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In der Kategorie BioLex sind drei wichtige Lexika mit über 5500 Biografien von überzeugten Kommunistinnen und Kommunisten, Renegatinnen und Dissidenten im Volltext recherchierbar.

 

Das Handbuch „Deutsche Kommunisten. Biographisches Handbuch 1918 bis 1945“ wird von Andreas Herbst und Hermann Weber in der 8. aktualisierten Ausgabe herausgegeben. Auf breiter Quellenbasis werden die Schicksale deutscher Kommunisten knapp geschildert, von denen etwa ein Drittel während der NS-Diktatur und durch den Stalinistischen Terror gewaltsam ums Leben kam.

Kurzbiografien zu Personen des politischen Lebens in der DDR stellt das von Helmut Müller-Enbergs, Jan Wielgohs, Dieter Hoffmann, Andreas Herbst, Ingrid Kirschey-Feix herausgegebene Lexikon ostdeutscher Biographien „Wer war wer in der DDR?“ Ch. Links Verlag, 5. Aufl. 2010 bereit.

Zudem ist das Online-Lexikon www.dissdenten.eu ebenfalls auf unserer Seite aufrufbar. Die über 700 Biografien mit umfangreichen Informationen zu Oppositionellen, Bürgerrechtlern und  Dissidenten aus vielen Ländern Ost- und Mitteleuropas werden laufend erweitert.

 

Wer war wer in der DDR?

Bonner, Jelena

* 1923 ✝ 2011




Jelena Bonner wurde 1923 in Merw, dem heutigen Mary in Turkmenistan geboren. Ihr Stiefvater Gework Alichanow war ein bekannter Revolutionsführer im Kaukasus und ab 1921 Erster Sekretär der Kommunistischen Partei Armeniens. Später übte er zahlreiche Parteifunktionen in Leningrad aus, war in den 30er Jahren Leiter der Kaderabteilung und Mitglied des Exekutivkomitees der Komintern. Während des stalinistischen Großen Terrors wurde er 1937 verhaftet und 1938 hingerichtet. Als ihre Mutter Ruth Bonner, die auch Parteifunktionärin war, ebenfalls verhaftet wurde, fuhr Jelena Bonner zu ihrer Großmutter nach Leningrad. Dort beendete sie die Schule und nahm 1940 ein Studium an der Fakultät für russische Sprache und Literatur am Leningrader Institut für Pädagogik auf. Im Zweiten Weltkrieg meldete sie sich 1941 als Freiwillige an die Front und wurde als Krankenschwester in Sanitätszügen eingesetzt. Nach zwei Verwundungen wurde sie im August 1945 als Invalidin demobilisiert.

1947 begann sie, am Ersten Leningrader Medizinischen Institut zu studieren. Im März 1953 weigerte sie sich, auf einer Versammlung des sowjetischen Jugendverbandes Komsomol angebliche „Mörder-Ärzte“ zu verdammen, die angeklagt waren, an einer Verschwörung gegen Stalin beteiligt zu sein. Vor einem Verweis von der Hochschule schützte sie Stalins Tod und die Einstellung der „Ärzte-Affäre“. Nach Abschluss ihres Studiums arbeitete sie als Bezirksärztin und Kinderärztin auf einer Entbindungsstation und unterrichtete an einer Medizinschule.

Ihre medizinische Arbeit verband sie mit literarischen Tätigkeiten. Ihre Skizzen wurden in den Zeitschriften „Neva” (Newa), „Junost‘” (Jugend) und „Literaturnaja gazeta” (Literaturzeitung) gedruckt. Sie arbeitete als Redakteurin in der Leningrader Außenstelle des Staatlichen Medizinverlages, aber auch als freie literarische Beraterin des Schriftstellerverbands. Sie beteiligte sich an der Redaktion des Sammelbandes „An den Fronten des Großen Vaterländischen Krieges gefallene Schauspieler“ (Aktëry, pogibšie na frontach Velikoj Otečestvennoj Vojny) und redigierte die 1964 erschienenen „Tagebücher, Briefe, Gedichte“ (Dnevniki, pis‘ma, stichi) des Dichters Wsewolod Bagritzki mit. Dieser war seit Jugendtagen ein Freund Bonners und fiel an der Front.

In der zweiten Hälfte der 60er Jahre führte Felix Krasawin seinen Freund Eduard Kusnezow, den er als politischer Häftling in den *mordwinischen Lagern kennen gelernt hatte, in den Freundeskreis von Jelena Bonner ein. Ihm folgten Waleri Tschalidse und andere Dissidenten, die in ihr Haus kamen. Als vorgebliche „Verwandte“ von Kusnezow, der 1970 verhaftet wurde, nahm sie am *Flugzeug-Prozess teil, protokollierte den Prozessverlauf und bemühte sich im Untersuchungsgefängnis und später auch während seiner Lagerhaft um Besuchstermine bei Eduard Kusnezow. Als der KGB 1973 die Umstände aufdeckte, unter denen die Tagebücher von Eduard Kusnezow in den Westen geschmuggelt worden waren, gab sie eine Erklärung ab, in der sie die Verantwortung für die Weitergabe übernahm.

Andrei Sacharow lernte sie bei Waleri Tschalidse kennen. Beide trafen sich erneut im Oktober 1970 in Kaluga 190 Kilometer südwestlich von Moskau beim Prozess gegen Rewolt Pimenow und Boris Wail und heirateten 1971.

1972 trat Bonner aus der KPdSU aus, der sie sieben Jahre angehört hatte. In den folgenden Jahren nahm sie bis 1976 aktiv an Kampagnen zur Verteidigung der Menschenrechte teil. Ihre Unterschrift stand nicht nur unter zahlreichen Petitionen zur Verteidigung einzelner Verfolgter, sie unterzeichnete auch allgemeinpolitische Aufrufe, so zum Beispiel Appelle für politische Amnestie, für die Abschaffung der Todesstrafe (1973) und den *Moskauer Appell von 1974. Ihren Ehemann begleitete sie auf Reisen nach Omsk, wo sie zusammen 1976 versuchten, an der Gerichtsverhandlung gegen Mustafa Dschemiljew teilzunehmen.

Das Ehepaar Sacharow organisierte den geheimen Versand zahlreicher Werke von Alexander Galitsch und Wladimir Maximow sowie des Manuskripts der Erzählung „Leben und Schicksal“ (Žizn‘ i sud’ba) von Wassili Grossman ins Ausland, das vom KGB Anfang 1961 konfisziert worden war. In ihrem Haus beriefen sie zahlreiche Konferenzen für ausländische Journalisten ein. Auf einer dieser Versammlungen wurde am 30. Oktober 1974 verkündet, dass Häftlinge der *Permer Lager und der *mordwinischen Lager einen *Tag des politischen Häftlings in der UdSSR ausgerufen hätten.

Im September 1974 rief sie einen Hilfsfonds für Kinder politischer Häftlinge ins Leben, der später mit dem *Hilfsfonds für politische Häftlinge und ihre Familien zusammengelegt wurde. Andrei Sacharow spendete das Geld des Cino-Del-Duca-Preises, der ihm in Frankreich für sein humanitäres Engagement verliehen worden war, für diesen Hilfsfonds.

1975 wurde Jelena Bonner erlaubt, zu einer medizinischen Behandlung ins Ausland zu reisen. Als im Oktober bekannt gegeben wurde, dass Andrei Sacharow der Friedensnobelpreis verliehen werde, hielt sie sich grade in Italien auf. Im Auftrag ihres Mannes vertrat sie diesen in Oslo bei der Zeremonie zur Preisverleihung.

Der *Moskauer Helsinki-Gruppe schloss sie sich im Mai 1976 an. Sie beteiligte sich aktiv daran, deren Arbeit zu organisieren und Dokumente zu redigieren. Sie war die einzige der Gründungsmitglieder, die sich zum Zeitpunkt der Selbstauflösung der Gruppe am 6. September 1982 in Freiheit und nicht im Exil befand.

Im Januar 1980 folgte sie ihrem Ehemann in die Verbannung nach Gorki, dem heutigen Nischni Nowgorod. Während der kommenden vier Jahre war sie fast die einzige Verbindung ihres Mannes mit der Außenwelt. Sie brachte seine Artikel, Briefe und Erklärungen nach Moskau und leitete sie ins Ausland weiter.

Am 2. Mai 1984 wurde auch Bonner auf dem Flughafen von Gorki verhaftet. Ihr wurden Vergehen nach *Artikel 190, Paragraf 1 Strafgesetzbuch der RSFSR vorgeworfen, allerdings wurde sie nach Hausdurchsuchung und Verhör freigelassen. Sie musste aber eine Verpflichtung unterschreiben, dass sie das Land nicht verlassen werde. Ihr wurden Interviews und öffentliche Auftritte im Ausland sowie zwei der von ihr unterzeichneten Appelle der *Moskauer Helsinki-Gruppe zur Last gelegt. Am 10. August 1984 verurteilte sie das Bezirksgericht Gorki zu fünf Jahren Verbannung, als Verbannungsort wurde – wie bei ihrem Mann – Gorki festgelegt. Damit war praktisch jegliche Verbindung des Ehepaars Sacharow zur Außenwelt gekappt.

Noch vor der Verbannung begann eine Kampagne mit beispielloser Wucht und Unerbittlichkeit, Bonner zu diskreditieren. Sie erhielt anonyme Briefe, in den Zeitungen erschienen verunglimpfende Artikel und es wurden Broschüren in Millionenauflagen herausgegeben, in denen Bonner als Frau mit dunkler Vergangenheit dargestellt wurde. Sie habe ein Akademiemitglied – Andrei Sacharow – geheiratet, um sich Vorteile zu verschaffen, und würde ihn jetzt beinahe mit Gewalt dazu zwingen, antisowjetische Erklärungen abzugeben. Sie wurde auch als Agentin ausländischer Geheimdienste und Vertreterin des internationalen Zionismus dargestellt, die auf Andrei Sacharow angesetzt worden sei. Die Kampagne fand 1983 ihren Höhepunkt in Artikeln des Historikers Nikolai Jakowlew, die in den Zeitschriften „Smena” und „Čelovek i zakon” (Mensch und Gesetz) erschienen. Jakowlew hatte auch die Broschüre „CIA gegen die UdSSR“ verfasst, die eine umfangreiche angebliche „Demaskierung“ Jelena Bonners enthielt. Die gegen sie gerichteten Verleumdungen waren nicht einfach nur Teil einer allgemeinen Hetzjagd gegen Dissidenten, sondern auch der Versuch, „der Bevölkerung das Phänomen Sacharow zu erklären“. Andrei Sacharow selbst äußerte in seinen Erinnerungen die Vermutung, dass die Erfinder des Mythos vom „bösen Genie des Gelehrten“ tatsächlich selbst daran geglaubt hätten. Im September 1983 verklagte Bonner Jakowlew wegen Verleumdung; das Gericht jedoch weigerte sich, die Klage zu bearbeiten.

Seit sie sich für die Menschenrechtsbewegung engagierte, wurden Bonner gegenüber auch „gewöhnliche“ Druckmittel verwendet: vielfache Hausdurchsuchungen, Verhaftungen, Verhöre, „Warnungen“. Außerdem wurden die Sacharows auch mit den Kindern aus ihrer ersten Ehe erpresst. Bonners Tochter Tatjana Semjonowa-Jankelewitsch und ihrem Sohn Alexej Semjonow wurde mit wechselnden Begründungen der Studienplatz entzogen, ihr Schwiegersohn Jefrem Jankelewitsch verlor seinen Arbeitsplatz, 1977 bis 1978 wurden Bonners Kinder von den Behörden schließlich zur Emigration gezwungen. Der Verlobten ihres Sohnes, Jelisaweta Alexejewa, wurde es verweigert, zu ihrem Partner auszureisen, was der Grund für den ersten Hungerstreik der Sacharows in Gorki wurde. Der Hungerstreik vom 22. November bis 9. Dezember 1981 hatte schließlich Erfolg: Jelisaweta Alexejewa durfte ebenfalls in die USA ausreisen.

Jelena Bonner war wahrscheinlich die einzige Dissidentin, die mehrfach in den Jahren 1973, 1977, 1979 und von 1983 bis 1986 ins Ausland reisen und in die Sowjetunion zurückkehren durfte. Das hing zweifellos mit der spezifischen Situation ihres Mannes zusammen: Die Behörden gingen davon aus, dass Andrei Sacharow aus seiner Zeit als Atomphysiker Träger wichtiger militärischer Geheimnisse war, weswegen man ihn weder ins Ausland reisen lassen noch zwangsaussiedeln konnte. Hätte man seiner Frau Jelena bei einer Auslandsreise die Staatsbürgerschaft entzogen, wäre das „Problem der Eheleute Sacharow“ überhaupt nicht zu lösen gewesen. Zugleich war es die weltweite Bekanntheit von Andrei Sacharow, die es nicht zuließ, seiner Frau die Ausreise zu medizinischen Behandlungen zu verweigern. Allerdings war das Erhalten von Ausreisegenehmigungen jedes Mal mit größten Schwierigkeiten verbunden. Die letzte Ausreise wurde Bonner erst nach drei langen Hungerstreiks ihres Mannes von Mai bis September 1984 sowie von April bis Juli und von Juli bis Oktober 1985 genehmigt. Ihre Verbannung wurde schließlich verkürzt und sie konnte in die USA fliegen, um sich einer komplizierten Herzoperation zu unterziehen.

Während dieser Reise schrieb sie ihr erstes Erinnerungsbuch: „Postscriptum. Buch über die Verbannung in Gorki“ (Postskriptum. Kniga o gor’kovskoj ssylke) umfasste die Ereignisse der Jahre 1983 bis 1986 und war gewissermaßen eine Verlängerung von Andrei Sacharows Erinnerungen. Die letzten Kapitel von „Postscriptum“ stellen gemeinsam mit Andrei Sacharows nach der Rückkehr aus der Verbannung geschriebenem Buch „Gorki, Moskau und überall“ (Go’rki, Moskva, dalee vezde) eine Gesamtdarstellung ihrer Zeit in der Verbannung bis zu den Anfängen der Perestroika dar.

Nach ihrer Rückkehr nach Moskau im Dezember 1986 nahm Bonner aktiv an bürgerrechtlichen und politischen Aktionen während der Perestroika teil. 1988 war sie Mitbegründerin der „Moskauer Tribüne“, einem informellen Klub demokratischer Intellektueller. Zusammen mit Andrei Sacharow initiierte sie zahlreiche Initiativen, um den armenisch-aserbeidschanischen Konflikt beizulegen.

Nach dem Tod ihres Mannes am 14. Dezember 1989 galt ihre besondere Aufmerksamkeit der Bewahrung dessen moralischen und schöpferischen Vermächtnisses. Unter der Leitung von Jelena Bonner fand der Erste Internationale Kongress zum Gedenken an Andrei Sacharow unter dem Titel „Frieden, Fortschritt, Menschenrechte“ vom 21. bis 25. Mai 1991 statt. Sie schuf einen Sacharow-Fonds, ein Sacharow-Archiv und ein Sacharow-Museum in Moskau.

Während des Putsches reformfeindlicher kommunistischer Funktionäre im August 1991 schloss sich Bonner den Verteidigern des Parlaments an. Während der Verfassungskrise und der Auseinandersetzung zwischen Präsident Boris Jelzin und dem Parlament im September und Oktober 1993 stellte sie sich entschieden auf die Seite Jelzins, der sie anschließend in die Menschenrechtskommission beim Präsidenten berief. Diese verließ sie wieder im Dezember 1994 aus Protest gegen die russische Militärintervention in Tschetschenien. Sie verteidigte aktiv das Selbstbestimmungsrecht der Armenier in *Bergkarabach, der Tschetschenen sowie der irakischen und türkischen Kurden und publizierte regelmäßig zu Menschenrechtsfragen in der russischen und internationalen Presse. 2010 unterzeichnete sie eine Erklärung der russischen Opposition gegen Präsident Wladimir Putin.

Jelena Bonner starb am 18. Juni 2011 in Boston, USA.



Nikolai Mitrochin
Aus dem Polnischen von Markus Pieper und Sonja Stankowski
Letzte Aktualisierung: 03/16

Information

Die Sonderzeichen * und # erscheinen lediglich aus technischen Gründen im Text. Auf der Ursprungs-Webseite dissidenten.eu finden sie weiterführende Links sowie die vollständige Version der Biografien mit Glossarerklärungen, Chroniken und ausführlichen Darstellungen der Oppositionsgeschichten aller Länder.