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In der Kategorie BioLex sind drei wichtige Lexika mit über 5500 Biografien von überzeugten Kommunistinnen und Kommunisten, Renegatinnen und Dissidenten im Volltext recherchierbar.

 

Das Handbuch „Deutsche Kommunisten. Biographisches Handbuch 1918 bis 1945“ wird von Andreas Herbst und Hermann Weber in der 8. aktualisierten Ausgabe herausgegeben. Auf breiter Quellenbasis werden die Schicksale deutscher Kommunisten knapp geschildert, von denen etwa ein Drittel während der NS-Diktatur und durch den Stalinistischen Terror gewaltsam ums Leben kam.

Kurzbiografien zu Personen des politischen Lebens in der DDR stellt das von Helmut Müller-Enbergs, Jan Wielgohs, Dieter Hoffmann, Andreas Herbst, Ingrid Kirschey-Feix herausgegebene Lexikon ostdeutscher Biographien „Wer war wer in der DDR?“ Ch. Links Verlag, 5. Aufl. 2010 bereit.

Zudem ist das Online-Lexikon www.dissdenten.eu ebenfalls auf unserer Seite aufrufbar. Die über 700 Biografien mit umfangreichen Informationen zu Oppositionellen, Bürgerrechtlern und  Dissidenten aus vielen Ländern Ost- und Mitteleuropas werden laufend erweitert.

 

Wer war wer in der DDR?

Dschemilew, Reschat

* 1931 ✝ 2002




Reschat Dschemilew (Reşat Cemilev) wurde 1931 in dem Dorf Ulu-Usen (Ulu Özen, seit 1945 Generalskoje / Generalske) unweit von Aluschta (Aluşta) auf der Krim geboren und 1944 mit seiner Familie nach Wrewsk in der Oblast Taschkent in Usbekistan deportiert. Nach seiner Ausbildung an der Berufsschule für Melioration in Samarkand war er 1957 als Vorarbeiter beim Bau einer Ziegelei beschäftigt und später beim Bau einer Stahlbetonfabrik eingesetzt.

Schon in den Jahren 1956 und 1957 sammelte er Unterschriften für den *Nationalen Appell an das Präsidium des ZK der KPdSU. 1958 wurde er Opfer eines fingierten Strafverfahrens und wegen angeblichen Diebstahls von Baumaterialien zu einem Jahr Freiheitsentzug verurteilt. Nach Verbüßung der Strafe kehrte er in die Siedlung Wrewsk zurück, wo er fortan als Bauarbeiter tätig war.

1965 schloss er sich der Nationalbewegung der Krimtataren an. Am 23. Juni 1966 wurde er als *Vertreter des Volkes nach Moskau delegiert. 1967 entrollte er während der Demonstration zum 1. Mai in Taschkent gemeinsam mit dem Arbeiter Remsi Junusow vor der Regierungstribüne ein Transparent mit der Aufschrift: „Kommunisten, erlaubt den Tataren, auf die Krim zurückzukehren! Setzt das Leninʼsche Dekret vom 18. Oktober 1922 wieder in Kraft – ASSR Krim!“ Er war Teilnehmer des *Treffens im Kreml am 21. Juli 1967 und Mitorganisator einer Kundgebung auf dem Platz der Revolution in Taschkent am 27. August 1967, die von der Miliz jedoch sofort aufgelöst wurde. Dschemilew wurde festgenommen. Als er 15 Tage später freikam, musste er sich schriftlich verpflichten, die Stadt nicht zu verlassen. Der Prozess gegen ihn und elf weitere Aktivisten der krimtatarischen Bewegung fand vor dem Stadtgericht Taschkent statt. Am 13. Dezember 1967 wurde Dschemilew nach Artikel 191, Paragraf 6 Strafgesetzbuch der Usbekischen SSR (entspricht *Artikel 190, Paragraf 3 Strafgesetzbuch der RSFSR) und Artikel 192, Paragraf 1 Strafgesetzbuch der Usbekischen SSR wegen „Widerstands gegen Milizbeamte in Verbindung mit Gewalt oder Androhung von Gewalt“ zu einem Jahr „Besserungsarbeit“ verurteilt.

Im Frühjahr 1968 scheiterte er mit dem Versuch, dauerhaft auf die Krim zurückzukehren. Im selben Jahr fand er Anschluss an die Moskauer Menschenrechtsaktivisten Pawel Litwinow, Pjotr Jakir und Pjotr Grigorenko, mit denen er fortan enge Kontakte pflegte. Auf Bitten Grigorenkos beobachtete er am 25. August 1968 in Moskau den Verlauf der *Demonstration der Sieben gegen den *Einmarsch von Truppen des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei. Im Dezember 1968 unterschrieb er einen Appell an den Obersten Sowjet der UdSSR und der RSFSR, in dem sich die Unterzeichner solidarisch mit den verurteilten Demonstranten erklärten. Bei der Beerdigung des oppositionellen Schriftstellers Alexei Kosterin am 10. November 1968 in Moskau sagte er: „Unser Land sollte nicht stolz sein auf die Truppen und Panzer, die es in ein fremdes Land schickt, um diesem seinen Willen aufzuzwingen, sondern es sollte stolz sein auf Menschen wie Kosterin, die sich ohne Furcht vor den Konsequenzen für die Menschenrechte und die Rechte kleiner Völker eingesetzt haben.“ Der Text der Rede erschien im Samisdat in dem Gedenkband „Pamjati A. J. Kosterina“ (In memoriam A. J. Kosterin).

1969 zog Dschemilew mit seiner Familie in die Region Krasnodar und siedelte sich in dem Ort Nischni Bakanski an. Dort sammelte er rund 1.000 Unterschriften für eine Petition der Krimtataren. Der Text „An die Menschen guten Willens, Demokraten und Kommunisten“ wurde vom KGB beschlagnahmt. In einem gemeinsam mit anderen krimtatarischen Aktivisten verfassten Text rief er im April 1969 in Moskau dazu auf, die Welle der Willkür und Unterdrückung zu beenden und den Krimtataren die Rückkehr in ihre historische Heimat zu ermöglichen. Das Dokument wurde an das Büro des ZK der KPdSU und an westliche Journalisten übermittelt.

Dschemilew war Teilnehmer der *Demonstration der Sechs am 6. Juni 1969 auf dem Moskauer Majakowski-Platz, wo er ein Transparent mit der Losung „Freiheit für General Grigorenko, Freund des krimtatarischen Volkes!“ entrollte. Alle Teilnehmer der Demonstration wurden verhaftet und an ihren Wohnort zurückgebracht. Die Staatsanwaltschaft in Krymsk (Region Krasnodar) drohte Dschemilew mit einer Festnahme wegen „Schmarotzertums und Landstreicherei“. Am 15. Juni 1969 kam er für 15 Tage in Haft, danach tauchte er mit seiner Familie bei einem Freund in Dagestan unter. Im Mai 1970 kehrte er nach Usbekistan zurück, wo er in Akkurgan (Oqqo’rg’on) bei Taschkent auf dem Bau arbeitete. 1971 wurde auf Geheiß der lokalen Behörden sein Haus abgerissen.

Er war Delegierter des unionsweiten Treffens der *Vertreter des Volkes (7.–8. Mai 1972) in der ostusbekischen Stadt Margilan (Margʻilon) und gehörte zu den Unterzeichnern der dort verabschiedeten Dokumente: der *„Informationen“ Nr. 25 und des Appells des krimtatarischen Volkes aus Anlass des 50. Jahrestages der Gründung der UdSSR. Später wurde ihm die Abfassung und Verbreitung der Texte zur Last gelegt. Am 12. Juli 1972 wurden bei einer erneuten Hausdurchsuchung Dokumente der krimtatarischen Nationalbewegung beschlagnahmt. Dschemilew wurde am 12. Oktober 1972 verhaftet und vom Bezirksgericht in Taschkent am 12. April 1973 nach *Artikel 190, Paragraf 1 Strafgesetzbuch der RSFSR und *Artikel 190, Paragraf 3 Strafgesetzbuch der RSFSR zu drei Jahren Haft verurteilt. Die Strafe verbüßte er in einem Strafgefangenenlager in der Region Krasnojarsk.

Nach seiner Freilassung am 10. Oktober 1975 reiste er nach Moskau, um dort eine Unterstützungskampagne für Mustafa Dschemilew zu organisieren, dem ein weiterer Gerichtsprozess drohte. Gemeinsam mit Pjotr Grigorenko führte er einige Pressekonferenzen für westliche Journalisten durch. Auf der Krim und in der Region Krasnodar sammelte er Unterschriften. Zusammen mit Andrei Sacharow und Pjotr Grigorenko war er Unterzeichner eines Briefes an die UNO, in dem transparente Ermittlungen gegen Mustafa Dschemilew gefordert wurden. Auch danach setzte er sich immer wieder für den mehrfach verhafteten, angeklagten und verurteilten Mustafa Dschemilew ein. So wandte er sich 1978 und 1979 mit einem offenen Brief unter anderem an den saudischen König (den er auch über die Selbstverbrennung Musa Mamuts informierte) und den dreifachen Boxweltmeister Muhammad Ali und unterstützte Petitionen und Solidaritätskampagnen, 1986 unter anderem mit Beteiligung der US-amerikanischen Krim-Diaspora.

Bereits 1977 hatte Reschat Dschemilew einen Antrag auf Ausreise in die USA gestellt, der jedoch erfolglos blieb. 1978 unterstützte er das Dokument Nr. 58 der *Moskauer Helsinki-Gruppe anlässlich des zehnten Jahrestages des *Einmarsches von Truppen des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei. Am 4. April 1979 wurde Reschat Dschemilew nach einer weiteren Hausdurchsuchung bereits zum vierten Mal verhaftet. Im Prozess, den das Stadtgericht Taschkent vom 2. bis 17. Dezember 1979 verhandelte, wurde er gemäß Artikel 191, Paragraf 4 Strafgesetzbuch der Usbekischen SSR (entspricht *Artikel 190, Paragraf 1 Strafgesetzbuch der RSFSR) zu drei Jahren Freiheitsentzug verurteilt. Er saß im Strafgefangenenlager der nordsibirischen Stadt Norilsk ein, wo er mehrfach mit Karzerhaft bestraft wurde. Am 3. April 1982 wurde er aus der Haft entlassen.

Bis 1987 war Reschat Dschemilew zusammen mit Mustafa Dschemilew an der Vorbereitung und Durchführung der landesweiten Treffen der *Initiativgruppen in Taschkent sowie an der Ausarbeitung der hier verabschiedeten Dokumente beteiligt. Er war Mitglied der Delegation, die im Juli 1987 zur *Audienz im Kreml nach Moskau fuhr.

1989 reiste er zum ersten Mal ins Ausland und hielt in New York eine Rede auf einer internationalen Islam-Konferenz. Anfang der 90er Jahre kehrte er auf die Krim zurück und war an der Etablierung des *Medschlis des Krimtatarischen Volkes beteiligt. Später stand er mit seiner Haltung im Widerspruch zu den Ansichten der neuen Führung unter Mustafa Dschemilew und kritisierte die Aktivitäten des Vertretungsorgans. 1997 brachte er unter dem Titel „Nekotoryje dokumenty, fakty i kommentarii o Nacjonal‘nom dviženii krymskotatarskogo naroda pri sovetskom režime v SSSR“ (Ausgewählte Dokumente, Fakten und Kommentare zur Nationalbewegung des krimtatarischen Volkes während der Zeit des sowjetischen Regimes in der UdSSR) einen Zyklus mit Erinnerungen zu Papier, der jedoch unveröffentlicht blieb.

Reschat Dschemilew starb am 22. März 2002 in Simferopol.



Autorenteam der Stiftung „Initiative der Krimtataren“
Aus dem Polnischen von Gero Lietz
Letzte Aktualisierung: 10/20

Information

Die Sonderzeichen * und # erscheinen lediglich aus technischen Gründen im Text. Auf der Ursprungs-Webseite dissidenten.eu finden sie weiterführende Links sowie die vollständige Version der Biografien mit Glossarerklärungen, Chroniken und ausführlichen Darstellungen der Oppositionsgeschichten aller Länder.