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In der Kategorie BioLex sind drei wichtige Lexika mit über 5500 Biografien von überzeugten Kommunistinnen und Kommunisten, Renegatinnen und Dissidenten im Volltext recherchierbar.

 

Das Handbuch „Deutsche Kommunisten. Biographisches Handbuch 1918 bis 1945“ wird von Andreas Herbst und Hermann Weber in der 8. aktualisierten Ausgabe herausgegeben. Auf breiter Quellenbasis werden die Schicksale deutscher Kommunisten knapp geschildert, von denen etwa ein Drittel während der NS-Diktatur und durch den Stalinistischen Terror gewaltsam ums Leben kam.

Kurzbiografien zu Personen des politischen Lebens in der DDR stellt das von Helmut Müller-Enbergs, Jan Wielgohs, Dieter Hoffmann, Andreas Herbst, Ingrid Kirschey-Feix herausgegebene Lexikon ostdeutscher Biographien „Wer war wer in der DDR?“ Ch. Links Verlag, 5. Aufl. 2010 bereit.

Zudem ist das Online-Lexikon www.dissdenten.eu ebenfalls auf unserer Seite aufrufbar. Die über 700 Biografien mit umfangreichen Informationen zu Oppositionellen, Bürgerrechtlern und  Dissidenten aus vielen Ländern Ost- und Mitteleuropas werden laufend erweitert.

 

Wer war wer in der DDR?

Daniel, Juli

* 1925 ✝ 1988




Juli Daniel kam am 15. November 1925 in Moskau zur Welt, wo er in einer Zeit der politischen Umbrüche in einer bürgerlich-jüdischen Familie aufwuchs. Sein Vater war der Schriftsteller und Dramaturg Mark Daniel. Bereits mit zwölf Jahren fertigte Juli Daniel die erste Übersetzung eines Textes an und entdeckte sein Interesse für Literatur und Dichtung. Nachdem er sich absichtlich älter gemacht hatte, wurde er 1942 in die Rote Armee eingezogen und 1943–44 bei heftigen Kämpfen in Ostpreußen an beiden Beinen schwer verwundet. Als Kriegsinvalide aus der Armee entlassen kehrte er nach Hause zurück. Trotz des Sieges über Deutschland war Daniel angesichts der vielen sinnlosen Opfer, strategischer Fehler und Gewaltverbrechen durch den Krieg desillusioniert.

1946 immatrikulierte sich Daniel an der Philologischen Fakultät der Universität von Charkow, wo er er Larisa Bogoras kennenlernte, die er später heiratete und mit der er einen Sohn hatte. Der 1946 eingeleiteten Kampagne gegen nicht systemkonforme, als „Kosmopoliten“ bezeichnete Künstler und Schriftsteller, die unter anderem auch der berühmten Schriftstellerin Anna Achmatowa galt, begegnete Daniel mit Unverständnis. 1947 wechselte er nach Moskau, wo er an der Pädagogischen Hochschule sein Philologiestudium fortsetzte. Während seiner Studienzeit arbeitete er als Lehrer für russische Literatur an verschiedenen Schulen. Er beschäftigte sich mit kaukasischen Sprachen und übersetzte Gedichte.

Ab 1955 arbeitete Daniel hauptberuflich als Übersetzer für Literatur und Dichtung. Er übertrug unter anderem Gedichte aus dem Ukrainischen, dem Armenischen, dem Aserbaidschanischen und aus nordkaukasischen Sprachen ins Russische und veröffentliche sie in Gedichtbänden. Darüber hinaus schrieb er eigene Gedichte und Erzählungen. Thematisch und stilistisch entsprachen sie nicht den Inhalten und Normen des Sozialistischen Realismus: Daniels Helden haben es in ihrer Welt nicht leicht, sie kämpfen für individuelle Freiheiten und ihr Recht „anders“ zu sein. 1958 lernte Daniel Andrei Sinjawski kennen. Sie wurden enge Freunde und förderten sich gegenseitig in ihrem literarischen Schaffen. Provoziert und frustriert von der sowjetischen Zensur und in dem Wunsch, eine größere Öffentlichkeit zu erreichen, begannen sie, ihre Werke unter Pseudonym im Westen zu publizieren. Von Juli Daniel, alias „Nikolai Arschak“ erschienen Anfang der 60er Jahre unter anderem die Erzählungen „Hier spricht Moskau“ (Govorit Moskva), „Hände. Der Mann aus dem MIN-AP“ (Ruki. Čelovek iz MINAPa) und „Die Sühne“ (Iskuplenie).

Den sowjetischen Behörden waren Daniels Veröffentlichungen im Ausland nicht entgangen, auch wenn es ihnen lange Zeit nicht gelang, sein Pseudonym zu enttarnen. Im September 1965 wurde er verhaftet und Anfang 1966 in einem großen Schauprozess gegen ihn und Andrei Sinjawski verurteilt. Das harte Durchgreifen gegen die beiden bekannten Schriftsteller löste in der inoffiziellen Literaturszene Bestürzung aus. Der *Prozess gegen Andrei Sinjawski und Juli Daniel gilt als Ausgangspunkt der sowjetischen Dissidentenbewegung. Die Machtdemonstration des Staates veranlasste viele nichtkonforme Literaten, aktiv Missstände und Missbrauch der Rechtsprechung anzuprangern. Daniel wurde vom Gericht wegen antisowjetischer Propaganda und Agitation im Ausland angeklagt. Während des Prozesses erklärte er, seine Werke seien falsch ausgelegt und interpretiert worden und er habe nie die Absicht gehabt, der Sowjetunion zu schaden. Es sei ihm vielmehr um eine Aufarbeitung des Stalinismus gegangen, unter dem die Sowjetunion gelitten habe. In seinem Schlusswort betonte er die ungerechte Behandlung von sowjetischen Künstlern und Literaten und warnte vor einer Verrohung der Gesellschaft. Juli Daniel wurde zu fünf Jahren Arbeitslager verurteilt, die er in den *mordwinischen Lagern und und im *Wladimir-Gefängnis verbüßte.

In Haft schrieb Daniel Gedichte und fertigte Übersetzungen für Mithäftlinge an. Sein Gedicht „Romanze über die Heimat“ (Romans o rodine) von 1970 beginnt mit den Worten:
„Mein Land, ein Wörtchen nur, so sprich!
Vor dir ist mein Gewissen rein
Soll ich denn durch Verleumdung und auf Dauer
Von dir geschieden sein?“

Nach seiner Entlassung aus der Haft im September 1970 lebte er mit seiner zweiten Frau Irina Pawlowna Uwarowa in Kaluga und später in Moskau. Eigene literarische Werke veröffentlichte er nicht mehr, war jedoch weiterhin als Übersetzer tätig, die er gezwungen wurde, unter Pseudonym, als „Ju. Petrow“ zu veröffentlichen.

Juli Daniel starb am 30. Dezember 1988 in Moskau. Zu dieser Zeit durften seine Schriften und Gedichte wieder offiziell erscheinen und wurden bis 1991 legal publiziert. Seine juristische Rehabilitation erfolgte posthum 1991.



David Vogel
Der Text entstand 2019 im Rahmen eines Seminars an der Universität Bremen unter Leitung von Prof. Dr. Susanne Schattenberg (Forschungsstelle Osteuropa).
Letzte Aktualisierung 03/20

Information

Die Sonderzeichen * und # erscheinen lediglich aus technischen Gründen im Text. Auf der Ursprungs-Webseite dissidenten.eu finden sie weiterführende Links sowie die vollständige Version der Biografien mit Glossarerklärungen, Chroniken und ausführlichen Darstellungen der Oppositionsgeschichten aller Länder.