ebd., Bl. 96; der Umschlag mit zwei (!) Wachssiegeln des überbrachten Briefes ist erhalten, Bl. 94.
[157] BArch, NY 4102/27, Bl. 102–105, vermutlich der Entwurf einer dann abgeschickten Erklärung.
[158] Siehe BArch, DY 30/IV 2/11/v. 801, Bl. 226.
[159] Eine Information des MfS über den Stand des Ermittlungsverfahrens gegen Harich, Janka und andere mit dem Datum 17. Dezember 1956 liegt im Bestand des Büros Ulbricht, BArch, DY 30/3372, Bl. 21–55. Hier wurde ausführlich über die Beteiligung Merkers an der Diskussion über die Vorschläge zur Veränderung der Parteiführung bei der Zusammenkunft am 21. November berichtet.
[160] Siehe Kießling: Narrenparadies (Anm. 1), S. 215.
[161] BArch, DY 30/IV 2/11/v. 801, Bl. 227–229; in der Hausmitteilung Ulbrichts vom 22. Januar 1956 stand ursprünglich »Da Genosse Merker in die Angelegenheit Harich verwickelt worden ist […]«. Das »worden ist« wurde durchgestrichen und handschriftlich durch Ulbricht in »war« korrigiert.
[162] Der Spiegel Nr. 51 vom 19. Dezember 1956 mit dem Titel »Schlag ins Genick«, S. 13–24, hier S. 22 f.
[163] Siehe dazu den Nachlass Merkers, BArch, NY 4102/55–58.
[164] Siehe Neues Deutschland vom 4. Januar 1964, S. 1, und vom 31. Dezember 1968, S. 1, mit einem Foto des Präsidiums.
[165] Siehe Neues Deutschland vom 30. Januar 1964, S. 2 (Banner der Arbeit), und vom 21. Februar 1969, S. 3 (Vaterländischer Verdienstorden in Gold).
[166] Beispielhaft sei ein Brief vom 31. Dezember 1966 genannt, BArch, DY 30/IV 2/11/v. 801, Bl. 290 f., auf dem Ulbricht handschriftlich »Ablage Kaderabt[eilung]« vermerkte; weitere Briefe als Durchschläge befinden sich im Nachlass Merkers, BArch, NY 4102/53. Sowohl Ulbricht als auch Merker dürfte die Unaufrichtigkeit der Briefe bewusst gewesen sein. Unterschrieben hat Paul Merker auch im Namen seiner Frau, die sich möglicherweise diesem Ritual verweigerte – eine Beerdigung in der Ehrengrabanlage Pergolenweg in Friedrichsfelde an der Seite ihres Mannes (und nahe Matern und Geffke) hat sie abgelehnt.
[167] Siehe BArch, NY 4102/4–10, 51, BArch, SGY 30/938–942. Kießling schrieb, dass Merker bewusst konform zur offiziellen Parteigeschichtsschreibung berichtete, und nannte die »Memoirenfragmente, von Ausnahmen abgesehen, […] von geringem wissenschaftlichen Wert«. Dabei stützte er sich auch auf Gespräche mit Merker über dessen Erinnerungen. Kießling: Narrenparadies (Anm. 1), S. 13, 27.
[168] BArch, DY 30/IV 2/11/v. 801, Bl. 305, Protokoll einer Befragung Merkers durch das MfS.
[169] Siehe BArch, DY 30/3370, Bl. 190; BArch, DY 30/92913, Bl. 882 f.; Franz Dahlem: Nachgelassenes, Ausgelassenes, in: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung – BzG 32 (1990), H. 1, S. 17–25.
[170] BArch, MfS HA XX 1658*, Beobachtungsbericht und Fotodokumentation zur Beerdigung des Genossen Merker, Paul, Vorgang »Krematorium«. Die Trauerrede (BArch, DY 30/IV 2/11/v. 801, Bl. 284–289), in der die Jahre 1950–1956 fehlten, hielt der Vorsitzende der Zentralen Revisionskommission des ZK der SED, ZK-Mitglied Kurt Seibt. Politbüromitglieder waren nicht anwesend, aber die frühere Justizministerin Benjamin. Ein Nachruf ist in Neues Deutschland vom 14. Mai 1969, S. 2, ein Bericht von der Trauerfeier in Neues Deutschland vom 20. Mai 1969, S. 2 zu finden.