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In der Kategorie BioLex sind drei wichtige Lexika mit über 5500 Biografien von überzeugten Kommunistinnen und Kommunisten, Renegatinnen und Dissidenten im Volltext recherchierbar.

 

Das Handbuch „Deutsche Kommunisten. Biographisches Handbuch 1918 bis 1945“ wird von Andreas Herbst und Hermann Weber in der 8. aktualisierten Ausgabe herausgegeben. Auf breiter Quellenbasis werden die Schicksale deutscher Kommunisten knapp geschildert, von denen etwa ein Drittel während der NS-Diktatur und durch den Stalinistischen Terror gewaltsam ums Leben kam.

Kurzbiografien zu Personen des politischen Lebens in der DDR stellt das von Helmut Müller-Enbergs, Jan Wielgohs, Dieter Hoffmann, Andreas Herbst, Ingrid Kirschey-Feix herausgegebene Lexikon ostdeutscher Biographien „Wer war wer in der DDR?“ Ch. Links Verlag, 5. Aufl. 2010 bereit.

Zudem ist das Online-Lexikon www.dissdenten.eu ebenfalls auf unserer Seite aufrufbar. Die über 700 Biografien mit umfangreichen Informationen zu Oppositionellen, Bürgerrechtlern und  Dissidenten aus vielen Ländern Ost- und Mitteleuropas werden laufend erweitert.

 

Wer war wer in der DDR?

Jahn, Roland




Roland Jahn wurde am 14. Juli 1953 in Jena geboren. Seine Mutter war als Buchhalterin an der Universität in Jena tätig, sein Vater als Konstrukteur im VEB Carl Zeiss Jena. Als ehrenamtlicher Sportfunktionär beim traditionsreichen Fußballklub Carl Zeiss Jena infizierte er auch Roland Jahn mit seiner Fußballbegeisterung, sodass dieser sich einige Jahre später als Nachwuchstalent beim 1. FC Carl Zeiss erfolgreich bis hin zur DDR-Junioren-Oberliga kickte.

Nach der Mittleren Reife an einer Schule mit Russisch-Spezialunterricht legte Roland Jahn 1972 das Abitur ab. Anschließend musste er als Wehrpflichtiger zur Kasernierten Bereitschaftspolizei nach Rudolstadt (Thüringen). Er wertete später die Militärzeit als schwersten Bruch in seiner Jugend. In Gewissenskonflikte stürzen ihn Übungen für Einsätze bei imaginären Studentenunruhen in seiner Heimatstadt und die Erkenntnis, dass er selbst der zu bekämpfende Feind sein könnte.

Nach seiner Entlassung kehrte Jahn 1974 nach Jena zurück. Dort opponierten immer mehr Jugendliche mit ihrer individuellen Lebensweise gegen die vom Staat verordnete Lebenseinstellung. Man traf sich privat, in den Räumen der Jungen Gemeinde, bei Wanderungen, in Lyrik- und Lesekreisen, organisierte kleine Kunstausstellungen und eigene Feste. Einige hatten Kontakte zu oppositionellen Persönlichkeiten wie *Robert Havemann, *Wolf Biermann und Jürgen Fuchs. Langsam entstand in Jena eine feste Solidargemeinschaft.

1975 begann Jahn ein Studium der Wirtschaftswissenschaften in Jena. Als er die Ausbürgerung *Wolf Biermanns 1976 kritisierte, wurde er exmatrikuliert. Er musste zur „Bewährung in die Produktion“ und arbeitete als Transportarbeiter im VEB Carl Zeiss Jena. 1978 lernte er Petra Falkenberg kennen. Gemeinsam beteiligten sie sich an der Betreuung von inhaftierten Freunden. Ihre Tochter Lina kam 1979 zur Welt. In kleinen Diskussionskreisen diskutierten sie über „Die Alternative“ von *Rudolf Bahro und andere theoretische Schriften.

Am 12. April 1981 kam Jahns zwei Tage zuvor verhafteter Freund Matthias Domaschk in der Stasi-Untersuchungshaftanstalt Gera unter bis heute nicht geklärten Umständen ums Leben. Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) verbreitete, er habe sich mit dem eigenen Hemd erhängt. Der Tod von Matthias Domaschk wirkte wie ein Fanal für oppositionelle Aktivitäten.

Zum ersten Todestag von Domaschk schaltete Jahn eine Anzeige in der Thüringer SED-Zeitung. Bewusst doppeldeutig formulierte er: „Wir gedenken unseres Freundes Matthias Domaschk, der im 24. Lebensjahr aus dem Leben gerissen wurde.“ Unterschrift: „Seine Freunde“. Jahn schnitt die Annonce aus den Zeitungen aus und klebte diese in der darauffolgenden Nacht im Zentrum von Jena an vielen Stellen an. Ein enger Freund, der Bildhauer Michael Blumhagen, fertigte zudem eine Skulptur zum Gedenken an Domaschk und stellte diese zu Ostern 1982 auf dem Friedhof auf. Heimlich will das MfS die Plastik verschwinden lassen, doch Jahn kann den Abtransport fotografieren. Die Bilder gingen über den Schriftsteller Lutz Rathenow, den Jahn schon seit seiner Schulzeit kannte und der inzwischen in Ost-Berlin wohnte, und einen in der DDR akkreditierten westdeutschen Journalisten über die Grenze zu Jürgen Fuchs nach West-Berlin. Sie wurden wie andere Fotos aus Jena in westdeutschen Magazinen veröffentlicht.

In den Jahren 1982/83 wuchs auch in Jena der Protest gegen die zunehmende Militarisierung der DDR und die Atomraketenstationierung in Ost und West. Die Jugendlichen versuchten, ihre Forderungen öffentlich zu machen. Postkarten wurden als Flugblätter genutzt und im ganzen Land verbreitet. Man gab Informationen an Jenenser, die in West-Berlin lebten, oder direkt an Westkorrespondenten weiter: „Wir schaffen Öffentlichkeit. Von Jena direkt in die Tagesschau und wieder zurück nach Jena und in die ganze DDR.“ Bei einem der zahlreichen Verhöre durch Polizei und MfS wurde Jahn zu verstehen gegeben: „Du bist wie Gift! Gift gehört in den Giftschrank, und der muss abgeschlossen werden.“ Neben dem Berliner Appell von *Rainer Eppelmann und *Robert Havemann und dem Friedensforum an der Dresdener Frauenkirche erzielten die Jenaer Aktivitäten die größte öffentliche Aufmerksamkeit in der DDR.

Am 1. Mai 1982 ging Roland Jahn zur alljährlich stattfindenden offiziellen Maiparade. Er hatte die eine Gesichtshälfte als Hitler und die andere als Stalin geschminkt und frisiert und nahm so neben der SED-Tribüne stehend die Parade mit ab. Sein Freund Manfred Hildebrandt fotografierte ihn in dieser Maskerade. Das Foto wurde als Postkarte verbreitet.

Monatelang fuhr Jahn mit einem polnischen Nationalfähnchen am Fahrrad durch Jena. Als Reaktion auf das *Kriegsrecht in Polen trug das Fähnchen die polnische Aufschrift „Solidarität mit dem polnischen Volk“. Am 1. September 1982 wurde er wegen „Missachtung staatlicher Symbole“ verhaftet. Nach fünf Monaten Isolationshaft folgte im Januar 1983 die Verurteilung zu 22 Monaten Freiheitsstrafe wegen „öffentlicher Herabwürdigung der staatlichen Ordnung“ und „Missachtung staatlicher Symbole“. Unter dem Druck der Gefängnissituation gelang es seinem Anwalt, ihn zu überreden, die Ausreise in den Westen zu beantragen. Hintergrund für diese Entscheidung war zugleich die Entwicklung in Jena. Im Januar und Februar 1983 fand dort eine Verhaftungswelle statt, von der auch Petra Falkenberg betroffen war. Allen drohte eine mehrjährige Haftstrafe. Freunde, besonders Lutz Rathenow, organisierten Solidaritätsaktionen und Proteste im In-und Ausland. Amnesty International und Vertreter der westdeutschen Grünen und der bundesdeutschen Friedensbewegung meldeten sich zu Wort. Im ARD-Magazin „Report“ wurde ein Beitrag über die sich zuspitzende Situation in Jena gesendet. Im Februar 1983 sah sich die SED-Führung gezwungen, fast alle aus der Haft in die DDR zu entlassen. Die unverhoffte Freilassung gab Jahn wieder Auftrieb. Er widerrief den Ausreiseantrag mit der Erklärung, dieser sei ihm unter Druck abgenötigt worden.

Im März 1983 gründete Jahn mit Thea und Michael Rost, Andreas Friedrich, Ute Hinkeldey und anderen die „Friedensgemeinschaft Jena“. Sie war außerkirchlich organisiert und trat als erste Oppositionsgruppe demonstrativ in der Öffentlichkeit auf. In einer christlich-pazifistisch geprägten Konzeption wurde in der Tradition der französischen bürgerlichen Revolution formuliert: „Was wollen wir: Frieden zwischen den Menschen als Voraussetzung zum Leben, als Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ mit dem Zusatz „unter Verzicht auf Gewalt“. Am 18. März 1983 ging die Friedensgemeinschaft mit eigenen Plakaten zu einer offiziellen Demonstration, die an den Bombenangriff auf Jena 1945 erinnerte. Wiederholt wurde diese Aktion bei der offiziellen Friedensdemonstration der Freien Deutschen Jugend (FDJ) am 19. Mai 1983, die ausschließlich gegen die Stationierung der NATO-Raketen gerichtet sein soll. Jahn und seine Freunde trugen Transparente mit Aufschriften wie „Abrüstung in Ost und West“, „Militarisierung raus aus unserem Leben“, „Schwerter zu Pflugscharen“, „Verzichtet auf Gewalt“, „Ohne Frieden keine Zukunft“. Die Staatssicherheit organisierte vermeintlichen Volkszorn: Die Demonstranten wurden von Staatsdienern geschlagen, Jahn das Transparent entrissen und zerstört. Aber es konnte nicht verhindert werden, dass Fotos von diesen Demonstrationen und dem Vorgehen des MfS im Westen veröffentlicht und im Osten verteilt wurden. Von Jena aus gingen Impulse in die wachsende unabhängige Friedensbewegung im ganzen Land.

Am 22. Mai 1983 ging Jahn mit dem Plakat „Schwerter zu Pflugscharen“ zur zentralen Kundgebung der FDJ in Potsdam. Das Plakat wurde ihm entrissen, er wurde geschlagen und festgenommen. Wenige Tage später, am 8. Juni, wollten ihn die Häscher endgültig loswerden. Es gelang ihm jedoch, noch einmal zu fliehen und Freunde zu benachrichtigen. Daraufhin wurden ihm Knebelketten angelegt. Am Grenzbahnhof zur Bundesrepublik wurde er in einem Zug Richtung Westdeutschland angekettet und so zwangsweise in den Westen abgeschoben. Dies war der spektakulärste Rausschmiss seit der Ausbürgerung von Wolf Biermann.

Jahn wollte zurück in die DDR. Doch seine Proteste halfen nichts, weder ein Schreiben an DDR-Staatschef Honecker, noch die persönliche Intervention beim Uno-Generalsekretär. Was ihm die erste Zeit im Westen erleichterte, war das Wiedersehen mit seiner Tochter und seinen Freunden. Erst eine illegale Reise 1985 nach Jena relativierte seinen verklärten Blick auf die DDR. Ost-Berliner Oppositionelle, mit denen er sich auf der Rückreise traf, ermunterten ihn, im Westen zu bleiben, da er für ihre Sache dort hilfreicher sei.

Roland Jahn wurde neben Jürgen Fuchs, auch als dessen Partner, zum wichtigsten Unterstützer der DDR-Opposition im Westen. Beide drängten immer wieder auf die Beschäftigung mit der Menschenrechtsfrage: In den westdeutschen Auseinandersetzungen um das Verhältnis zur DDR wies Jahn wiederholt darauf hin, dass es nicht um menschliche Erleichterungen für DDR-Bürger, sondern um deren Menschenrechte gehe. Er besorgte Vervielfältigungsgeräte und Druckmatrizen, Videokameras, Computer, Bücher und Zeitungen und sorgte dafür, dass sie in der DDR auch an die richtigen Leute gelangten. Jahn vermittelte der DDR-Opposition Kontakte zu westlichen Politikern, Journalisten und Diplomaten. Er sammelte systematisch Informationen über den Widerstand in der DDR und wirkte aufklärend im Westen. Als freier Journalist arbeitete er für die Ost-Berlin-Seite der West-Berliner „tageszeitung“, für das Fernsehmagazin „Kontraste“ und richtete mit „Radio Glasnost“ im West-Berliner Privatsender „Radio 100“ eine eigene Rundfunksendung für die ostdeutschen Gesellschaftskritiker ein. Jahn betrieb quasi privat eine erfolgreiche Nachrichtenagentur, seit Mitte 1987 unterstützt von Rüdiger Rosenthal.

Bei allen wichtigen Ereignissen bis zum Herbst 1989 war er vom Westen aus beteiligt. Er erkannte und förderte als einer der wenigen das revolutionäre Potenzial der Ausreisebewegung und im Sommer 1989 der neuen Bürgerbewegungen und Parteien. In unzähligen Telefongesprächen mit ostdeutschen Regimekritikern diskutierte er die politische Lage und entwarf Handlungsstrategien. In den Medien berichtete er meistens unter dem Pseudonym „Jan Falkenberg“ und erreichte so auch die ostdeutschen Wohnzimmer.

Die DDR-Machthaber erkannten in Jahn ihren „Hauptfeind“ und planten seine Verfolgung auch im Westen. Spitzel wurden angesetzt, sein Telefon rund um die Uhr abgehört. Mit „Zersetzungsmaßnahmen“ versuchte das MfS, Jahns Ruf zu schädigen und seinen Einfluss zu schmälern. Er wurde unter anderem der Mitarbeit im westlichen Geheimdienst verleumdet. Obwohl er in West-Berlin lebte, wurde am 22. Dezember 1987 von der DDR-Justiz ein Haftbefehl gegen ihn erlassen wegen „landesverräterischer Nachrichtenübermittlung“. Die Verfolgung wurde erst am 12. Dezember 1989 eingestellt.

Nach dem Mauerfall beteiligte sich Jahn an der Auflösung der MfS-Bezirksverwaltung Gera. Er begleitete die Auflösung der Staatssicherheit in Berlin und die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der SED-Diktatur journalistisch auch nach der deutschen Einheit. Ab 1991 war Jahn beim Politmagazin „Kontraste“ des Senders Freies Berlin fest angestellt. 2011 wählte der Deutsche Bundestag Roland Jahn in Nachfolge von Joachim Gauck und Marianne Birthler zum dritten Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen.


Information

Die Sonderzeichen * und # erscheinen lediglich aus technischen Gründen im Text. Auf der Ursprungs-Webseite dissidenten.eu finden sie weiterführende Links sowie die vollständige Version der Biografien mit Glossarerklärungen, Chroniken und ausführlichen Darstellungen der Oppositionsgeschichten aller Länder.