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In der Kategorie BioLex sind drei wichtige Lexika mit über 5500 Biografien von überzeugten Kommunistinnen und Kommunisten, Renegatinnen und Dissidenten im Volltext recherchierbar.

 

Das Handbuch „Deutsche Kommunisten. Biographisches Handbuch 1918 bis 1945“ wird von Andreas Herbst und Hermann Weber in der 8. aktualisierten Ausgabe herausgegeben. Auf breiter Quellenbasis werden die Schicksale deutscher Kommunisten knapp geschildert, von denen etwa ein Drittel während der NS-Diktatur und durch den Stalinistischen Terror gewaltsam ums Leben kam.

Kurzbiografien zu Personen des politischen Lebens in der DDR stellt das von Helmut Müller-Enbergs, Jan Wielgohs, Dieter Hoffmann, Andreas Herbst, Ingrid Kirschey-Feix herausgegebene Lexikon ostdeutscher Biographien „Wer war wer in der DDR?“ Ch. Links Verlag, 5. Aufl. 2010 bereit.

Zudem ist das Online-Lexikon www.dissdenten.eu ebenfalls auf unserer Seite aufrufbar. Die über 700 Biografien mit umfangreichen Informationen zu Oppositionellen, Bürgerrechtlern und  Dissidenten aus vielen Ländern Ost- und Mitteleuropas werden laufend erweitert.

 

Wer war wer in der DDR?

Kisielewski, Stefan

* 1911 ✝ 1991




Stefan Kisielewski wurde 1911 in Warschau in eine Intellektuellenfamilie geboren. 1937 beendete er das Musikkonservatorium und studierte Polonistik und Philosophie an der Warschauer Universität. 1935–37 war er Sekretär der Monatszeitschrift „Muzyka Polska“ (Polnische Musik). Im September 1939 kämpfte er zur Verteidigung Polens gegen die Deutschen, während der Okkupation im Zweiten Weltkrieg arbeitete er für die Vertretung der Polnischen Exilregierung im Inland und kämpfte 1944 im Warschauer Aufstand.

1945 gab er die vierzehntägig erscheinende Zeitschrift „Ruch Muzyczny“ (Musikalische Bewegung) heraus, die er bis 1948 leitete. Ab 1946 war er Mitglied des Polnischen Schriftstellerverbandes, des Komponistenverbandes und ab 1976 auch des Polnischen P.E.N.-Clubs. 1945–49 hielt er Vorlesungen an der Staatlichen Hochschule für Musik in Krakau. Er war Komponist, gefragter Literaturkritiker und auch selbst schriftstellerisch tätig.

Mit Gründung des *„Tygodnik Powszechny“ (Allgemeines Wochenblatt) wurde Kisielewski dessen Redaktionsmitglied, was er (mit einer Pause von 1953 bis 1956) bis 1989 blieb.

Seine mit „Kisiel“ unterschriebenen Feuilletons im *„Tygodnik Powszechny“ waren persönliche Kommentare zum aktuellen Geschehen im Land und zeichneten sich durch die Unabhängigkeit seiner Meinung aus (Kisielewski war zum Beispiel ein entschiedener Kritiker des Warschauer Aufstandes). Er glaubte nicht an den Sinn des Untergrundkampfes gegen die Kommunisten, weil er die Hoffnung hatte, dass es auch im Nachkriegspolen noch Freiheitsräume gebe. In seinen Feuilletons brandmarkte er die Lügen der kommunistischen Presse und entblößte die Hohlheit der marxistischen Ideologie. Als seine Redaktionskollegen vom *„Tygodnik Powszechny“ ihn mahnten, die Zensur nicht zu reizen, entgegnete er, dass es angesichts der Aussicht auf weiter fortschreitende Einschränkungen der Meinungsfreiheit „notwendig sei, so viel an Höhe wie möglich zu gewinnen“. Kisielewski kämpfte um das Recht, eine kritische Haltung einnehmen zu können, auch innerhalb der eigenen Reihen.

Auf einem Komponistenkongress 1949 in Posen (Poznań) stellte er sich gegen die Einführung des sozialistischen Realismus in der Musik, woraufhin er seine Arbeit an der Staatlichen Hochschule für Musik in Krakau verlor. Eine in diesem Jahr erschienene Auswahl seiner bereits zuvor publizierten Essays mit dem Titel „Politik und Kunst“ (Polityka i sztuka) wurde wieder aus den Buchhandlungen entfernt. Als die Redaktionskollegen um Jerzy Turowicz zwischen März 1953 und Dezember 1956 aus der Redaktion des *„Tygodnik Powszechny“ ausgeschlossen waren, verdiente dich Kisielewski seinen Lebensunterhalt durch Gelegenheitsarbeiten und Musikstunden.

1957–65 war Kisielewski zwei Legislaturperioden lang Sejm-Abgeordneter für die katholische Bewegung „Znak“ (Zeichen). Gemeinsam mit Stanisław Stomma formulierte er die politische Konzeption des sogenannten Neopositivismus, der die geopolitischen Realitäten und das politische System Volkspolens zwar anerkannte, aber mit einer Kritik an der sozialistischen Ideologie verbunden war. Im Sejm kämpfte Kisielewski für eine Liberalisierung des Systems auf politischem und ökonomischem Gebiet und für die Meinungsfreiheit. Seine Parlamentsreden, in denen er auf die Absurditäten der sozialistischen Wirtschaft und die Einschränkungen der bürgerlichen Freiheit hinwies, hatten vor allem symbolischen Charakter. Die Zensur verhinderte in der Regel, dass sie der Öffentlichkeit bekannt wurden.

1958 schlug Kisielewski auf dem Schriftstellerkongress in Breslau (Wrocław) vor, eine Kommission einzuberufen, die rechtliche Kriterien für die Zensur erarbeiten sollte. Er war einer der Unterzeichner des *Briefes der 34 vom 14. März 1964 an Ministerpräsident Józef Cyrankiewicz, in dem die Unterzeichner die Verschärfung der Zensur und die staatliche Kulturpolitik kritisierten. Seine Texte wurden zu dieser Zeit von der Zensur verboten und er durfte Polen nicht mehr verlassen.

1968 war er Vertrauensmann im Prozess gegen den Poeten Janusz Szpotański, der die politisch-satirische Oper „Die Stillen und die Plappernden“ (Cisi i gęgacze) geschrieben hatte.

Am 29. Februar 1968 trat Kisielewski auf einer Versammlung der Warschauer Sektion des Schriftstellerverbandes auf, die anlässlich des Aufführungsverbots des Dramas „Totenfeier“ (Dziady) von Adam Mickiewicz in der Regie von Kazimierz Dejmek im Warschauer Nationaltheater stattfand. Er sprach über die Verfälschung der polnischen Kultur und Geschichte und über die Allmacht der Zensur. Die Machtausübung der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei bezeichnete er als „Diktatur von Dunkelmännern“. Am 11. März wurde er – vermutlich als Reaktion auf seine Rede – auf der Straße brutal zusammengeschlagen.

Kisielewskis Erzählungen, in denen er die Mechanismen der Machtausübung, die Unterdrückung und das volkspolnische Alltagsleben beschrieb, erschienen im Literarischen Institut (Instytut Literacki) in Paris unter dem Pseudonym „Tomasz Staliński“; dies waren: 1967 „Von oben gesehen“ (Widziane z góry), 1971 „Schatten in der Höhle“ (Cienie w pieczarze), 1972 „Winterromanze“ (Romans zimowy), 1974 „Untersuchung“ (Śledstwo), 1976 „Menschen im Aquarium“ (Ludzie w akwarium) und andere.

Ab 1971 publizierte Kisielewski erneut Feuilletons im *„Tygodnik Powszechny“, in denen er die Paradoxien des Sozialismus beschrieb. Als er von den staatlichen Massenmedien verunglimpft wurde und keine Möglichkeit hatte, sich direkt gegen die Angriffe der Presse zu wehren, veröffentlichte Kisielewski im *„Tygodnik Powszechny“ unter der Überschrift „Meine Typen“ (Moje typy) Namenslisten derjenigen Journalisten, die sich besonders um die Parteipropaganda verdient gemacht hatten.

Er war Unterzeichner des *Briefes der 59 an den Sejm vom Dezember 1975, der gegen geplante Verfassungsänderungen protestierte und die Ziele der Opposition beschrieb. Im Juni 1976 unterschrieb er eine Erklärung von 14 Intellektuellen zu den gegen die Preiserhöhungen gerichteten Arbeiterproteste.

1977 wurde er zusammen mit dem Parteirenegaten Władysław Bieńkowski und dem Schriftsteller Andrzej Kijowski Mitglied einer dreiköpfigen Bürgerkommission beim Komitee zur Verteidigung der Arbeiter (Komitet Obrony Robotników; *KOR), die die Finanzen des Komitees kontrollieren sollte.

Ab der zweiten Hälfte der 70er Jahre publizierte Kisielewski in verschiedenen unabhängigen Zeitungen, unter anderem in *„Zapis“ (Aufzeichnung), *„Biuletyn Informacyjny“ (Informationsbulletin), „Res Publica“, „Głos“ (Stimme), „Spotkania“ (Begegnungen), *„Krytyka“ (Kritik), „Bratniak“ (Brüderbund). Seine von der Zensur verbotenen Feuilleton-Artikel veröffentlichte er unter seinem richtigen Namen auch in der Pariser Exilzeitschrift *„Kultura“ (Kultur). 1978 gab er in der Schweiz auf Deutsch die Broschüre „Polen – oder die Herrschaft der Dilettanten“ heraus.

Die Entstehung der *Solidarność betrachtete Kisielewski mit großer Hoffnung, war aber kein kritikloser Anhänger dieser unabhängigen und selbstverwalteten Gewerkschaft. Er schrieb einmal, dass man hier den Marxismus „rieche“ und kritisierte die *Solidarność dafür, dass sie statt die Wirtschaft zu reformieren zu viel Gewicht auf ihre inneren Probleme lege.

Als in Polen am 13. Dezember 1981 das *Kriegsrecht ausgerufen wurde, befand sich Kisielewski in Australien. Anfang 1982 schrieb er in Paris den Artikel „Schlagen oder reden“ (Bić się czy rozmawiać), der sich eines Mottos von Henryk Sienkiewicz bediente: „Wehe den Völkern, die die Freiheit mehr lieben als das Vaterland!“ Kisielewski griff seine Idee aus den 70er Jahren auf und schlug vor, man solle sich über die Köpfe der kommunistischen Machthaber hinweg direkt mit den Russen verständigen. Jerzy Giedroyc lehnte die Veröffentlichung dieses Textes in der *„Kultura“ jedoch ab; er erschien erst 1983 in „Zeszyty Literackie“ (Literarische Hefte).

Nach seiner Rückkehr nach Polen im Juli 1982 wollte Kisielewski keine Feuilletons mehr schreiben. Sein Schweigen brach er im November 1983, als er im *„Tygodnik Powszechny“ den Artikel „Befreit uns der Herrgott?“ (Czy Pan Bóg nas wyzwoli?) veröffentlichte, in dem er die vorherrschende patriotische Religiosität kritisierte: „Bei Gott werden wir nach dem Tode sein, hier und heute müssen wir jedoch unsere irdischen Probleme lösen und uns dabei von der Rationalität und dem gesunden Menschenverstand leiten lassen. [...] Das wird uns Gott nicht abnehmen, es hilft, weder Kreuze aufzustellen, noch in den Kirchen Bittgesänge anzustimmen.“

Kisielewski betrachtete als Anhänger von Privateigentum und freiem Markt die Durchführung von marktwirtschaftlichen Reformen als entscheidend. 1984 schrieb er in der „Einführung in das Oppositionsprogramm“ (Wstęp do programu opozycji) über die Notwendigkeit, eine neue Opposition zu schaffen, die frei von antirussischen Phobien und der Arbeiterphraseologie ist und sich der Liberalisierung von Staat und Wirtschaft zuwenden müsse. Im November 1987 unterschrieb er eine von Janusz Korwiń-Mikke initiierte Erklärung der konservativ-liberalen Bewegung für Realpolitik (Ruch Polityki Realnej).

Stefan Kisielewski starb 1991 in Warschau. Seit 1990 trägt ein Journalistenpreis, der von der Wochenzeitung „Wprost“ für herausragenden Journalismus verliehen wird, seinen Namen.


Zbigniew Romek
Aus dem Polnischen von Markus Pieper und Wolfgang Templin
Letzte Aktualisierung: 11/15

Information

Die Sonderzeichen * und # erscheinen lediglich aus technischen Gründen im Text. Auf der Ursprungs-Webseite dissidenten.eu finden sie weiterführende Links sowie die vollständige Version der Biografien mit Glossarerklärungen, Chroniken und ausführlichen Darstellungen der Oppositionsgeschichten aller Länder.