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In der Kategorie BioLex sind drei wichtige Lexika mit über 5500 Biografien von überzeugten Kommunistinnen und Kommunisten, Renegatinnen und Dissidenten im Volltext recherchierbar.

 

Das Handbuch „Deutsche Kommunisten. Biographisches Handbuch 1918 bis 1945“ wird von Andreas Herbst und Hermann Weber in der 8. aktualisierten Ausgabe herausgegeben. Auf breiter Quellenbasis werden die Schicksale deutscher Kommunisten knapp geschildert, von denen etwa ein Drittel während der NS-Diktatur und durch den Stalinistischen Terror gewaltsam ums Leben kam.

Kurzbiografien zu Personen des politischen Lebens in der DDR stellt das von Helmut Müller-Enbergs, Jan Wielgohs, Dieter Hoffmann, Andreas Herbst, Ingrid Kirschey-Feix herausgegebene Lexikon ostdeutscher Biographien „Wer war wer in der DDR?“ Ch. Links Verlag, 5. Aufl. 2010 bereit.

Zudem ist das Online-Lexikon www.dissdenten.eu ebenfalls auf unserer Seite aufrufbar. Die über 700 Biografien mit umfangreichen Informationen zu Oppositionellen, Bürgerrechtlern und  Dissidenten aus vielen Ländern Ost- und Mitteleuropas werden laufend erweitert.

 

Wer war wer in der DDR?

Havemann, Robert

* 1910 ✝ 1982




Robert Havemann wurde am 11. März 1910 in München geboren. Seine Mutter war Malerin, sein Vater Lehrer, Autor und Redakteur. Nach dem Studium der Chemie promovierte er 1935 an der Berliner Universität. Bereits 1933 hatte er sich der Widerstandsgruppe „Neu Beginnen“ angeschlossen, die sich aus oppositionellen KPD- und SPD-Mitgliedern zusammensetzte. Im Juli 1943 gründete er die Widerstandsgruppe „Europäische Union“ mit, die Verbindungen zu illegalen Organisationen ausländischer Zwangsarbeiter aufbaute und von der Deportation bedrohte Juden versteckte. Im Herbst 1943 wurden Mitglieder der Gruppe schlagartig verhaftet. Der Volksgerichtshof verurteilte Havemann und 13 weitere Angeklagte zum Tode. Befreundete Wissenschaftler erreichten jedoch, dass Havemanns Hinrichtung wegen vorgeblich „kriegswichtiger“ Forschungen mehrfach aufgeschoben wurde. In der Todeszelle, in der er für die Wehrmacht forschen sollte, baute er einen Radioempfänger und gab täglich sein illegales Nachrichtenblatt „Der Draht“ an die Mithäftlinge heraus.

Nach dem Ende der NS-Diktatur und des Zweiten Weltkrieges setzen die sowjetischen und ostdeutschen Kommunisten Havemann im Juli 1945 als Leiter der Kaiser-Wilhelm-Institute in Berlin-Dahlem ein, die im künftigen amerikanischen Sektor lagen. Er widmete sich sofort dem Aufbau einer neuen, antifaschistischen Gesellschaft, gehörte dem Hauptausschuss „Opfer des Faschismus“ an und wurde Mitbegründer des Kulturbunds. Der sowjetische Geheimdienst warb ihn an, damit er über die überlebenden Angehörigen von „Neu Beginnen“ berichtete, die als SPD-Mitglieder die Zwangsvereinigung mit der KPD zur Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) verhindern wollten. Der Kontakt wurde 1948 beendet, weil Havemann keine brauchbaren Informationen lieferte. Im gleichen Jahr setzten ihn die misstrauisch gewordenen Amerikaner als Leiter der Kaiser-Wilhelm-Institute ab, beließen ihn aber dort noch als Abteilungsleiter. Als er im Februar 1950 die amerikanischen Pläne zur Entwicklung der Wasserstoffbombe in der SED-Zeitung „Neues Deutschland“ kritisierte, wurde er endgültig entlassen.

Havemann siedelte in die DDR über und wurde Professor und Direktor des Physikalisch-Chemischen Instituts an der Humboldt-Universität Berlin. 1951 trat er in die SED ein und übernahm eine Reihe politischer und wissenschaftlicher Funktionen. Als Vertreter des Kulturbundes blieb er bis 1963 Volkskammerabgeordneter. Kurz bevor ihn die Geheimrede Chruschtschows auf dem XX. Parteitag der KPdSU erschüttern sollte, ließ er sich im Februar 1956 vom DDR-Ministerium für Staatssicherheit (MfS) als „Geheimer Informator“ (GI) dazu verpflichten, westliche Wissenschaftler wie Werner Heisenberg und Max Born auszuhorchen und sie für die DDR zu gewinnen. Ab 1959 überwachte ihn das MfS jedoch als verdächtig gewordenen Mitarbeiter. Während seiner letzten Vorlesungsreihe eröffnete das MfS 1964 gegen ihn einen Operativen Vorgang (OV).

Mit den zaghaften Enthüllungen des XX. Parteitags der KPdSU über Stalins Verbrechen fand Havemann seine eigene kritische Sicht und forderte auch die Entstalinisierung der SED. Er bewertete auf Parteiversammlungen die Streiks in Polen vom *Juni 1956 und die *Ungarische Revolution von 1956 als ein Drängen nach Demokratisierung, dem die kommunistischen Parteien nachgeben müssten und forderte Informations- und Meinungsfreiheit als Voraussetzung zur Überwindung des Stalinismus. In einem Kolloquiumsvortrag im September 1962 legte er dar, dass der Marxismus durch seine offiziellen Vertreter zunehmend diskreditiert worden sei. Da der Vortrag nicht veröffentlicht werden durfte, verschickte Havemann sein Manuskript im In- und Ausland. Als Folge wurde er 1963 aus der Universitätsparteileitung ausgeschlossen.

Im Wintersemester 1963/64 hielt er seine letzte, Aufsehen erregende Vorlesungsreihe „Naturwissenschaftliche Aspekte philosophischer Probleme“, in die über 1.000 Hörer aus dem ganzen Land und aus West-Berlin strömten. Die Vorlesungsskripte wurden von Studenten vervielfältigt und verbreitet. In den Vorlesungen erläuterte Havemann seine Vorstellung von der Freiheit des Einzelnen im Sozialismus: „Freiheit ist nur erstrebenswert, ist nur moralisch, die nicht die Freiheit Einzelner ist, sondern die Freiheit aller. […] Wahre Freiheit haben wir erst, wenn es für unser Tun und Lassen eine breite Skala von Möglichkeiten gibt […], sodass jeder ganz nach seinem individuellen Streben handeln kann, nicht beschnitten und eingeengt durch Anordnungen, Befehle und Grundsätze.“

Die SED-Führung sah darin eine Gefährdung ihrer Herrschaft. Havemann wurde als Hochschullehrer fristlos entlassen und aus der Partei ausgeschlossen. Als Vorwand diente seine Äußerung in einer Hamburger Zeitung, dass den DDR-Bürgern mehr Freiheit gegeben werden müsse als den Bewohnern westlicher Länder, denn nur auf dieser Grundlage könne der Sozialismus erfolgreich sein. Seine Entlassung aus der Arbeitsstelle für Photochemie im Dezember 1965 und der Ausschluss aus der Akademie der Wissenschaften führten zum endgültigen Berufsverbot. Der Grund hierfür war sein Artikel zur Neuzulassung der KPD in der Bundesrepublik, die er mit dem Aufruf zur demokratischen Erneuerung der SED verbunden hatte. Die SED startete daraufhin politisch und publizistisch eine Kampagne zur „politisch-ideologischen Zerschlagung und Isolierung Havemanns“.

Doch Havemann ließ sich nicht mundtot machen und prägte eine neue oppositionelle Handlungsweise. In einem Staat ohne Öffentlichkeit nahm er sich die Freiheit und wurde politischer Publizist, der über westliche Medien Einfluss auf die politischen Verhältnisse zu nehmen und Gehör bei seinen Landsleuten zu finden suchte. Jahre später entwickelten Oppositionelle daraus die Praxis, Publizität im Westen als Schutz vor Verfolgung im Osten zu schaffen. In den 60er und 70er Jahren bildeten sich um Havemann Kreise von Oppositionellen – darunter Schriftsteller und Künstler wie seine Freunde Wolf Biermann und Jürgen Fuchs. Über die Mauer hinweg suchte und fand er den Austausch mit Eurokommunisten und demokratischen Linken im Westen, die ihn unterstützten. Havemann verteidigte die Reformen des *Prager Frühlings in der Tschechoslowakei, weil Kommunisten „zum ersten Mal nicht nur mit Worten, sondern in ihren Taten die Ideen des Sozialismus mit der Idee der Freiheit“ verbunden hätten. Seine Söhne Frank und Florian wurden wegen ihrer Proteste gegen den *Einmarsch von Truppen des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei im August 1968 verhaftet.

Nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns im November 1976 stellte die SED-Führung Havemann bis Mai 1979 unter Hausarrest. Mit Mut, Fantasie und Hilfe von Freunden aus dem Osten und Westen gelang es ihm, die Isolation seines von der Staatssicherheit scharf bewachten Wohnhauses in Grünheide bei Berlin gelegentlich zu durchbrechen. So gelang es ihm beispielsweise, sich im Februar 1977 in Berlin mit Lucio Lombarde-Radice, einem Mitglied des Zentralkomitees der italienischen Kommunistischen Partei, zu treffen. Im Herbst 1978 war Havemanns Stimme im Westradio zu hören: Er hatte seine Antworten auf Fragen des in West-Berlin lebenden Manfred Wilke auf Tonbandkassetten gesprochen, aus denen, nachdem sie in den Westen geschmuggelt worden waren, das Buch „Ein deutscher Kommunist. Rückblicke und Perspektiven aus der Isolation“ entstand.

Im Mai 1979 hob die Staatsmacht den Hausarrest auf. Gleich darauf wurde Havemann wegen seiner Publikationen im Westen in einem vom MfS konzipierten Gerichtsverfahren zu einer Geldstrafe von 10.000 Mark verurteilt. Dennoch meldete er sich mit „Zehn Thesen zum 30. Jahrestag der DDR“ wieder öffentlich zu Wort, kritisierte die Verschärfung der Strafgesetze und forderte unter anderem die Zulassung einer Opposition in der Volkskammer, Meinungsfreiheit, die Haftentlassung politisch Verurteilter, die Aufhebung der Zensur, ein unabhängiges Presseorgan und die Veröffentlichung seiner Thesen im „Neuen Deutschland“. Viele dieser Forderungen standen beim politischen Aufbruch im Herbst 1989 an erster Stelle.

1980 erschien Havemanns letztes Buch „Morgen. Die Industriegesellschaft am Scheideweg. Kritik und reale Utopie“. Er zog eine schonungslose Bilanz der sozialen Katastrophen und Krisen des 20. Jahrhunderts und legte dar, dass weder moderner Kapitalismus noch realer Sozialismus die globalen Probleme der Menschheit lösen könnten. In seinen letzten Lebensjahren unterstützte er die entstehende unabhängige Friedensbewegung und gab ihr fruchtbare Impulse. In einem Brief vom Juli 1981 forderten Havemann und Rainer Eppelmann Staats- und Parteichef Erich Honecker auf, das gesellschaftliche Leben in der DDR zu entmilitarisieren und sich für eine kernwaffenfreie Zone und für den Abzug aller ausländischen Truppen in Mitteleuropa einzusetzen. Eine Antwort blieb aus.

Am 20. September richtete Havemann einen offenen Brief an den sowjetischen Parteichef Leonid Breschnew. Havemann schlug vor, die Teilung Europas in militärische Blöcke durch Friedens- und Abrüstungsverträge zu überwinden und die beiden deutschen Staaten zu vereinigen, denn „die Teilung Deutschlands ist die Voraussetzung der tödlichsten Bedrohung, die es in Europa jemals gegeben hat“. Der Brief fand als gesamtdeutsche Initiative auch im Westen zahlreiche Mitunterzeichner. Ende 1981 arbeiteten Havemann und Rainer Eppelmann am Text des „Berliner Appells“, der diese Vorschläge erneut aufgriff und sie mit der Forderung nach Demokratie und Entmilitarisierung in der DDR verband. Dieser Appell wurde im Januar 1982 veröffentlicht, wenige Wochen vor Havemanns Tod.

Robert Havemann starb am 9. April 1982 in Grünheide. Trotz des Großaufgebots der Staatssicherheit nahmen mehrere Hundert Menschen von ihm Abschied. Das Haus, in dem er gelebt hatte, wurde auf Initiative seiner Frau Katja am 10. September 1989 zum Gründungsort des Neuen Forums.


Werner Theuer
Letzte Aktualisierung: 09/16

Information

Die Sonderzeichen * und # erscheinen lediglich aus technischen Gründen im Text. Auf der Ursprungs-Webseite dissidenten.eu finden sie weiterführende Links sowie die vollständige Version der Biografien mit Glossarerklärungen, Chroniken und ausführlichen Darstellungen der Oppositionsgeschichten aller Länder.