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In der Kategorie BioLex sind drei wichtige Lexika mit über 5500 Biografien von überzeugten Kommunistinnen und Kommunisten, Renegatinnen und Dissidenten im Volltext recherchierbar.

 

Das Handbuch „Deutsche Kommunisten. Biographisches Handbuch 1918 bis 1945“ wird von Andreas Herbst und Hermann Weber in der 8. aktualisierten Ausgabe herausgegeben. Auf breiter Quellenbasis werden die Schicksale deutscher Kommunisten knapp geschildert, von denen etwa ein Drittel während der NS-Diktatur und durch den Stalinistischen Terror gewaltsam ums Leben kam.

Kurzbiografien zu Personen des politischen Lebens in der DDR stellt das von Helmut Müller-Enbergs, Jan Wielgohs, Dieter Hoffmann, Andreas Herbst, Ingrid Kirschey-Feix herausgegebene Lexikon ostdeutscher Biographien „Wer war wer in der DDR?“ Ch. Links Verlag, 5. Aufl. 2010 bereit.

Zudem ist das Online-Lexikon www.dissdenten.eu ebenfalls auf unserer Seite aufrufbar. Die über 700 Biografien mit umfangreichen Informationen zu Oppositionellen, Bürgerrechtlern und  Dissidenten aus vielen Ländern Ost- und Mitteleuropas werden laufend erweitert.

 

Wer war wer in der DDR?

Geremek, Bronisław

* 1932 ✝ 2008




Bronisław Geremek wurde 1932 in Warschau geboren. 1954 schloss er sein Studium an der Historischen Fakultät der Warschauer Universität ab, führte es dann aber an der École Pratiques des Hautes Études in Paris fort. Von 1955 bis 1985 arbeitete er (mit einer Pause in den Jahren 1960–1965) im Institut für Geschichte der Polnischen Akademie der Wissenschaften und leitete 1965–1980 die Arbeitsstelle für mittelalterliche Kulturgeschichte. 1962–1965 hielt er auch Vorlesungen an der Pariser Sorbonne und war Direktor des dortigen Polnischen Kulturzentrums.

Als Zeichen des Protestes gegen den *Einmarsch von Truppen des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei 1968 trat er aus der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (Polska Zjednoczona Partia Robotnicza; PZPR) aus, deren Mitglied er seit 1950 war. Im Herbst 1968 nahm er an einem illegalen Seminar zu sozialen und ökonomischen Problemen teil, das bis 1971 stattfand und von einem Kreis ehemaliger „Revisionisten“ organisiert wurde: Włodzimierz Brus, Tadeusz Kowalik, Krzysztof Pomian. Geremek war zusammen mit Edward Lipiński, Krystyna Kersten, Krzysztof Wolicki und anderen Autor des „Briefes der 7“ vom 6. Dezember 1975, der an die Delegierten des VII. Parteitages der PZPR und ihren Ersten Sekretär Edward Gierek gerichtet war. Darin forderten sie unter anderem die Demokratisierung des Wahlsystems, die Beteiligung der Bürger an ökonomischen und sozialen Grundsatzentscheidungen, eine freie Presse sowie freie Arbeiterräte und Gewerkschaften. Im Frühjahr 1977 schrieb er mit Maria Dziewicka, Karol Modzelewski, Jan Strzelecki und anderen einen Brief an die Staatsmacht, in dem er sich mit den verhafteten Mitgliedern des Komitees zur Verteidigung der Arbeiter (Komitet Obrony Robotników; *KOR) solidarisierte.

Seit Frühjahr 1978 engagierte sich Geremek in der Programmkommission der *Gesellschaft für Wissenschaftliche Kurse (Towarzystwo Kursów Naukowych; TKN), wo er staatlich unabhängige Vorlesungen und Seminare der sogenannten Fliegenden Universität mitorganisierte.

Während der großen Streikwelle 1980 gehörte Geremek zu den Intellektuellen, die am 20. August mit ihrem „Appell der 64“ die Forderungen der Streikenden unterstützten und die kommunistischen Machthaber zum Dialog aufforderten. Gemeinsam mit Tadeusz Mazowiecki begab er sich am 22. August in das Zentrum der Streikbewegung, auf die Danziger Lenin-Werft, wo er am 24. August Mitglied der Expertenkommission beim Überbetrieblichen Streikkomitee wurde. Anschließend beriet er in Danzig auch das Überbetriebliche Gründungskomitee sowie die Landesverständigungskommission (Krajowa Komisja Porozumiewawcza; KKP) der *Solidarność. Er war Mitautor des *Solidarność-Statuts sowie der grundlegenden Programminhalte. Am 6. Januar 1981 wurde er Vorsitzender des Programm- und Konsultationsrates des Zentrums für sozial-gewerkschaftliche Probleme bei der Landesverständigungskommission. Während des I. Landesdelegiertenkongresses der *Solidarność im September/Oktober 1980 war er Vorsitzender der Programmkommission. Zugleich schrieb er am politischen Programm der *Solidarność „Selbstverwaltete Republik“ mit, das die Grundlage für ein demokratisches Polen in folgenden Elementen sah: Weltanschaulicher und politischer Pluralismus, Garantie der bürgerlichen Freiheiten und der Menschenrechte, Gleichheit vor dem Gesetz, Unabhängigkeit der Justiz, Arbeiterselbstverwaltung, demokratische Wahlen zu den regionalen Selbstverwaltungsorganen, freie Wahlen zum Sejm, Einrichtung einer zweiten Parlamentskammer und eines Verfassungsgerichts. Diese Veränderungen sollten sich „langsam“ und „von unten“ unter der Voraussetzung entwickeln, „dass es dabei zu keiner Destabilisierung des politischen Systems kommt“.

In Übereinstimmung mit diesem Ansatz trat Geremek dafür ein, zwar eine Verständigung mit den Machthabenden zu suchen, jedoch keine Beteiligung an der Macht anzustreben. Während der durch einen brutalen Milizeinsatz gegen die *Solidarność ausgelösten „Bromberger Krise“ (Kryzys bydgoski) im März 1981 spielte Geremek eine Schlüsselrolle beim Zustandekommen der Verständigung in Warschau. Diese Übereinkunft mit den Machthabern führte dazu, dass der von der *Solidarność angekündigte Streik abgesagt wurde und die Staatsmacht zusagte, die Verantwortlichen für die Übergriffe in Bromberg zur Rechenschaft zu ziehen. Außerdem erklärte sie sich einverstanden, die bis dahin illegale *Unabhängige Selbstverwaltete Gewerkschaft der Einzelbauern „Solidarność“ (Niezależny Samorządny Związek Zawodowy Rolników Indywidualnych „Solidarność“) zuzulassen. Im November 1981 nahm Geremek am Treffen einer *Solidarność-Delegation mit Primas Józef Glemp und an Gesprächen mit den kommunistischen Machthabern über die Einberufung eines Gesellschaftlichen Volkswirtschaftsrates teil, der die staatliche Wirtschaftspolitik kontrollieren sollte. Auch auf der letzten Sitzung der Landeskommission am 11. und 12. Dezember 1981 in Danzig gehörte Geremek zu den Verfechtern eines gemäßigten Kurses.

Mit der Ausrufung des Kriegsrechts am 13. Dezember 1981 wurde auch Geremek interniert. Man hielt ihn im Warschauer Stadtteil Białolęka sowie in Jaworze und Darłówko in Pommern fest, und ließ ihn erst im Dezember 1982 mit der letzten Gruppe Internierter frei. Am 17. Mai 1983 wurde er erneut unter dem Vorwurf der Organisation illegaler Versammlungen festgenommen. Im Juli kam er aufgrund einer Amnestie wieder auf freien Fuß.

Wegen seiner Arbeit in der *Solidarność wurde Geremek mehrfach von der Staatssicherheit verhört, seine Wohnung wurde durchsucht. Von 1968 bis 1980 sowie von 1982 bis 1988 entzogen die Behörden ihm seinen Reisepass, 1985 verlor er seine Arbeit am Historischen Institut der Polnischen Akademie der Wissenschaften.

Ab 1983 war Bronisław Geremek Berater des *Provisorischen Koordinierungsausschusses (Tymczasowa Komisja Koordynacyjna; TKK) der *Solidarność und Lech Wałęsas. Am 10. Februar 1983 schrieb er gemeinsam mit Tadeusz Mazowiecki und Lech Wałęsa einen Brief an den Sejm, in dem sie die Freilassung der Solidarność-Aktivisten und der *KOR-Mitglieder forderten, die auch nach Beendigung der Internierungen noch im Gefängnis saßen. Von Oktober 1983 bis in das Jahr 1984 hinein nahm er an Gesprächen über die Freilassung von Gefangenen teil, die unter der Schirmherrschaft des polnischen Episkopats stattfanden.

Geremek war Mitautor des in Oppositionskreisen vorbereiteten Buches „Rapport: Polen fünf Jahre nach dem August“ (Raport: Polska 5 lat po sierpniu). Nach einer allgemeinen Amnestie 1986 sprach sich Geremek in einem Interview für den im Untergrund erscheinenden *„Tygodnik Mazowsze“ (Masowisches Wochenblatt) für eine neue Vereinbarung „im Geiste der Verständigung vom August [1980 zwischen *Solidarność und Regierung]“ aus, die dem Freiheitsbedürfnis der Gesellschaft Rechnung tragen und wirtschaftliche Reformen, die Unabhängigkeit der Kirche und die Entwicklung der Privatbauern voranbringen sollte.

Er war einer der Unterzeichner des Appells vom 10. Oktober 1986, der zur Aufhebung der amerikanischen Wirtschaftssanktionen gegen Volkspolen aufrief. Zusammen mit Krzysztof Śliwiński, Tadeusz Mazowiecki, Janusz Onyszkiewicz nahm er an zahlreichen Treffen von *Solidarność-Vertretern mit Politikern und Journalisten aus dem Westen teil. Im Dezember 1988 fuhr er gemeinsam mit Lech Wałęsa nach Paris, zu seiner ersten Auslandsreise nach dem *Kriegsrecht.

Die ideellen Wurzeln seines politischen Denkens stellte Geremek im November 1986 anlässlich eines öffentlichen Auftrittes im Französischen Kulturinstitut in Warschau vor (veröffentlicht in der Untergrundzeitschrift *„Krytyka“, Nr. 25). Deutlich auf die gegenwärtige Situation in Polen bezogen, betonte er, „dass ein allmächtiger Staat zur [...] Verschlechterung des Schicksals der Menschen führt“. Der etatistischen Vision des Staates, „die zur „totalitären Versuchung“ führt, stellte er eine Konzeption von Demokratie entgegen, in der der Mensch „durch die Bedürfnisse der Freiheit zum Bürger wird“. Indem er zwischen Markt und Kapitalismus differenzierte, erkannt er an, „dass der Ausgangspunkt aller reformatorischen Bemühungen im Markt liegen müsse“, welcher der Antrieb der Freiheit sei. Geremek bezog sich auf die Enzyklika „Laborem exercens“ Johannes Pauls II., auf den Personalismus Emmanuel Mouniers und die dem sozialdemokratischen Denken verwandten Ideen Edward Abramowskis und Stefan Ossowskis. Er schrieb über die Bedeutung der Moralität des individuellen Menschen, der Rückkehr seiner Herrschaft über alle Dinge – auch über den Staat – und bezog sich auf die Konzeptionen der Subjekthaftigkeit der Gesellschaft mit Hilfe von „Vermittlungsorganismen“ genannten Selbstverwaltungen und Vereinigungen zur Realisierung gemeinsamer Interessen von Menschen, die so tätig sind, dass sie die Rechte des Menschen und des Bürgers verteidigen und die Allmacht des Staates einschränken. Er sah in der *Solidarność ein Beispiel für die tatsächliche Beteiligung der Bürger am öffentlichen Leben, durch die „mehr Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ in ganz Europa erreicht werden könne.

1987 wurde er Berater der Landesarbeitskommission der *Solidarność. Grundzüge einer neuen Außenpolitik skizzierend, schrieb Geremek damals über die Notwendigkeit der Zusammenarbeit mit Polens Nachbarn Ukraine und Litauen, aber auch mit der Tschechoslowakei und Ungarn. Dabei unterstrich er die Wichtigkeit der Vereinigung der oppositionellen Aktivitäten in diesem Teil Europas und der Entstehung einer mitteleuropäischen Gemeinschaft, die gegenüber dem geteilten bzw. – was er voraussah – wiedervereinigten Deutschland und gegenüber Russland mit einer Stimme sprechen könnte und damit unabhängiger wäre. Von Anfang an sah er die Bedeutung von Michail Gorbatschows Reformen für den gesamten Ostblock. Die Freilassung Andrei Sacharows im Jahre 1987 begrüßte Geremek als Hoffnung auf eine auf das „souveräne Recht der Nationen“ gestützte Verständigung zwischen Polen und Russen. Er schrieb unter eigenem Namen in der Untergrundpresse, zum Beispiel in der von ihm mit geleiteten Zeitschrift „21“ sowie in *„Krytyka“ (Kritik), „Przegląd Polityczny“ (Politische Rundschau) und „Myśl Niezależna“ (Unabhängiges Denken).

Am 24. April 1987 wurden er und Janusz Onyszkiewicz, Magdalena Sokołowska und Klemens Szaniawski von Regierungssprecher Jerzy Urban beschuldigt, Kontakte zu einem Agenten des amerikanischen Geheimdienstes zu unterhalten. (In den 90er Jahren wurde in diesem Zusammenhang gegen Urban ein Verleumdungsprozess angestrengt, der mit einer öffentlichen Entschuldigung Urbans endete.)

Geremek war auch Mitautor der „Erklärung der 62“ vom 31. Mai 1987, die von *Solidarność-Aktivisten und der Gewerkschaft nahestehenden Intellektuellen unterschrieben wurde. Die Erklärung, die anlässlich des Polenbesuches von Papst Johannes Paul II. entstand, hob nicht nur das Recht Polens auf Unabhängigkeit deutlich hervor, sondern listete auch die Notwendigkeiten der Garantie der Gleichheit vor dem Gesetz, der Gewissensfreiheit, Überzeugungs- und Meinungsfreiheit, „der Anerkennung pluralistischer Prinzipien im gesellschaftlichen und politischen Leben“ auf. Ziel war die Souveränität Polens verstanden als „Freiheit im Bereich der Innenpolitik, Freiheit von äußerer Beeinflussung und gleichberechtigte Beziehungen mit anderen Staaten“.

Einen neuen Vorschlag für Gespräche der Solidarność-Opposition mit den kommunistischen Machthabern machte Geremek am 15. Dezember 1987 in einem Interview für die legal erscheinende Zeitschrift „Konfrontacje“ (Konfrontationen; Nr. 2/1988): Er rief das Angebot zu einem „Anti-Krisen-Pakt“ des I. Solidarność-Kongresses in Erinnerung, nannte als Bedingung für die Aufnahme von Verhandlungen jedoch die Legalisierung der *Solidarność. Geremek schlug die Machtbegrenzung der Kommunisten auf die auswärtige Politik, die Verteidigungs- und Sicherheitspolitik vor und sprach sich für die Rückkehr zu demokratischen Prinzipien und die Ausweitung der bürgerlichen Freiheitsrechte aus. Konkret schlug er die Einrichtung einer zweiten Parlamentskammer vor, „in der sich verschiedene gesellschaftliche Interessen artikulieren“ können, sowie die freie Betätigung von Vereinigungen und politischen Klubs, die Sozialfürsorgesystems sowie die Wiedereinführung lokaler Selbstverwaltungen. Nicht zuletzt hob er die Bedeutung des Marktes und Probleme des Privateigentums als Schlüsselfragen der Wirtschaftsreform hervor.

Im Mai 1988 erklärte Geremek in einem Interview für die Zeitschrift „Res Publica“: „Die Polen wollen Freiheit und Unabhängigkeit, und sie haben ein Recht darauf. Der Realismus im politischen Denken [...] der 80er Jahre erkannte dagegen sowohl das real existierende politische System als auch die Möglichkeit seiner Reformierbarkeit an.“ Zukunftschancen sah er vor allem in der Wechselwirkung zwischen der von den Machthabern als notwendig erachteten Ausweitung wirtschaftlicher und den sich Freiraum verschaffenden gesellschaftlichen und politischen Freiheiten.

Seit der Zeit der Arbeiterstreiks im August 1988 war Geremek an der Vorbereitung von Gesprächen mit den kommunistischen Machthabern beteiligt. Zusammen mit Andrzej Stelmachowski formulierte er am 24. August 1988 den Aktionsplan der Opposition, der Verhandlungen über die Legalisierung der *Solidarność, gesellschaftlich-politischen Pluralismus in Form freier Vereinigungen und politischer Klubs sowie einen Antikrisenpakt vorsah.

Am 26. Oktober 1988 nahm Geremek im *„Tygodnik Mazowsze“ (Nr. 268) auf das Programm des I. *Solidarność-Kongresses Bezug und definierte Grundsätze für einen neuen „Gesellschaftsvertrag“, auf dem die Reformen des Wirtschaftssystems sowie die „Systemtransformation zur Demokratisierung des öffentlichen Lebens in Polen aufbauen sollten. Die Grundsätze waren: freie Wahlen, die Gleichheit aller Bürger sowie das Prinzip der Vertretung aller gesellschaftlichen Gruppen.“ Diese Veränderungen könnten in einem evolutionären Prozess vonstattengehen, der mit den „Ergebnissen der Beratungen eines Runden Tisches“ beginnen würde. Geremeks Konzeption war die einer „minimalen Zusammenarbeit“ mit den kommunistischen Machthabern, eine Koalitionsregierung mit den Herrschenden sah er nicht.

Nachdem der erste Anlauf für einen *Runden Tisch im Oktober 1988 gescheitert war, mahnte Geremek im PEN-Club „die Unabhängigkeit Polens als nationale Aufgabe, als Aufgabe für heute“ an.

Geremek war Mitorganisator des Bürgerkomitees beim *Solidarność-Vorsitzenden im Dezember 1988, dessen allgemeine Beratungen er neben der Kommission für politische Reformen leitete.

Am 27. Januar 1989 nahm er zusammen mit Lech Kaczyński, Tadeusz Mazowiecki, Zbigniew Bujak und Lech Wałęsa an den Gesprächen mit Vertretern der Kommunistischen Partei in Magdalenka bei Warschau teil, um die Verhandlungen am *Runden Tisch vorzubereiten. Die Grundsatzfragen, um die es dabei ging, waren die Legalisierung der *Solidarność, die Zustimmung der Opposition zur Durchführung von „nichtkonfrontativen“ Wahlen zum Sejm, die Zusammensetzung der Teilnehmer und die Tagesordnung des *Runden Tisches. Geremek forderte freie Wahlen, den Zugang zu den Massenmedien, die Unabhängigkeit der Gerichte, die lokale Selbstverwaltung, die Zulassung des *Unabhängigen Studentenverbandes (Niezależne Zrzeszenie Studentów; NSZ) und der Selbstverwalteten Gewerkschaft der Einzelbauern „Solidarność“.

Geremek war Mitglied der Plenarberatungen des *Runden Tisches und einer der Vorsitzenden der Arbeitsgruppe für politische Reformen. Auch an anderen vertraulichen Gesprächen am Rande der Verhandlungen in Magdalenka nahm er zusammen mit Tadeusz Mazowiecki und anderen teil. Die Erkenntnis, dass es nicht möglich sein werde, aus dem Stand einen völlig demokratischen Staat zu schaffen, führte ihn zu der Taktik, als Verhandlungsziel die Dynamisierung des Demokratisierungsprozesses zu sehen, und gleichzeitig die getroffenen Einzelentscheidungen als einmalige Vereinbarungen zu begreifen, die den Weg in Richtung vollkommen freie und demokratische Wahlen öffnen.

Im Verlauf der Verhandlungen am *Runden Tisch erreichte die *Solidarność-Seite mit Geremek als einem ihrer Hauptunterhändler die Zustimmung, dass für 35 % der Parlamentssitze unabhängige Kandidaten aus der Gesellschaft aufgestellt werden können und diese vollkommen frei zu wählen seien. Außerdem einigte man sich auf freie Betätigungsmöglichkeiten von Parteien und Vereinigungen sowie auf die Abschaffung des Medienmonopols der Kommunisten.

In den halbfreien Wahlen vom 4. Juni 1989 errang Bronisław Geremek ein Abgeordnetenmandat auf der Liste des *Bürgerkomitees (Komitet Obywatelski) und wurde Vorsitzender des Parlamentarischen Bürgerklubs (Obywatelski Klub Parlamentarny), der politischen Repräsentanz der *Solidarność im Sejm. In den vollkommen freien Wahlen 1991 und 1993 wurde Geremek wiedergewählt und blieb bis 1997 Abgeordneter. Er war nach dem Systemwechsel von 1990 zunächst im politischen Milieu der späteren Demokratischen Union (Unia Demokratyczna) aktiv (1991–94 als Fraktionsvorsitzender) und anschließend ab 1997 in der Freiheitsunion (Unia Wolności), dessen Vorsitzender er war. 1997–2000 war er Außenminister seines Landes (in seiner Amtszeit trat Polen der NATO bei) und ab 2004 Abgeordneter des Europaparlaments.

Als Professor der Geschichte hielt er Vorlesungen an zahlreichen Universitäten in Europa und den USA – zum Beispiel 1993 am Collège de France – und erhielt die Ehrendoktorwürde vieler Hochschulen. Er leitete den Lehrstuhl für Europäische Zivilisation am College of Europe in Natolin bei Warschau, war Mitglied zahlreicher wissenschaftlicher Vereinigungen, des polnischen und des französischen P.E.N.-Klubs und wurde mit höchsten staatlichen Auszeichnungen geehrt: in Frankreich als Offizier der Ehrenlegion, in Deutschland mit dem Großen Bundesverdienstkreuz mit Stern und in Polen mit dem Orden des Weißen Adlers.

Bronisław Geremek kam 2008 bei einem Autounfall in Lubień in der Woiwodschaft Großpolen ums Leben.


Marek Kunicki-Goldfinger
Aus dem Polnischen von Markus Pieper und Wolfgang Templin
Letzte Aktualisierung: 10/15

Information

Die Sonderzeichen * und # erscheinen lediglich aus technischen Gründen im Text. Auf der Ursprungs-Webseite dissidenten.eu finden sie weiterführende Links sowie die vollständige Version der Biografien mit Glossarerklärungen, Chroniken und ausführlichen Darstellungen der Oppositionsgeschichten aller Länder.