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In der Kategorie BioLex sind drei wichtige Lexika mit über 5500 Biografien von überzeugten Kommunistinnen und Kommunisten, Renegatinnen und Dissidenten im Volltext recherchierbar.

 

Das Handbuch „Deutsche Kommunisten. Biographisches Handbuch 1918 bis 1945“ wird von Andreas Herbst und Hermann Weber in der 8. aktualisierten Ausgabe herausgegeben. Auf breiter Quellenbasis werden die Schicksale deutscher Kommunisten knapp geschildert, von denen etwa ein Drittel während der NS-Diktatur und durch den Stalinistischen Terror gewaltsam ums Leben kam.

Kurzbiografien zu Personen des politischen Lebens in der DDR stellt das von Helmut Müller-Enbergs, Jan Wielgohs, Dieter Hoffmann, Andreas Herbst, Ingrid Kirschey-Feix herausgegebene Lexikon ostdeutscher Biographien „Wer war wer in der DDR?“ Ch. Links Verlag, 5. Aufl. 2010 bereit.

Zudem ist das Online-Lexikon www.dissdenten.eu ebenfalls auf unserer Seite aufrufbar. Die über 700 Biografien mit umfangreichen Informationen zu Oppositionellen, Bürgerrechtlern und  Dissidenten aus vielen Ländern Ost- und Mitteleuropas werden laufend erweitert.

 

Wer war wer in der DDR?

Horyn, Mychajlo

* 1930 ✝ 2013




Mychajlo Horyn wurde 1930 in dem Dorf Kniesioło (Kniselo) in der damals polnischen Woiwodschaft Lwów (Lwiw) geboren. Er war der ältere Bruder des späteren Dissidenten Bohdan Horyn. Von 1949 bis 1955 studierte er Logik und Psychologie an der Universität Lwiw. Als er den Beitritt zum Komsomol verweigerte, wurde er 1953 vorübergehend von der Hochschule suspendiert, konnte aber nach Fürsprache des Rektors der Universität, Professor Jewhen Lasarenko, das Studium wiederaufnehmen. Er unterhielt Kontakte zur im Untergrund agierenden *Organisation Ukrainischer Nationalisten, fertigte Flugblätter an und verteilte sie.

Ab 1954 arbeitete Horyn als Lehrer für Logik und Psychologie, unterrichtete ukrainische Sprache und Literatur, leitete das Bezirksbüro für Unterrichtsmethodik und war Bezirksinspektor für Bildung. Ab 1961 war er im wissenschaftlichen Bereich tätig und begann mit der Arbeit an seiner Dissertation. In der Fabrik für Autobatterien in Lwiw gründete er das erste Labor für Arbeitspsychologie und Arbeitsphysiologie der UdSSR. Zudem verfasste er zahlreiche methodische Handreichungen für Lehrkräfte und war Autor von Artikeln zu Themen aus dem Bereich der Arbeitspsychologie.
 
Im Mai 1962 nahm Horyn Kontakt mit Vertretern der *Generation der Sechziger in Kiew auf. Er sprach sich zunächst dafür aus, das herrschende Regime aus dem Untergrund heraus zu bekämpfen, ließ sich jedoch von Iwan Switlytschnyj überzeugen, dass legale und öffentliche Aktionen unter den gegebenen Bedingungen, erfolgversprechender seien. Denunziation als Teil der staatlichen Politik nämlich würde dazu führen, dass konspirative Arbeit schnell aufgedeckt würde. Horyn erkannte hier eine Analogie zu den Narodniki im 19. Jahrhundert, die ihre revolutionären Ideen zwei bis drei Jahre offen in der Bevölkerung verbreiten konnten, bis sie ins Gefängnis kamen.

In Kiew war bereits der *Klub der schöpferischen Jugend aktiv, in dessen Rahmen Diskussionen, Poesieabende, Ausstellungen und Konzerte organisiert wurden. Horyn war Mitinitiator der Gründung eines ähnlichen Klubs in Lwiw. Er organisierte den Vertrieb von politischen Schriften, die im Exil erschienen waren, sowie von heimischen Samisdat-Publikationen, die hauptsächlich als Fotokopien in Umlauf kamen. Darunter waren auch offen antisowjetische Schriften, wie der Text „Gedanken und Reflexionen eines verwirrten Lesers“ (Dumky i rozdumy zbenteżenoho čytača), der die Kluft zwischen Propaganda und Wirklichkeit thematisierte, oder die Abhandlung „Ukrainische Bildung in der chauvinistischen Schlinge“ (Ukraiinska osvita v šovinityčnomu zašmorzi), über den Pohruschalsky-Fall, bei dem es um Brandstiftung in der Zentralen Wissenschaftsbibliothek ging. Ein programmatisches Dokument der *Generation der Sechziger war der Artikel „Stand und Aufgaben der ukrainischen Befreiungsbewegung“ (Stan i zavdannia ukraiins’koho vyvolnoho ruchu) von Jewhen Pronjuk.

Horyn wurde am 26. August 1965 in Lwiw im Zuge der *ersten Verhaftungswelle festgenommen und für die Verbreitung „antisowjetischer Artikel“ nach Artikel 62, Paragraf 1 Strafgesetzbuch der Ukrainischen SSR (entspricht *Artikel 70, Paragraf 1 Strafgesetzbuch der RSFSR) angeklagt. Am 18. April 1966 wurde er auf einer nicht öffentlichen Sitzung des Gebietsgerichts in Lwiw in einem Verfahren zusammen mit seinem Bruder Bohdan Horyn sowie Myroslawa Zwarytschewska und Mychajlo Osadtschy zu sechs Jahren Lagerhaft verurteilt. Ein Schuldeingeständnis verweigerte er. Sein Schlusswort im Prozess war später in Abschriften in Umlauf.

Nach der *ersten Verhaftungswelle kam es in den *mordwinischen Lagern zu einer Belebung oppositioneller Aktivitäten: Samisdat-Publikationen erschienen, Informationen wurden nach außen geschmuggelt und Protestaktionen nationaler Gruppen trugen zu deren Stärkung bei. Wegen Propaganda und der Verbreitung illegaler Literatur im Lager verurteilte das Kreisgericht in Subowa Horyn im Juli 1967 zu drei Jahren Haft im *Wladimir-Gefängnis. Doch auch hier gelang es ihm, Berichte über die Lage der Häftlinge hinaus zu schleusen.

Am 28. August 1971 kam Horyn frei, eine Meldeadresse in Lwiw, wo seine Familie lebte, wurde ihm jedoch verweigert. Um keine Anklage wegen sogenannten „parasitären Verhaltens“ zu riskieren, nahm er eine Arbeit als Maschinist in der Oblast Riwne auf. Ab September 1972 arbeitete er als Heizer in Lwiw und war ab 1977 als Psychologe in der Fabrik „Kineskop“ beschäftigt. Daneben unterstütze er politische Häftlinge und ihre Familien bei der Abfassung von Eingaben. Er war an der redaktionellen Bearbeitung der Gründungsdokumente der *Ukrainischen Helsinki-Gruppe beteiligt und verantworte nach der Verhaftung ihrer Gründer die Herausgabe und zum Teil auch die Redaktion (Nummer 4 bis 7) des Informationsbulletins der Gruppe.

1981 wurden bei Horyn sechs Hausdurchsuchungen durchgeführt, bei denen ihm belastende Dokumente untergeschoben wurden, darunter am 23. März 1981 ein angeblich von der *Ukrainischen Helsinki-Gruppe verantworteter Text zum Fall Iwan Kandyba, einem ihrer Gründer, und am 28. November 1981 ein fünfzehnseitiger Text über die Russifizierung der Ukraine. Am 3. Dezember 1981 wurde Horyn nach einer dreizehnstündigen Hausdurchsuchung verhaftet. Als Zeichen des Protests gegen die konstruierten Vorwürfe trat er in den Hungerstreik und verweigerte die Mitarbeit an den Voruntersuchungen zum Verfahren. Zehn Tage später erlitt er einen Herzinfarkt. Am 25. Juni 1982 verurteilte ihn das Gebietsgericht in Lwiw nach Artikel 62, Paragraf 2 (entspricht *Artikel 72, Paragraf 2 Strafgesetzbuch der RSFSR) und Artikel 179 Strafgesetzbuch der Ukrainischen SSR (wegen seiner Aussageverweigerung im Fall Iwan Kandyba) zu zehn Jahren *Lagerhaft mit besonderem Vollzug und fünf Jahren Verbannung. Er wurde als besonders gefährlicher Rückfalltäter eingestuft.

Am 12. November 1982 traf Horyn im Lager der Siedlung Kutschino (*Permer Lager) ein. In den Jahren der Haft diskutierte er mit Jurij Lytwyn unter anderem über eine Reformierung der *Ukrainischen Helsinki-Gruppe. Auch verfasste er psychologische Portraits von Jurij Lytwyn, Olexa Tychyj, Walerij Martschenko und Wassyl Stus. Horyn erkrankte schwer und wurde 1986 zur Behandlung nach Lwiw gebracht. Im Rahmen der sogenannten Gorbatschow-Amnestie wurde Horyn am 2. Juli 1987 „begnadigt“. Bereits im August des Jahres gab er zusammen mit Wjatscheslaw Tschornowil und Pawlo Skotschky erneut den *„Ukrajins’kyj visnyk“ heraus.

Am 11. März 1988 unterzeichneten Horyn, Wjatscheslaw Tschornowil und Senowij Krassiwskyj als Sekretäre der *Ukrainischen Helsinki-Gruppe den „Aufruf an die ukrainische und die Weltöffentlichkeit“ (Zvernennja do ukranjins’koj ta svitovoji gromads’kosti) über die Wiederaufnahme der Tätigkeit der Gruppe. Zusammen mit seinem Bruder Bohdan Horyn und Wjatscheslaw Tschornowil verfasste er die „Grundsatzerklärung der Ukrainischen Helsinki-Union“ (Deklaracija pryncypiv Ukrajins‘koji Helsins’koji Spilky) und verlas diese am 7. Juli 1988 bei einer Kundgebung in Lwiw. Horyn gründete und leitete die *Ukrainische Initiativgruppe für die Befreiung der Gewissensgefangenen. Darüber hinaus nahm er mehrfach an Beratungen von Vertretern national-demokratischer Bewegungen in der UdSSR teil.

Am 11. August 1988 erhielt Horyn vom KGB des Gebiets Lwiw eine offizielle Verwarnung wegen „antisowjetischer Tätigkeit“. Wiederholt wurde er von der Polizei festgenommen. In Tscherniwzi (Czernowitz), wo er sich zu einer Gründungsversammlung der *Ukrainischen Helsinki-Union aufhielt, saß er 15 Tage in Haft.

1990 wurde Horyn zum Abgeordneten des Obersten Sowjets der Ukrainischen SSR gewählt. Auch 1994 und 1998 kandidierte Horyn bei den Parlamentswahlen, konnte aber kein Abgeordnetenmandat gewinnen. Er war Mitbegründer der Ukrainischen Republikanischen Partei und von Mai 1992 bis Oktober 1995 deren Vorsitzender. Nach ihrer Spaltung unterstützte er die Gründung der Christlich-Republikanischen Partei. 2000–2006 war Horyn Vorsitzender des Ukrainischen Weltkoordinationsrats. Danach zog er sich aus dem politischen Leben zurück. Horyn erhielt höchste staatliche Auszeichnungen, darunter den Verdienstorden Zweiter und Dritter Klasse (1998 und 2005), den Tapferkeitsorden Erster Klasse (2006) und den Freiheitsorden (2009).

Mychajlo Horyn starb am 13. Januar 2013 in Kiew und wurde auf dem Lytschakiwski-Friedhof unter großer öffentlicher Anteilnahme beigesetzt.



Borys Sacharow, Wassyl Owsijenko
Aus dem Polnischen von Tim Bohse
Letzte Aktualisierung: 07/20

Information

Die Sonderzeichen * und # erscheinen lediglich aus technischen Gründen im Text. Auf der Ursprungs-Webseite dissidenten.eu finden sie weiterführende Links sowie die vollständige Version der Biografien mit Glossarerklärungen, Chroniken und ausführlichen Darstellungen der Oppositionsgeschichten aller Länder.