Die gemeinhin als weniger ideologisch-radikal und stärker pragmatisch oder sogar punktuell »liberal« beurteilte Phase des Spätsozialismus brachte im Falle Polens spezifische Entwicklungen mit sich, die zwar auf der Ereignisebene weiter gingen als in anderen Ländern, insbesondere mit Blick auf die Entstehung der unabhängigen Gewerkschaft Solidarność, aber weniger an den tatsächlichen Grundlagen des Staates änderten, als es den Anschein haben mochte. Denn zum einen war die maßgebliche Zäsur bezüglich des Herrschaftsstils bereits mit dem »Tauwetter« im Jahre 1956 erfolgt, und zum anderen war spätestens seitdem der zentrale Drehpunkt der gesellschaftlichen Ordnung nicht mehr der oberflächlich applizierte Marxismus, sondern ein halboffener »nationaler« Konsens zwischen Regierung und Volk über die Deutung von Geschichte und Gegenwart. Beide Seiten beriefen sich auf ihn, und zugleich wirkte er auf beiden Seiten als Hemmschwelle für allzu radikale Schritte. Die mythisch umrankte Armee war in diesem Kontext zentraler Träger nicht nur des physischen, sondern auch des ideologischen nation-building, die unbestrittene Schule der Nation. Nur sie konnte die Loyalität gegenüber der ungeliebten Sowjetunion durchsetzen, und nur sie überstand wiederholt »stabilisierende« Gewaltakte gegen die Bevölkerung ohne nennenswerten Ansehensverlust. Im Folgenden werden einige wichtige Etappen dieser weniger marxistischen als vielmehr traditionellen Variante zivil-militärischer Beziehungen bis 1990 nachgezeichnet.
I. Die Lage Volkspolens im Spätsozialismus – innere und äußere Konfliktpotenziale
Die im Rückblick als Spätphase des »realen« Sozialismus bezeichneten 20 Jahre zwischen 1970 und 1990 lassen sich sowohl mittels allgemeiner Epochenmerkmale von der vorhergehenden Phase abgrenzen – wie z. B. Generationswechsel, technischer Fortschritt, Konsumorientierung, Entspannung im Ost-West-Konflikt – als auch anhand von spezifischen Entwicklungen in den Ländern der beiden Blöcke. Für die nach 1945 geborene Generation waren die in der Nachkriegszeit prägenden Faktoren, wie die persönliche Erinnerung an den Krieg, das physische Überleben bzw. der Wiederaufbau oder die teils weitreichende politische Neuorientierung tendenziell weniger wichtig, was allerdings aufgrund von starken familiengeschichtlichen und nationalen Traditionen sowie abweichenden politischen Prägungen variieren konnte. Im polnischen Fall waren diese teils im öffentlichen und teils im privaten Bereich verankerten Faktoren besonders stark und blieben auch nach 1970 wirksam, vor allem in Gestalt sowohl des systemstabilisierenden und daher durch das Regime faktisch unbehinderten antideutschen als auch des potenziell systemgefährdenden und daher unerwünschten antisowjetischen Nationalismus.
Gegenüber der Bundesrepublik blieb der herrschende Antigermanismus noch für geraume Zeit präsent – ungeachtet des Warschauer Vertrages vom Dezember 1970 und der sich im Anschluss entwickelnden wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen sowie des KSZE-Prozesses. Dieser Antigermanismus konnte gleichermaßen zur Ablenkung von inneren Schwierigkeiten, aber auch zur sicherheitspolitischen Legitimierung der prosowjetischen Orientierung dienen.[1] Genauso wurde die DDR von polnischer Seite als (national)deutscher Staat angesehen und mit den entsprechenden negativen Projektionen bedacht, trotz der offiziell verordneten »Freundschaft«.[2] Die orthodox-marxistische und oft belehrende Haltung der SED gegenüber der »lauen« Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (Polska Zjednoczona Partia Robotnicza, PZPR) verstärkte diese Bewertung noch. Das Verhältnis zwischen Polen und der Sowjetunion war weiterhin ambivalent. Die »weißen Flecken« in der Beziehungsgeschichte beider Länder, wie die sowjetische Beteiligung am Angriff vom September 1939 und das Massaker von Katyn 1940,[3] schwelten im kollektiven Gedächtnis weiter und konnten nur durch den steten Verweis auf die (partielle) Befreiung von 1945 und die angebliche (west)deutsche Revisionsgefahr in Schach gehalten werden. Erst der Solidarność gelang es in den 1980er-Jahren, den negativen Blick auf Deutschland abzumildern und der offiziellen Geschichtssicht eine sowjetkritische Gegenerzählung gegenüberzustellen. In diesem Erinnerungskrieg spielte die Politische Hauptverwaltung der Polnischen Armee, also die Repräsentanz der Partei, eine zentrale Rolle.[4]
Beide genannten Sichtweisen waren nationalistisch geprägt. Dies beruhte auf der Funktion einer vor allem nationalen Perspektive auf Geschichte und Gegenwart als primärer gesellschaftlicher Bindekraft, der die offiziellen marxistischen Positionen bestenfalls assistierten, sofern sie nicht einfach ignoriert wurden. In der politischen Praxis wie auch in der tatsächlichen ideologischen Sicht der zivilen und militärischen Eliten war der »polnische Sozialismus« nach 1956 in erster Linie ein innen- und außenpolitisches Arrangement zur Sicherung der nationalstaatlichen Existenz, aber nur für wenige ein verinnerlichtes Dogma marxistisch-leninistischer Natur. Die historische Ironie bestand darin, dass gerade die Polnische Armee als wichtigster Wahrer und Verbreiter jener im Kern nationalen Staatsidee das kollektive Selbstbewusstsein der Polen zu schaffen half, das Akte des Ungehorsams bzw. Widerstands gegenüber der Staatsmacht erst ermöglichte. Anders als etwa in der DDR und der UdSSR konnte das polnische Regime angesichts dieses offiziösen Nationalismus von der Bevölkerung nicht ohne Weiteres Opfer zugunsten des Sozialismus fordern, sondern musste seine Schritte im Sinne dieses nationalen Narrativs begründen, während die Warschauer-Pakt-Verbündeten zugleich der ungefährlichen Wirkung »unorthodoxer« Maßnahmen versichert werden mussten. In beiden Fällen war die Armee das Gesicht des Regimes: nach außen, weil das primäre sowjetische Interesse in der strategischen Sicherheit ihres Herrschaftsraums lag, und nach innen, weil die Armee aufgrund der in Polen gepflegten positiven (und distanzlosen) Haltung zur eigenen Militärgeschichte und eines damit verbundenen Primats der Außen- und Sicherheitspolitik von allen staatlichen Institutionen – d. h. außer der katholischen Kirche – das höchste öffentliche Vertrauen genoss.
Zwar war in Polen der Herrschaftsanspruch der Kommunisten nach 1944 gewaltsam durchgesetzt worden und bestand auch nach 1956 fort. Aber die beschriebene gesellschaftliche Gemengelage machte eine mit Zwang durchgesetzte Systemsicherung zu einer ambivalenten Angelegenheit – weniger hinsichtlich eines möglichen physischen Widerstands (der insgesamt ein seltenes Phänomen blieb) als vielmehr hinsichtlich der möglichen Auswirkungen auf das Ansehen der Armee in der breiten, eher loyalen Bevölkerung. Vor diesem Hintergrund lässt sich feststellen, dass die spätsozialistische Phase in Polen letztlich von vergleichsweise wenigen Repressionen im Sinne physischer Gewaltanwendung gegen oppositionelle Kräfte geprägt war. Dass sich diese seltenen Fälle gewaltsamen staatlichen Zwangs trotzdem besonders intensiv in das kollektive (nationale) Gedächtnis eingeprägt haben,[5] rührt daher, dass sie in starkem Kontrast zu den langen Phasen relativer Ruhe standen.
Gleichwohl war es vor allem die erzwungene Mitgliedschaft des Landes im sowjetischen Lager, die für das polnische Regime eine ständige legitimatorische Herausforderung darstellte, und zwar nach Maßgabe zweier zentraler Parameter: (symbolische) nationale Eigenständigkeit und wirtschaftliche Stabilität. Solange diesen wenigstens in minimalem Umfang entsprochen wurde, hatte das Regime im Innern weitgehend Ruhe. Entgegen der Fama eines »intrinsischen« Freiheitsdrangs der Polen war der Auslöser für Proteste und eine Infragestellung der führenden Rolle der Partei fast immer ökonomischer Natur. Wäre es der PZPR wie der SED (dieser freilich mit massiver westdeutscher Hilfe) gelungen, den Lebensstandard der Bevölkerung auf einem leidlichen Niveau zu halten, wäre es vielleicht nicht zur wiederholten Mobilisierung der Arbeiterschaft gekommen. Wie unter Erich Honecker in der DDR lenkte in den frühen 1970er-Jahren die neue Wirtschafts- und Sozialpolitik unter Edward Gierek den Fokus der Bevölkerung auf das Privatleben und den Konsum, womit freilich anders als in der DDR einherging, dass die Bekenntnisse zur sozialistischen Ordnung zu bloßen Pflichtübungen verkamen. Brachen infolge wirtschaftlicher Probleme doch Konflikte aus, kam wegen der Bindungsschwäche der Ideologie oft der zweite Faktor, das Nationale, zum Tragen, indem die Rebellierenden die Bringschuld der Regierenden gegenüber der Nation thematisierten. Wie zu sehen sein wird, konnte die Armeeführung solche Situationen zwar teilweise entschärfen, geriet dadurch mitunter aber auch in erhebliche politische Schwierigkeiten.
Ein wichtiger »erinnerungsordnender« Faktor war und ist eine dichotomische Bewertung des Handelns der Armee einerseits (positiv) und der Bürgermiliz (Milicja Obywatelska, d. h. der Polizei) andererseits (negativ). Zwar war die Miliz in Polen, wie in vielen anderen Ländern unabhängig von der Gesellschaftsordnung, im öffentlichen Raum regelmäßig präsent und daher auch bei Zusammenstößen als erste und meist einzige Staatsgewalt im Einsatz. Jedoch arbeiteten Armee und Miliz in ihrer systempolitischen Sicherungsfunktion fast durchgängig zusammen, gewiss mit verteilten Rollen. Diese ließen sich weitgehend funktional erklären, wurden aber auch bewusst zum Schutz des guten Rufs der Armee eingesetzt. Hierbei ließ sich das im polnischen Selbstbild habituell verankerte »Wir-sie-Schema« (my-oni)[6] dazu instrumentalisieren, die Armee – also eine, wenn nicht die tragende Säule des PZPR-Regimes – zu einer gleichsam nur aus Not die sozialistische Ordnung (mit-)aufrechterhaltenden Institution zu stilisieren, die aber in ihrem Innern autonom und patriotisch blieb und auf der Seite des Volkes stand. In dieser Perspektive waren sowohl das Volk als auch die Armee erstens – im Unterschied zur Partei – die eigentlichen Träger der Nationsidee und zweitens historisch-politisch unschuldige Größen, die das Schicksal in die Gewalt der durch Moskau aufoktroyierten (und daher letztlich »fremden«[7]) Kommunisten gebracht hatte und die nach dem Ende des Regimes vermeintlich unbelastet in die »historische Normalität« zurückkehren würden. Diese Vorstellung krankte vor allem an zwei Punkten: Zum einen besaß die Armeeführung zwar tatsächlich ein gewisses, für kommunistische Staaten ungewöhnliches Maß innerer Autonomie, war aber geradezu lupenrein bolschewistischen Ursprungs und normativ und strukturell untrennbar mit der Parteiführung verflochten. Zum anderen war jene »historische Normalität« eine durchaus ambivalente, indem sie auf das polnische Militärregime der 1930er-Jahre rekurrierte, das infolge des deutsch-sowjetischen Angriffs von 1939 zwar eine Art kritikvermeidende Heiligung erfuhr, aber nicht einmal ansatzweise den Standards einer liberal-demokratischen Regierung entsprochen hatte. Auch der Untergrundstaat der Kriegszeit war als Delegatur der Londoner (Militär-)Exilregierung zwar national, aber kaum demokratisch geprägt gewesen.[8] Vielmehr lebte in all diesen Phasen ein seit dem 19. Jahrhundert tradiertes un- bzw. vorpolitisches Ideal primär militärischer Selbsterhaltung fort, dem die innere politische Entwicklung sozusagen sekundär angehängt war. Dies hatte Folgen sowohl für das allgemeine politische Normengerüst als auch für die Gestaltung der zivil-militärischen Beziehungen.
II. Die Polnische Armee als Schützer und Erzieher der polnischen Nation
Die Frühphase der kommunistischen Herrschaft ab 1944 war in Polen von einer extremen innen- wie außenpolitischen Feindbekämpfung gekennzeichnet. Nach außen hin war dies der Kampf gegen NS-Deutschland im Bündnis mit der Sowjetunion. Nur diese existenzielle Situation ließ die mehrheitlich antikommunistisch eingestellte Bevölkerung die prosowjetische Option als kleineres Übel akzeptieren; dabei wirkte auch die ähnliche strategische Ausrichtung der ideologisch rechts stehenden Nationaldemokraten in der Zweiten Republik fort, die eine radikal deutschfeindliche Haltung mit einem pragmatischen Ausgleich mit der Sowjetunion zu verbinden gesucht hatten.[9] In diesem Sinne setzten die polnischen Kommunisten wie ihre Genossen in den anderen Ländern der sowjetischen Einflusszone – außer in der DDR – auf ein Amalgam aus klassischem Nationalismus und einer nur formalen bzw. selektiven (marxistisch-)leninistischen Weltsicht.[10]
Dieser schwierige Kompromiss zwischen kommunistischer Führung und nationalkonservativer Bevölkerung wurde zusätzlich dadurch belastet, dass vor allem in den Jahren 1944 bis 1948 polnische und sowjetische Sondertruppen (aber auch reguläre polnische Einheiten) die noch im Untergrund aktiven antikommunistischen Widerstandsgruppen bekämpften und großenteils liquidierten. Hier kam vermutlich bereits die psychohygienische Unterscheidung zwischen »sauberer Armee« und »russisch-bolschewistischen Mordkommandos« zur Anwendung, obwohl die Armee in den ersten Jahren überwiegend von sowjetischen Offizieren und Geheimpolizisten geleitet wurde. Von nicht zu unterschätzender Bedeutung für die politische Legitimation des neuen Regimes war es in jedem Fall, dass die neue Polnische (Volks-)Armee – analog zum Staat an sich – von der im westlichen Exil befindlichen alten Armee nicht nur den Namen übernahm, sondern auch deren Renommee zu kopieren trachtete.[11] Das gelang recht gut, auch schon vor dem Umbruch von 1956, und das ist umso bemerkenswerter, als in Polen, anders als in anderen sowjetischen Satellitenstaaten, viele politische Schauprozesse und Justizmorde während der stalinistischen Phase (1948–1956) gerade die Armee betrafen.[12]
Nach 1956, also kurz nach der Gründung des Warschauer Pakts, erfolgte auf praktischer wie auf symbolischer Ebene (z. B. die Uniformen betreffend) eine Repolonisierung. Schon zuvor waren die sowjetischen Offiziere großenteils aus der Polnischen Armee verdrängt worden, was im Oktober 1956 in der Absetzung des Verteidigungsministers Marschall Konstanty Rokossowski gipfelte. Innerhalb der Armee bedeutete die Vermittlung dieser Neuorientierung – die freilich an den zentralen ideologischen und machtpolitischen Grundlagen nichts ändern sollte – eine große Herausforderung für die politischen Offiziere. Mit sowjetischer Duldung wurden die nationalen Sinnstiftungselemente stark ausgebaut. Unter anderem wurde die unter den Polen weitverbreitete antideutsche Einstellung instrumentalisiert. Da die DDR zur gleichen Zeit als politischer und militärischer Partner aufgewertet wurde, wurde offiziell zwar nur die Bundesrepublik ins Visier genommen, die Ressentiments trafen in der Praxis aber vor allem Bürger und Soldaten der DDR, da damals nur mit diesen nennenswerte Kontakte bestanden. Wichtig war dabei vor allem der erzieherische Einfluss, den die Armee auf die Bevölkerung ausübte. Unmittelbar betraf dies die Wehrpflichtigen, die in den 1950er- und 1960er-Jahren oft – besonders wenn sie vom Lande kamen – nur eine geringe Bildung besaßen. Auf sie wirkte die Armee teils wie in den 1930er-Jahren als eine allgemeinbildende Institution in Ergänzung zur Schule. Auf diese Weise half die Armee bei der Etablierung des komplexen national-kommunistischen Weltbildes. Nach dieser Positionsbestimmung waren die 1960er-Jahre für die Armee, zumindest nach dem Ende der Kubakrise 1962, eine vergleichsweise ruhige Zeit. Ihre Hauptaufgabe bestand im Ausbau der militärischen Fähigkeiten vor dem Hintergrund einer zunehmenden Integration der Warschauer-Pakt-Armeen. Im Innern beteiligte sie sich unter anderem am Ringen zwischen Staat und Kirche um die Deutungshoheit über das Geschichtsbild, etwa anlässlich der 1000-Jahr-Feier der »Taufe Polens« im Jahre 1966.
III. Am Tiefpunkt: Zivil-militärische Beziehungen und politische Konflikte am Ende der Gomułka-Ära und in der Entspannungsphase des Ost-West-Konflikts (1968–1970)
Ende der 1960er-Jahre befand sich Polen in einer innen- und außenpolitischen Umbruchphase, die sowohl für die polnische Gesellschaft als auch für die Armee starke Verwerfungen mit sich brachte. 1968 wurde Wojciech Jaruzelski Verteidigungsminister und blieb es für die nächsten 15 Jahre. Im selben Jahr forderte eine Reihe von Ereignissen die Armee als Ordnungsorgan und ideologischer Akteur auf der Bündnisebene wie im Innern massiv heraus. Im März 1968 protestierten vor allem Studenten gegen die Absetzung von Adam Mickiewiczs Drama »Totenfeier« (Dziady) in Warschau, das von der Staatsführung als antisowjetisch wahrgenommen worden war. Hintergrund dafür war der nach dem israelischen Sieg im Sechstagekrieg von 1967 erfolgte Abbruch der diplomatischen Beziehungen seitens der kommunistischen Regierungen und die von ihnen betriebene »antizionistische« Kampagne, die primär im strategischen Kontext des Ost-West-Konflikts zu sehen war, sich aber auch innenpolitisch niederschlug. Die Studenten lehnten diese Kampagne als reaktionär ab und forderten die Verwirklichung der in der polnischen Verfassung formal enthaltenen Grundrechte. Außerdem begrüßten sie die Reformvorhaben des Prager Frühlings in der ČSSR. Damit stellten sie in den Augen der Regierenden sowohl die sozialistische Ordnung im Innern als auch die Integrität des Warschauer Pakts infrage. Diese Vorgänge bildeten, soziologisch betrachtet, eine Ausnahme, weil die Demonstranten mehrheitlich keine Arbeiter, sondern zumeist Angehörige der (privilegierten) Parteijugend waren und ihre Motivation eine genuin politische war statt der – jedenfalls im Prinzip – leichter verhandelbaren wirtschaftlichen Forderungen der Arbeiter. Dieser tatsächliche Klassengegensatz, die »revisionistische« Haltung der Demonstranten und der Verdacht westlicher Unterstützung erzeugte bei einer Mehrheit in der Partei und auch in der älteren Bevölkerung ein Bedrohungsgefühl und Ressentiments gegenüber einer vermeintlich verwöhnten und unpatriotischen Jeunesse dorée.
Die schon länger durch interne Kämpfe zwischen »Revisionisten« und »Dogmatikern« belastete Parteiführung nutzte diese Krise zur Entmachtung beider Gruppen, wobei die »Dogmatiker« bzw. die nationalistischen »Partisanen« meistens auf unbedeutenden Positionen neutralisiert, hingegen die »Revisionisten« politisch ausgeschaltet wurden. Auf der Straße zeigte sich dies in der Niederschlagung der Proteste durch die Miliz, der Relegierung und Verhaftung mehrerer Studentenführer, z. B. Adam Michniks, und anderen Repressalien. Vor allem aber entflammte eine landesweite antisemitische Kampagne, die nicht nur in der Partei, sondern in allen Bereichen des öffentlichen Lebens zu weitreichenden »Säuberungen« führte, indem zahlreiche Personen jüdischer Abstammung als illoyal denunziert wurden und ihre Stellungen verloren. Da zugleich ihre Auswanderung in den Westen, besonders nach Israel, erleichtert wurde, kam es zu einem Exodus der nach dem Holocaust noch im Lande lebenden Juden.[13]
An den genannten Polizeiaktionen war die Armee in gewissem Umfang unterstützend beteiligt. Politisch folgenschwerer war jedoch, dass sie nicht nur die »antizionistische« Propaganda mittrug, sondern dass auch – mit Billigung des damaligen Stabschefs Jaruzelski – zahlreiche Offiziere entlassen oder degradiert wurden, die das besagte Verhalten der Armeeführung nicht mittragen wollten und daher »liberaler« Anschauungen und der Illoyalität verdächtigt wurden. Unter diesen befanden sich viele Personen jüdischer Abstammung, die sich oft der Emigrationswelle in den Westen anschlossen. Einerseits wird Jaruzelskis Handeln tendenziell – wie im Falle Gomułkas – weniger als antisemitisch motiviert betrachtet denn als opportunistisch bzw., wie man heute sagen würde, populistisch, mit dem primären Ziel des eigenen Machterhalts. Beide hatten aber erkennbar keine Hemmungen, sich über 20 Jahre nach dem Krieg des in der Bevölkerung latent vorhandenen Antisemitismus zu bedienen. Dieser musste in der Folge, wenn auch in der Variante des »Antizionismus«, bei Freund und Feind als faktisches Element des von Armee und Partei vertretenen Weltbildes gelten. Andererseits nahm Jaruzelski angesichts der entstandenen gesellschaftlichen Unruhe danach eine taktische und abwartende Haltung ein, um die Armee im Falle ähnlicher Vorfälle politisch zu schützen.
Die nächste Prüfung für die politische Haltung der Polnischen Armee und ihr Ansehen in der Bevölkerung war die Invasion mehrerer Armeen des Warschauer Pakts in der ČSSR zur Niederschlagung des Prager Frühlings im August 1968. Sie erzeugte nicht nur eine erneute – wenn auch kurzfristige – Spannungssituation zwischen den Blöcken, sondern auch eine Verschärfung des »ideologischen Kampfes« nicht nur gegen den westlichen »Imperialismus«, sondern ebenso und zunehmend gegen den »Revisionismus« im eigenen Lager. Charakteristisch für diese Verknüpfung der inneren mit der äußeren Front war der Umstand, dass die polnische Propaganda – hiermit an die schon laufende antiisraelische Kampagne anschließend – neben den USA vor allem die Bundesrepublik beschuldigte, mittels der Prager Reformpolitik die ČSSR aus dem »sozialistischen Lager« herausbrechen zu wollen.[14] So brachte die Armeeführung vor dem Einmarsch (der »Operation Donau«) folgendes Kommuniqué heraus: »Das polnische Volk, besorgt über die ungünstige Entwicklung der Ereignisse in der Tschechoslowakei und die Zunahme der antipolnischen Kampagne in der BRD, zählt sehr auf seine Soldaten.«[15]
Tatsächlich war die Strategie der Bundesregierung unter Willy Brandt erstens gewaltfrei konzipiert und zweitens auf alle sozialistischen Länder gerichtet, ihr politisch subversives Potenzial erkannten aber die herrschenden kommunistischen Parteien durchaus richtig. Wohl unabhängig vom Einfluss westlicher Akteure gab es viele kritische Äußerungen polnischer Bürger – auch jenseits studentischer Kreise – gegen die Beteiligung ihres Landes an der Invasion. Diese hatten zwar keine direkten Folgen, wurden aber nicht zuletzt von der Armeeführung aufmerksam registriert. Für sie besaß die Bündnisloyalität höchste Priorität, aber auch die Stimmung zu Hause war ihr nicht gleichgültig, sowohl hinsichtlich der älteren Generation, die den alles legitimierenden Weltkrieg verkörperte, als auch hinsichtlich der aktuellen Wehrpflichtigen, von deren loyaler Dienstauffassung im Ernstfall die Kampffähigkeit der Armee abhing. Jedenfalls erhielt, da eine äußere Konfrontation (bei rationaler Betrachtung) unmöglich war und zudem alle sozialistischen Staaten wirtschaftlich mit dem Westen kooperieren wollten, die innere ideologische Auseinandersetzung erhöhte Bedeutung. Gerade im polnischen Fall sollte dies beträchtliche argumentative Schwierigkeiten mit sich bringen.
In diesem Zusammenhang kam die sich aus der neuen Lage ergebende, deutlich »klassenmäßigere« Variante des Antigermanismus der DDR zugute, zumal Gomułka und Ulbricht in ihrer letzten großen Aktion als Staatschefs eine einheitliche (marxistisch-)konservative Position vertraten. Während ihre Rivalität um den Status als Nr. 2 des sozialistischen Lagers anhielt, ordneten sich die DDR und Polen uneingeschränkt der sowjetischen Kriegsfallplanung unter, die einerseits die beiden Staaten und ihre Armeen in den Augen der Sowjetunion aufwertete, den Bürgern aber andererseits massive finanzielle Lasten aufbürdete.[16]
Dem Regime war indes keine lange Ruhepause beschieden. Nachdem Gomułkas Renommee bereits in den vorangegangenen Jahren stark gelitten hatte, führten im Dezember 1970 starke Preiserhöhungen zu Streiks und Demonstrationen von Industrie- und Werftarbeitern vor allem in den Küstenstädten Stettin, Gdingen und Danzig. Die überforderte Miliz rief einmal mehr nach der Armee, die ihr nach einigem Zögern auch zu Hilfe kam. Damit gab Jaruzelski zwar dem Druck der politischen Führung nach, trat aber bewusst nicht persönlich in Erscheinung, um seine Reputation nicht über Gebühr zu belasten.[17] Gleichwohl verschaffte ihre Beteiligung an den blutigen Repressalien, bei denen mindestens 44 Menschen starben und ca. 1000 verletzt wurden, der Armee einen erheblichen politischen Makel. Jaruzelski scheint dabei besonders der Umstand belastet zu haben, dass die Gegner der Staatsmacht Arbeiter waren, mithin der Kern des »Volkes« nicht nur im soziologischen Sinne (lud), sondern entsprechend der romantischen Tradition des 19. Jahrhunderts auch im nationalen (naród). Es kann als charakteristisch (und im Hinblick auf spätere Jahre als visionär) bezeichnet werden, dass Jaruzelski im Zuge der Aufarbeitung der Krise im Januar 1971 im Gespräch mit Werftarbeitern die Frage stellte, ob diese »eine Armee wollten, die Regierungen ein- oder absetzen könnte […] wie in Lateinamerika oder Afrika, eine Regierung von Obristen und Generälen«.[18] Falls nicht, sollten sie selbst berechtigte Kritik an Partei und Regierung zurückhaltend äußern und es nie wieder zu einer systemischen Herausforderung kommen lassen. Aus dieser Aussage des obersten polnischen Soldaten ließen sich sowohl paternalistische Sorge als auch latente Drohung ablesen.
Eine Konfrontation der Armee, deren Auftrag primär im Erhalt der polnischen Nation liegen sollte, mit dem Kern jener Nation war jedenfalls für die Zukunft tunlichst zu vermeiden. Zwar kam es der Armeeführung entgegen, dass selbst jetzt nach einiger Zeit wieder die schon erwähnte kollektive Verdrängung einsetzte, um das Bild der sauberen Armee zu bewahren; dennoch war Jaruzelski in der Folge noch mehr als zuvor darauf bedacht, seine Soldaten aus innenpolitischen Konflikten herauszuhalten. Das war eine klare Nachricht in Richtung Parteiführung, dass ihr die Armee im Innern nur noch bedingt zur Verfügung stehen würde – anders als auf der außen- und bündnispolitischen Ebene, wo Jaruzelski der sowjetischen Führung unbedingte Loyalität nicht nur zusagte, sondern auch bewies. Diese Beziehungen machten ihn wiederum innerhalb der eigenen Partei- und Staatsführung kaum angreifbar.
IV. Professionalität und Linientreue: Armee und Zivilbevölkerung in den 1970er-Jahren
Die Folgejahre stellten sich im Allgemeinen ähnlich ruhig dar wie die 1960er-Jahre, wiesen aber gleichwohl bedeutende Unterschiede auf. Der schon erwähnte Akzent der Gierek-Ära auf Konsum und »kleinen Freiheiten« konnte auch in einer so national eingestellten Gesellschaft wie der polnischen die tradierten Ideale von Patriotismus, Wehrbarkeit und Opferbereitschaft aufweichen. Die 1969 eingeleitete und zum KSZE-Prozess führende Entspannung entlastete zwar in gewissem Maß die »harten« Politikfelder der Verteidigungs- und Außenpolitik, drohte aber die Wachsamkeit gegenüber dem Westen zu schwächen. Zugleich erleichterten es diese relativ stabilen Jahre der Polnischen Armee, sich mit einer technokratischen Herangehensweise auf ihre Professionalisierung und Modernisierung zu konzentrieren. Daneben wurde die ideologische Schulung zwar fortgesetzt, und es erhöhte sich der Anteil der Parteimitglieder im Offizierskorps,[19] jedoch waren dies eher formale Vorgänge, die keine Vertiefung marxistischer Überzeugungen mit sich brachten. Vor allem aber führte der Fokus auf dem nationalen Geschichtsbild dazu, dass die Soldaten nur geringe ideelle »Abwehrkräfte« gegen eventuelle neue Herausforderungen seitens des Volkes entwickeln konnten.
Als 1976 das Platzen der Auslandskredite – und damit der polnischen »Wachstumsblase« – zu Produktionsstockungen und Preissteigerungen führte, protestierten erneut Arbeiter, besonders in den Fabriken in Radom und Ursus, einem Stadtteil von Warschau. Obwohl die Miliz abermals gewaltsam gegen die Proteste vorging, bekam das Regime die Krise recht schnell und mit deutlich geringeren Schäden als 1970 auf dem Verhandlungsweg in den Griff. Die Armee konnte sich aus diesem Konflikt heraushalten, zumal Jaruzelski seine reservierte Haltung der Parteiführung gegenüber sofort klargemacht hatte.[20] Diese Einschränkung ihrer Sanktionsmittel dürfte die Verhandlungsbereitschaft der Regierung wiederum erheblich erhöht haben.
Die bedeutendste politische Folge der Krise von 1976 war die Gründung des Komitees zur Verteidigung der Arbeiter (Komitet Obrony Robotników, KOR), später Komitee für gesellschaftliche Selbstverteidigung (Komitet Samoobrony Społecznej, KSS), das den Protestierern und ihren Familien juristische und materielle Hilfe leistete. Damit verbanden sich auf strategischer Ebene erstmals Intellektuelle mit der Arbeiterschaft, um die bisherige Trennung der sozialen Gruppen zu überwinden und den Kern einer einheitlichen Opposition aufzubauen. Diese Intellektuellen entwickelten ihre Konzepte auf der Basis revisionistischer Strömungen des polnischen Marxismus (besonders Leszek Kołakowski), aus dem liberal-katholischen Milieu (z. B. Tadeusz Mazowiecki) und teilweise aus den nach 1970 zunehmenden westlichen Einflüssen. Ebenso wichtig war aber nicht nur die von der Armee und ihren Vorfeldorganisationen, sondern auch der katholischen Kirche und der regierenden Partei – unter anderem in ihren jeweiligen Pfadfindergruppen (harcerze) – verbreitete nationale Gesinnung. So sammelte einer der späteren führenden Oppositionellen, Jacek Kuroń, seine ersten politisch relevanten Eindrücke in den 1950er-Jahren als Angehöriger des »General-Walter-Fähnleins« des kommunistischen Polnischen Pfadfinderbundes.
Der Aufbau dieser oppositionellen Strukturen ging nach 1976 kontinuierlich weiter, auch weil sich die wirtschaftliche Lage nicht stabilisierte und der moralische Kredit der Partei bereits sehr gering war. Inwieweit dabei die (freilich nicht dauerhaft absehbare) Zurückhaltung der Armee als ermutigender Faktor anzusehen ist, lässt sich schwer einschätzen. Immerhin hatten die meisten Aktivisten der Opposition ihren Grundwehrdienst abgeleistet, und ihre akademischen Vertreter, sofern sie nicht von der Universität relegiert worden waren, besaßen Reserveoffiziersränge. Daher kannten sie sowohl die innere Struktur der Armee als auch die oft schwache Bindung des Offizierskorps an die offizielle marxistische Ideologie; zudem besaßen sie – was nicht unwesentlich war – militärische Kenntnisse.
1980 trat eine Situation ein, in der sich die Ereignisse von 1970 zu wiederholen drohten. Wieder protestierten und streikten Arbeiter besonders in den Küstenstädten gegen die Folgen der mittlerweile chronischen Wirtschaftskrise, und wieder konnte ihnen die Regierung wenig Positives in Aussicht stellen. Mehrere Faktoren erlaubten es jedoch, eine erneute Eskalation zu verhindern: Mit der Unterstützung der Intellektuellen von KOR/KSS verknüpften die Streikenden sofort viele Betriebe miteinander und bauten eine leistungsfähige Organisations- und Kommunikationsstruktur auf. Außerdem erweiterten sie ihre ökonomischen Forderungen bald um politische und sorgten, gerade auch durch im Ausland lebende Sympathisanten, für eine intensive internationale Berichterstattung. Zugleich ging die Streikbewegung, die erst ab September 1980 als Unabhängige Selbstverwaltete Gewerkschaft Solidarität (NSZZ Solidarność) firmierte, auf das patriotische Narrativ des Regimes ein und sicherte zu, weder die nominell sozialistische Ordnung des Staates noch dessen Mitgliedschaft im Warschauer Pakt infrage zu stellen. Es waren diese letzteren Faktoren, die Jaruzelski dazu brachten, das Aushandeln des danach als August-Abkommen (Porozumienia Sierpniowe) bezeichneten Kompromisses zu befürworten, indem er erneut klarmachte, dass die Armee für eine gewaltsame Lösung nicht zur Verfügung stünde.
Ohne die theoretische Option eines gewaltsamen Einschreitens aufzugeben, setzte die Armeeführung also zunächst auf eine pragmatische Haltung der neuen Opposition im Geist des nationalen Zusammenhalts. Analog dazu begann das Regime eine »Erneuerung« (odnowa) bzw. »nationale Übereinkunft« (porozumienie narodowe) zwischen beiden Seiten zu propagieren, durch die ohne systemische Änderung ein gewisser innenpolitischer Pluralismus möglich erschien. Dass die zumindest formal ebenbürtige Behandlung der nicht- bzw. antimarxistischen Solidarność einen fundamentalen Verstoß gegen den monistischen Herrschaftsanspruch der Kommunisten darstellte, nahm die polnische Führung hin. Möglich war diese Handlungsweise vor allem aufgrund der Zusicherungen, die die Armeeführung ihren sowjetischen Partnern machte. Ähnlich verhielt es sich bei der Ersetzung Giereks als Erstem Sekretär der PZPR durch Stanisław Kania im September 1980. Dieser galt wegen seiner vorherigen Tätigkeit als Sekretär des ZK als militärnaher Sicherheitsexperte und Pragmatiker.[21]
Die folgende Phase der »legalen 16 Monate«, in denen die Solidarność bis zum Dezember 1981 ihre Ziele verfolgen konnte, war für die Regierung äußerst stressgeplagt. Die wirtschaftliche Lage verbesserte sich nicht. Zugleich nutzte die im November 1980 vom Warschauer Woiwodschaftsgericht registrierte Opposition ihre Bewegungsfreiheit dazu, den öffentlichen Raum in weiten Teilen zu besetzen. So erwarb sie sich etwa immer mehr die Aufmerksamkeit der Massenmedien. Damit prägte sie in Ost wie West das Bild eines zumindest teilweise freien Polens. Die Armee konnte davon sogar in gewissem Maße profitieren, da die Bevölkerung ihre »konstruktive Zurückhaltung« honorierte und sie damit als einzige staatliche Institution relativ hohes Vertrauen genoss.[22] Hier wirkte sich analog zum wahrgenommenen Kontrast zwischen Armee und Miliz derjenige zwischen Armee und Partei aus: Letzterer wurden alle Missstände im Lande angelastet, aber ihr Hauptwaffenträger stand mit scheinbar weißer Weste da. In dieses Bild passte es, dass die Parteiführung ihren letzten moralischen Trumpf in der Art einzusetzen suchte, dass sie im Februar 1981 Verteidigungsminister Jaruzelski auch zum Ministerpräsidenten berief. Das war präzedenzlos, nicht so sehr wegen der ungewöhnlichen, aber legalen Ämterhäufung, sondern angesichts der schon seit Lenins Zeiten in der KPdSU bestehenden Furcht vor einem bonapartistischen Umsturz, also der Übernahme der Macht durch einen populären Militär. In diesem Fall war man sich allerdings der Loyalität jenes Militärs gegenüber der Sowjetunion – und auf diese kam es an – absolut gewiss. Dass Jaruzelskis Ernennung im »national-militaristischen« Polen große Zustimmung fand, machte die Entscheidung für die Kommunisten umso plausibler.
Mit großer Wahrscheinlichkeit war jenes Angebot einer »nationalen Übereinkunft« seitens des Regimes an alle »verantwortungsbewussten« und »patriotischen« gesellschaftlichen Kräfte mehr als nur ein Vorwand, um der Solidarność die Verantwortung für ein eventuelles Scheitern zuschieben zu können. Das generelle nationale Denken der Staats- und Parteiführung war echt, ebenso wie das des polnischen Episkopats[23] und der (meisten) Gewerkschaftsführer sowie des umworbenen Volkes. Letztlich ging es um die genaue Definition und praktische Nutzbarmachung dieser allgemeinen Idee. Ohne wirtschaftliche Erfolge blieb der Kompromiss vom August 1980 brüchig. Die Erfahrungen der PZPR mit den partiell selbstständigen Blockparteien Vereinigte Volkspartei (Zjednoczone Stronnictwo Ludowe, ZSL) und Demokratische Partei (Stronnictwo Demokratyczne, SD) hätten womöglich dennoch für das Nebeneinander von Solidarność und dem offiziellen Gesamtpolnischen Gewerkschaftsverband OPZZ (Ogólnopolskie Porozumienie Związków Zawodowych) genutzt werden können. Mit Blick ins Ausland stand aber, zunächst noch sehr abstrakt, die Interventionsdrohung durch den Warschauer Pakt im Raum. Mit entscheidend war, ob die Opposition ebenfalls »konstruktive Zurückhaltung« üben oder, ermutigt durch ihre bisherigen Erfolge, letztlich eben doch die Systemfrage stellen würde. Radikale Teile der Bewegung wie die Solidarność Walcząca (Kämpfende Solidarität), aber auch die Partei, die Miliz und andere – zunehmend desperate – Akteure erschwerten der Jaruzelski-Regierung das politische Jonglieren.
Die Spannungen entluden sich bald nach Jaruzelskis Ernennung zum Premier in der sogenannten Krise von Bydgoszcz (Kryzys Bydgoski) vom 19. März 1981. Dabei wurden Angehörige der Land-Solidarność, die sich um ihre Registrierung bemühte, während eines Treffens mit Vertretern des Woiewodschaftskomitees der PZPR in Bydgoszcz (Bromberg) von Milizionären aus dem Sitzungsraum gedrängt und teilweise verletzt.[24] Dieser Vorgang schlug hohe Wellen und war Wasser auf die Mühlen der radikalen Oppositionellen. Bis heute steht der Verdacht im Raum, dass sie während der damals gerade in Polen stattfindenden Manöver des Warschauer Pakts zu einer gewaltsamen Reaktion provoziert werden sollten. Dies konnte, wenn es tatsächlich beabsichtigt gewesen sein sollte, die Solidarność-Führung vermeiden, indem sie Streiks und andere Protestmaßnahmen lancierte. Obwohl die Armee nicht involviert war, trug Jaruzelski als Regierungschef die politische Verantwortung, auch wenn er sich vom Vorgehen der Miliz distanzierte. Ungefähr zu dieser Zeit, und womöglich zusätzlich durch den Zwischenfall motiviert, begannen allerdings im polnischen Generalstab konkrete Planungen für eine eventuelle Einführung des Kriegsrechts. Ein eher noch größeres Problem als ihre trotz allem seltenen Konflikte mit den Sicherheitskräften war aber die antisowjetische Rhetorik der Solidarność in Bezug auf die geschichtlichen »weißen Flecken« und auch auf die Gegenwart.
Ab dem 19. Oktober 1981 bündelte Jaruzelski durch seine Ernennung zum Ersten Sekretär der PZPR neben der Regierungsmacht auch die politische und militärische Macht in seinen Händen. Offiziere übernahmen mehrere Ministerien und andere staatliche Spitzenfunktionen. Damit blieb zwar das Parteiregime intakt, es begann aber immer offener eine militärische Form anzunehmen. Diese Maßnahme, die in der Öffentlichkeit auf breite Zustimmung stieß, stellte den letzten noch mit der Verfassung Volkspolens vereinbaren Schritt zur Stabilisierung der bestehenden Staatsmacht dar sowie eine ultimative Warnung an die Solidarność, ihre schleichende Übernahme des öffentlichen Lebens zu beenden. Im Rahmen der erwähnten Vorbereitungen für eine militärische Lösung der Krise waren an die Sowjetunion und die anderen Verbündeten Anfragen auf militärische Unterstützung eines solchen Schritts gerichtet worden, die in Moskau allerdings wiederholt abgelehnt wurden. Lediglich als Drohkulisse wurden Ende des Jahres 1981 Einheiten der Sowjetarmee, der Tschechoslowakischen Volksarmee und der Nationalen Volksarmee der DDR in Alarmbereitschaft versetzt. Jaruzelski musste also die Entscheidung allein treffen und das politische Risiko auf sich nehmen.
Wie sehr die Armee weiterhin bestrebt war, in der Bevölkerung ihr Image als »Volksfreund« zu erhalten und eine Art Burgfrieden zu sichern, zeigt auch ein Rundschreiben der Politischen Hauptverwaltung an alle Kommandeure vom Oktober 1981. Darin werden Aktivisten der Solidarność scharf für die angebliche Verteilung von Flugblättern insbesondere in westlichen Garnisonsorten (d. h. in Pommern und Schlesien) kritisiert. In diesen sei die »empörende Vermutung« geäußert worden, die Armee plane die Anwendung von Waffengewalt gegen »Arbeiter und Bauern«. Die Kommandeure werden aufgefordert, diesem Angriff auf die »Ehre der Armee« entgegenzutreten, da dieser andernfalls »den politisch-moralischen Zusammenhalt, die Disziplin und die Kampfbereitschaft« der Truppe gefährden könne.[25]
V. Die Armee am Ruder: Schein-Bonapartismus und der Kampf um die geschichtliche Deutungshoheit nach 1981
Als Jaruzelski in der Nacht zum 13. Dezember 1981 das Kriegsrecht ausrufen ließ und die unmittelbare Kontrolle über das Land übernahm, brach er zwar die Verfassung,[26] erzielte jedoch zeitweise einen stupenden politischen Erfolg: Die trotz ihrer teils aggressiven Rhetorik völlig überraschte Opposition wurde vorübergehend – bis zum Aufbau neuer Untergrundstrukturen – ausgeschaltet und ihre Führungskader interniert. Die Kirche bezog eine kritisch-beschwichtigende, aber moderate Position, und die Verbündeten waren erleichtert, nicht selbst eingreifen zu müssen. Sie ließen dem polnischen Regime jede politische und wirtschaftliche Hilfe zukommen. Vor allem aber war das Echo in nicht geringen Teilen der Bevölkerung deutlich positiv. Der 16-monatige »Kampf um die Seele der Polen« hatte sie ermüdet, und die Mehrheit war keineswegs mehr vom Ansatz der Opposition überzeugt. Vor allem viele Ältere sahen in Jaruzelski einen neuen Piłsudski, der mittels seiner »unpolitischen« Armee wieder Ruhe und Ordnung herstellte.
In seiner legendären Fernsehansprache am Morgen des 13. Dezember 1981 wandte sich Jaruzelski, in Generalsuniform vor einer Armeefahne sitzend, »als Soldat« an die Polen und nannte Sozialismus, Patriotismus und militärische Professionalität als Grundlagen seiner Einstellung und seines Handelns. Der Sozialismus sei die einzige politische Konstellation, in der die Existenz Polens zu sichern sei. Jedoch liege durch die Wirtschaftskrise »das Werk von Generationen […] in Trümmern«. Polen stehe vor einem Abgrund, durchs Land ergieße sich »eine Welle dreister Verbrechen«, viele Familien seien gespalten durch Konflikte und »Missverständnisse«, es herrsche ständige Streikbereitschaft »sogar bei der Schuljugend«, und die Regierenden seien »Terror« und »Drohungen« ausgesetzt. Er appellierte an »gesellschaftliche Verantwortung« sowie »die Tradition der Toleranz« und verwies auf die »nationale Übereinkunft« vom August 1980, welche die Solidarność durch ihr Verhalten in jüngster Zeit verraten habe. Zugleich beklagte er eine allgemeine »Demoralisierung« und »Chaos« und nannte es sein Ziel, die Polen vor einem psychischen Zusammenbruch und einer »nationalen Katastrophe« zu retten. In diesem Sinne sei »der polnische Soldat« wie so oft schon zum »treuen Dienst am Vaterland« angetreten, selbstlos und mit »sauberen Händen«; er kenne keine Privatinteressen, sondern nur »das Wohlergehen des Volkes«. Der Einsatz der Armee sei jedoch definitiv vorübergehender Natur, er solle »nicht die normalen Mechanismen der sozialistischen Demokratie ersetzen«, sondern lediglich die Voraussetzungen für einen politischen und wirtschaftlichen Wiederaufstieg Polens schaffen. Explizit rief Jaruzelski die Kirche und die »gesunde, vor allem proletarische Strömung innerhalb der Solidarność« dazu auf, sich dieser patriotischen Unternehmung anzuschließen.[27]
Nicht zuletzt wirkte in der Bevölkerung auch Jaruzelskis heute als Legende nachweisbare Behauptung, seine Entscheidung habe eine Invasion wie 1968 verhindert.[28] Die Vorstellung sowjetischer, vor allem aber ostdeutscher Soldaten auf polnischem Boden war das perfekte Schreckbild. Daher wurde die »polnische Lösung« – gemäß dem sowjetischen Kalkül – als geringeres Übel akzeptiert. Aber auch die Solidarność achtete in wohl nicht nur taktischer Absicht darauf, dieses nationale Empfinden nicht zu missachten, und unterschied klar zwischen der in der Folge immer massiver attackierten Militärführung, die als Militärrat der Nationalen Rettung (Wojskowa Rada Ocalenia Narodowego, WRON) firmierte, und den Soldaten, zumeist Wehrpflichtigen, die im harten Winter von 1981/82 Straßen und Plätze bewachten. »Unseren Jungs« brachte die Zivilbevölkerung unabhängig von ihrer Bewertung des Kriegsrechts warmes Essen und Getränke. Die Militarisierung des öffentlichen Raums wurde nicht zuletzt daran sichtbar, dass vor allem männliche staatliche Funktionsträger, wie z. B. Fernsehansager, in Uniform erschienen. Als Reservisten waren sie einfach einberufen worden und übten ihren Dienst zwar faktisch wie bisher, aber formal unter Militärrecht aus, was Gehorsamspflicht, Streikverbot und andere Auflagen mit sich brachte.
In einer Betrachtung über »Schutz und Strenge« ist nicht zu ignorieren, dass das als Maßnahme zum Schutz der Bürger gerechtfertigte Kriegsrecht – was dieser Begriff letztlich impliziert – auch Gewaltanwendung mit sich gebracht und Opfer gefordert hat. Dies betrifft nach heutigem Wissensstand vor allem 40 Todesopfer, darunter neun Bergleute, die am 16. Dezember 1981 in der Kattowitzer Grube »Wujek« von Angehörigen der motorisierten Brigaden der Bürgermiliz (Zmotoryzowane Odwody Milicji Obywatelskiej, ZOMO) erschossen wurden. Die meisten anderen Todesfälle ereigneten sich bei Zusammenstößen nach illegalen Demonstrationen und anderen Aktionen während des bis zum 22. Juli 1983 dauernden Kriegszustands.[29] Die Täter waren immer Angehörige der ZOMO oder anderer Milizeinheiten, während die Armee sich wie oben beschrieben im Hintergrund hielt. Allerdings war sie an manchen dieser Ereignisse indirekt beteiligt – in jedem Fall fiel die Verantwortung dem militarisierten Parteiregime unter Jaruzelski zu. Ohne zu relativieren oder den Opfern den Respekt zu versagen, muss festgehalten werden, dass sich die Zahl der Opfer angesichts der Dimension der damals erfolgten Umwälzung und den theoretisch denkbaren Zusammenstößen auf niedrigem Niveau bewegte. Das Regime war zwar zu Repressalien bereit, wollte aber hohe Opferzahlen vermeiden. Auch die Opposition rief nicht zum gewaltsamen Widerstand auf.[30]
Insgesamt herrschte in der Bevölkerung eine abwartende Stimmung. Man gab dem Regime noch eine Chance, die es allerdings nur nutzen konnte, wenn ihm eine ökonomische Wende zum Besseren gelang. Dazu übernahmen militärische Kommissare die Kontrolle über wichtige Betriebe, teils schon vor Ausruf des Kriegsrechts, und versuchten, durch militärische Ordnung und Disziplin bessere Arbeitsleistungen und einen Rückgang betriebsschädlicher Praktiken wie z. B. Materialklau zu bewirken. Die Erfolgsaussichten waren jedoch gering, denn diese Offiziere besaßen keinerlei ökonomische Kenntnisse. Zudem waren und sind Armeen als Systeme nicht an ökonomischer Effizienz, sondern machttechnischer Effektivität ausgerichtet. Außerdem hatten solche letztlich rein moralischen Appelle vor dem Hintergrund des allgemeinen Konsumgütermangels keine Chance gegenüber dem wirtschaftlichen Selbsterhaltungstrieb der Beschäftigten. Was jede Erholung vollends unmöglich machte, war die faktische Blockade der polnischen Volkswirtschaft durch die westlichen Länder.
Dass die nationale Karte in gewissem Umfang dennoch erneut stach, entlastete die Armeeführung auch an der »inneren Front«: Es hatte sich gezeigt, dass das Offizierskorps, auf das es im Kampf mit der Solidarność vor allem ankam, ideologisch nur wenig gefestigt war. Dies war eine Folge der nach 1970 nur noch formal erfolgten marxistischen Schulung und des Fokus auf fachtechnische Professionalität. Nicht nur die eigene Politische Hauptverwaltung, sondern auch Beobachter etwa der »befreundeten« NVA stellten indigniert fest, dass die polnischen Offiziere und Unteroffiziere kaum über die Fähigkeit verfügten, die Lage ihres Landes und des ganzen sozialistischen Lagers »klassenmäßig« richtig zu erfassen sowie den Klassenfeind in Gestalt der Opposition korrekt zu identifizieren und entsprechende Schlüsse für das eigene Handeln zu ziehen. Schuld daran sei eine seit Langem in der politischen Erziehung gepflegte nationale Sichtweise und die einseitige Konzentration »auf [die] siegreichen Traditionen und [die] Erfolge bei der Gestaltung des Sozialismus«.[31] Besonders besorgt war die Armeeführung hinsichtlich des Umgangs mit den zur Einberufung anstehenden Wehrpflichtigen, von denen anzunehmen war, dass sie in großem Umfang mit dem »Solidarność-Bazillus« infiziert waren.[32] Eine Maßnahme, mit der man die weltanschauliche »Immunität« der militärischen Vorgesetzten erhöhen wollte, war die 1981/82 durchgeführte Säuberung der Parteikader in der Armee um bis zu 90 Prozent.[33]
Der Befund über die mangelnde ideologische Festigkeit traf durchaus zu und wurde von der polnischen Führung bei Treffen mit Vertretern anderer Bündnisarmeen auch eingeräumt. So wiederholten im März 1982 Jaruzelski, Generalstabschef Florian Siwicki und der Chef der Politischen Hauptverwaltung, Józef Baryła, gegenüber einer Delegation der NVA die in Jaruzelskis Fernsehansprache genannten Motive für ihr Handeln – vor allem die »Entlastung der Partei« – und hoben die bereits klare Verbesserung von Disziplin und Ordnung in den militarisierten Betrieben hervor. Sie betonten, die neuen, militärisch geprägten Exekutivorgane wie WRON seien auf Zeit für notwendige operative Korrekturen geschaffen worden, weil nur die Armee Autorität beim Volk genieße, während die Partei diese verloren habe, nicht zuletzt durch mangelnden Kontakt mit den einfachen Bürgern.[34]
Die Jahre zwischen 1982 und 1986 waren von wechselnden politischen Konjunkturen und unterschiedlichen Graden der Konfrontation geprägt. Tendenziell lief es aber auf einen Zustand faktischer gegenseitiger Anerkennung der beiden Seiten hinaus, da keine allein zu einer systemischen Rettungspolitik bzw. einer systemischen Wende imstande war. Zudem fand man ab 1985 eine gemeinsame positive Linie gegenüber der Reformpolitik Michail Gorbačёvs. Die Regierung, die auch in den letzten Jahren bis 1990 faktisch von der Armee geleitet wurde, suchte erkennbar einen Weg aus dem bisherigen Regime und erhielt dafür die informelle Unterstützung der Opposition, gipfelnd in den Gesprächen am Runden Tisch im Frühling 1989. Gerade deshalb ist als wichtiger Punkt zu erwähnen, dass sich zur selben Zeit der sogenannte Geschichtskrieg zwischen der Solidarność und der Partei entspann – quasi als unblutiger Ersatz für den vermiedenen Bürgerkrieg. Die Partei wurde dabei von einigen regimetreuen Hochschulinstituten und der Politischen Hauptverwaltung der Armee vertreten. Die Opposition griff in ihren Untergrundpublikationen die genannten »weißen Flecken« der polnisch-sowjetischen Geschichte auf und damit die Regierenden an, da das Beschweigen dieser Konflikte bzw. Verbrechen – neben der Deutschfeindlichkeit – eine Grundvoraussetzung für die Legitimierung des Bündnisses mit Moskau darstellte. Letztlich lief diese Argumentation also auf die Infragestellung des Warschauer Pakts und des Ost-West-Konflikts hinaus. Hier bestand auch ein Bezug zur gleichzeitig stattfindenden, klar antisowjetisch motivierten Mitteleuropadebatte.[35] Aus militärischer Sicht war zum einen interessant, dass die Politische Hauptverwaltung (PHV) als »Gehirn« der Armee der wichtigste Gegner der Solidarność-Historiker war. Ihre Offiziere waren nicht nur intelligent genug, um diese Debatte zu führen, sondern die sowjetische Führung sah in ihnen ihre wichtigsten ideologischen Gewährsleute in Polen. Zum anderen wurde Józef Piłsudski, der aus kommunistischer Sicht jahrzehntelang die zentrale Unperson gewesen war und umso intensiver von der Opposition zum Helden ihres historischen Narrativs erhoben wurde, nach und nach von der Armee und besonders von Jaruzelski persönlich rezipiert – freilich nicht mit antisowjetischer Tendenz, sondern im Rahmen einer sich immer mehr nach innen wendenden inklusionistischen historischen Standortsuche, ganz im Sinne des überparteilichen und unpolitischen Nationsideals unter dem symbolischen Schirm eines scheinbar makellosen militärischen Führers. Nach dem Systemwechsel von 1989/90 bestand die Polnische Armee fort und wurde bis heute keiner nennenswerten Revision hinsichtlich ihrer Rolle im 20. Jahrhundert unterzogen.
Die oft hervorgehobene besondere Rolle Polens in der Spätphase des Staatssozialismus bzw. bei seiner Überwindung, bevorzugt festgemacht am Wirken der Solidarność, lag also unter anderem im tradierten, sehr eigentümlichen Verhältnis von Zivil und Militär, von Nation und Armee begründet. Gemeinsam trugen sie ein ethno-korporatives Nationsverständnis, das die Partei als (formal) marxistische Institution zumal nach 1956 immer nur in die Realitäten des Systemkonflikts einzubetten versuchen konnte. Die schützende und erziehende Armee verfocht das Bündnis mit Moskau als Lebensversicherung gegen eine – zunehmend irreale – deutsche Revanchegefahr und konnte sich dabei im Innern mehrere Bluttaten leisten, ohne die Zuneigung des Volkes je ganz einzubüßen; denn dieses konnte auf das tröstende Traumbild des »sauberen« Waffenträgers nicht verzichten. In stupender Eintracht kam es dann nach 1989 zum Systemwechsel, ohne dass der Armee mehr als ein paar Härchen gekrümmt worden wären. Denn wie sich zeigen sollte, wollten die neuen Regierenden den nationalen Staat erhalten, nur in den richtigen, weil eigenen Farben. Hier hat die Armee wie eh und je ihren zentralen Platz. Selbstkritik wurde von ihr niemals gefordert.
[1] Zur Funktion der Deutschenfurcht im Ostblock siehe Pierre-Frédéric Weber: Timor Teutonorum. Angst vor Deutschland seit 1945. Eine europäische Emotion im Wandel, Paderborn 2015.
[2] Siehe Jan C. Behrends: Die erfundene Freundschaft. Propaganda für die Sowjetunion in Polen und in der DDR, Köln 2006; zum Verhältnis DDR – Polen siehe Sheldon Anderson: A Cold War in the Soviet Bloc. Polish-East German Relations, 1945–1962, Boulder/Co. 2001.
[3] Siehe Claudia Weber: Krieg der Täter. Die Massenerschießungen von Katyn, Hamburg 2015.
[4] Siehe Zaur Gasimov: Militär schreibt Geschichte. Instrumentalisierung der Geschichte durch das Militär in der Volksrepublik Polen und in der Sowjetunion 1981–1991, Berlin/Münster 2009.
[5] Etwa, mit heroisierender Tendenz, als »polnische Monate«; siehe Jerzy Eisler: »Polskie miesiące«, czyli kryzys(y) w PRL [»Polnische Monate«, oder Krise(n) in der VRP], Warszawa 2008.
[6] Es gründete vor allem auf der Erfahrung politischer Fremdherrschaft im 19. Jahrhundert. Auf dieser Denkfigur bauten auch die unter dem Titel »Oni« zuerst 1985 im britischen Exil und später im »zweiten Umlauf«, also in der polnischen Untergrundpresse, veröffentlichten Interviews der Journalistin Teresa Torańska mit Vertretern der polnischen Partei- und Staatsführung auf.
[7] Hier spielte außerdem der latente Antisemitismus eine Rolle, der die kommunistische Herrschaft primär jüdischen Akteuren anlastete, siehe Agnieszka Pufelska: Die »Judäo-Kommune« – Ein Feindbild in Polen. Das polnische Selbstverständnis im Schatten des Antisemitismus 1939–1948, Paderborn 2007.
[8] Siehe Evan McGilvray: A Military Government-in-Exile. The Polish Government in Exile 1939–1945. A Study of Discontent, Helion 2013.
[9] Siehe Markus Krzoska: Für ein Polen an Oder und Ostsee. Zygmunt Wojciechowski (1900–1955) als Historiker und Publizist, Osnabrück 2003.
[10] Siehe Maciej Górny: »Die Wahrheit ist auf unserer Seite«. Nation, Marxismus und Geschichte im Ostblock, Köln 2011.
[11] Zwischen 1944 und 1952 war der offizielle Staatsname »Polnische Republik«, wie schon zwischen 1918/19 und 1939. Die kommunistischen Streitkräfte hießen seit 1945 offiziell »Polnische Armee«, wurden aber umgangssprachlich und auch intern als »Volksarmee« bezeichnet.
[12] Siehe Jerzy Poksiński: »TUN«. Tatar-Utnik-Nowicki. Represje wobec oficerów Wojska Polskiego w latach 1949–1956 [»TUN«. Tatar-Utnik-Nowicki. Repressalien gegen Offiziere der Polnischen Armee in den Jahren 1949–1956], Warszawa 1992.
[13] Siehe Hans-Christian Dahlmann: Antisemitismus in Polen 1968. Interaktionen zwischen Partei und Gesellschaft, Osnabrück 2012.
[14] Siehe Paweł Piotrowski: Polen und die Intervention, in: Stefan Karner/Natalja Tomilina/Alexander Tschubarjan (Hg.): Prager Frühling. Das internationale Krisenjahr 1968, Köln/Weimar/Wien 2008, S. 447–460.
[15] »Naród polski, zaniepokojony niekorzystnym rozwojem wydarzeń w Czechoslowacji i nasileniem antypolskiej nagonki ze strony NRF, liczy bardzo na swoich żołnierzy.« Zit. nach Ausgabe Nr. 1 der Feldzeitung »Żołnierz Ludu« [Soldat des Volkes], hrsg. vom Oberkommando der 2. Polnischen Armee (o. D., [Ende Juli/Anfang August 1968]), KARTA Archiv Warschau, AO IV/182.3: Polska i Czechosłowacja 1968 r., Nr. 4.
[16] Siehe Rüdiger Wenzke: Die NVA und die Polnische Armee als Koalitionsstreitkräfte auf dem europäischen Kriegsschauplatz in den 1980er Jahren, in: ders. (Hg.): Die Streitkräfte der DDR und Polens in der Operationsplanung des Warschauer Paktes, Potsdam 2010, S. 97–125.
[17] Siehe Jerzy Wiatr: The Soldier and the Nation. The Role of the Military in Polish Politics, 1918–1985, Boulder/Co. 1988, S. 119 f.
[18] Aus einer Untergrundsammlung von Dokumenten über die jüngere polnische Geschichte von 1985, zit. nach Andrew A. Michta: Red Eagle. The Army in Polish Politics, 1944–1988, Stanford 1990, S. 69.
[19] Ebd., S. 74.
[20] Ebd., S. 72 f.
[21] Siehe Wiatr: Soldier (Anm. 17), S. 147 f.
[22] Nur Solidarność und die katholische Kirche hatten vergleichbare Zustimmungswerte. Dies bestätigten Umfragen sowohl des offiziösen Meinungsforschungsinstituts Centrum Badania Opinii Społecznej (CBOS) (Wiatr: Soldier [Anm. 17], S. 151–153) als auch von oppositionellen Soziologen im Mai/Juni 1981, KARTA Archiv Warschau, AO IV/68.3: Ankiety do niezależnych badań socjologicznych, Nr. 1: »Problem zaufania«. [Umfragen zu unabhängigen soziologischen Studien, Nr. 1: »Das Problem des Vertrauens«].
[23] Siehe Wiatr: Soldier (Anm. 17), S. 160.
[24] Siehe Michta: Red Eagle (Anm. 18), S. 102 f.
[25] Kryptogramm Nr. 705 vom 27.10.1981, KARTA Archiv Warschau, AO IV/62: (Główny) Zarząd Polityczny Wojska Polskiego 1981–1982 [Politische (Haupt-)Verwaltung der Polnischen Armee 1981–1982], Nr. 7.
[26] Das Kriegsrecht konnte nur vom Sejm bzw. in dessen Sitzungspausen vom Staatsrat beschlossen werden.
[27] Zitate übersetzt aus dem polnischen Originaltext: Przemówienie generała Jaruzelskiego o wprowadzeniu stanu wojennego [Ansprache von General Jaruzelski zur Einführung des Kriegsrechts], sciaga.pl/tekst/80624-81-przemowienie_generala_jaruzelskiego_o_wprowadzeniu_stanu_wojennego (ges. am 21. März 2021).
[28] Siehe Antoni Dudek: »Bez pomocy nie damy rady« [»Ohne Hilfe schaffen wir es nicht«], in: Biuletyn IPN (2009), H. 12, S. 92–100; Mark Kramer: The Soviet Union, the Warsaw Pact, and the Polish Crisis of 1980–1981, in: Lee Trepanier/Spasimir Domaradzki/Jaclyn Stanke (Hg.): The Solidarity Movement and Perspectives on the Last Decade of the Cold War, Kraków 2010, S. 27–66.
[29] Siehe Instytut Pamięci Narodowej: Ofiary stanu wojennego [Opfer des Kriegsrechts], Warszawa 2007.
[30] Siehe Grzegorz Ekiert: The State against Society. Political Crises and Their Aftermath in East Central Europe, Princeton 1996, S. 268.
[31] Bundesarchiv-Militärarchiv (im Folgenden: BA-MA), DVW 1-32674c, Bl. 3–271: Nationale Volksarmee, Hauptstab/Verwaltung Aufklärung, Information über die Lageentwicklung in der VR Polen, hier Nr. 17/80 vom 22.11.1980, Bl. 79 f.
[32] Siehe die Übersicht des Archivs Bürgerbewegung Leipzig e.V. »Bazillus« Solidarność: Solidarität mit Polen über die damaligen Reaktionen in der DDR, www.archiv-buergerbewegung.de/96-power-to-the-people/themenbloecke-polen/353-bazillus-solidarnosc-solidaritaet (ges. am 29. April 2022).
[33] Włodzimierz Borodziej/Jerzy Kochanowski/Bernd Schäfer: Grenzen der Freundschaft. Zur Kooperation der Sicherheitsorgane der DDR und der Volksrepublik Polen zwischen 1956 und 1989, Dresden 2000, S. 30.
[34] BA-MA, DVW 1 – Ministerium für Nationale Verteidigung, Nr. 114494: Sekretariat des Ministers f. NV – Schriftverkehr mit dem Generalsekretär des ZK der SED 1982, Plan für Zusammenarbeit NVA-PA 1982, Bericht über Visite des MfNV in Polen, 05.03.1982, Bl. 24–38.