x

In der Kategorie BioLex sind drei wichtige Lexika mit über 5500 Biografien von überzeugten Kommunistinnen und Kommunisten, Renegatinnen und Dissidenten im Volltext recherchierbar.

 

Das Handbuch „Deutsche Kommunisten. Biographisches Handbuch 1918 bis 1945“ wird von Andreas Herbst und Hermann Weber in der 8. aktualisierten Ausgabe herausgegeben. Auf breiter Quellenbasis werden die Schicksale deutscher Kommunisten knapp geschildert, von denen etwa ein Drittel während der NS-Diktatur und durch den Stalinistischen Terror gewaltsam ums Leben kam.

Kurzbiografien zu Personen des politischen Lebens in der DDR stellt das von Helmut Müller-Enbergs, Jan Wielgohs, Dieter Hoffmann, Andreas Herbst, Ingrid Kirschey-Feix herausgegebene Lexikon ostdeutscher Biographien „Wer war wer in der DDR?“ Ch. Links Verlag, 5. Aufl. 2010 bereit.

Zudem ist das Online-Lexikon www.dissdenten.eu ebenfalls auf unserer Seite aufrufbar. Die über 700 Biografien mit umfangreichen Informationen zu Oppositionellen, Bürgerrechtlern und  Dissidenten aus vielen Ländern Ost- und Mitteleuropas werden laufend erweitert.

 

Wer war wer in der DDR?

Kuroń, Jacek

* 1934 ✝ 2004




Jacek Kuroń wurde 1934 in Lemberg (heute Lwiw/Ukraine) geboren. Sein Großvater gehörte der Kampforganisation der Polnischen Sozialistischen Partei (PPS) an, sein Vater war Mitglied des Bundes der Unabhängigen Sozialistischen Jugend in der PPS. 1949–53 war Jacek Kuroń Mitglied des Jugendverbandes Bund der Polnischen Jugend (Związek Młodzieży Polskiej; ZMP), 1952/53 war er dort als Mitarbeiter beschäftigt. Im November 1953 wurde er wegen kritischer Äußerungen über die Organisation sowohl aus dem Jugendverband als auch aus der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei ausgeschlossen. 1956 trat er erneut in die Partei ein, 1964 schloss er das Studium der Geschichte an der Universität Warschau ab.

1955 war Kuroń einer der Initiatoren der sogenannten „Walteristen“ (oder „rote Pfadfinder“) innerhalb der Pfadfinderorganisation des staatlichen Jugendverbandes und 1956–62 leitend im reaktivierten offiziellen Polnischen Pfadfinderverband (Związek Harcerstwa Polskiego; ZHP) tätig. 1957–61 beteiligte er sich im Rahmen des Pfadfinderverbandes an der Gründung des General-Walter-Stamms, der nach General Karol („Walter“) Świerczewski, einem Kommandeur im Spanischen Bürgerkrieg, benannt war. Kuroń war Stammführer, der General-Walter-Stamm wurde jedoch 1961 aufgelöst. Einer der Gründe hierfür dürften den Schulbehörden gegenüber vertretene Konzeptionen gewesen sein, in denen Autonomie und Selbstverwaltung hervorgehoben wurden, sowie die Texte des „kämpfenden Theaters“ der Walteristen, in denen sie die politischen Verhältnisse kritisierten. Kuroń arbeitete daraufhin in der Redaktion der Pfadfinderzeitschrift „Drużyna“ (Mannschaft). Ihm wurde im Dezember 1963 jedoch mit der Begründung gekündigt, er verwende falsche Erziehungskonzeptionen.

Zur Jahreswende 1956/57 trat Kuroń Mitglied dem staatlichen Revolutionären Jugendverband (Rewolucyjny Związek Młodzieży; RZM) bei und beteiligte sich an der Gründung des Sozialistischen Jugendverbandes (Związek Młodzieży Socjalistycznej; ZMS) an der Universität Warschau. 1962 schloss er sich dem von Karol Modzelewski an der Warschauer Universität ins Leben gerufenen „Diskussionsklub“ an und wurde zu einem von dessen aktivsten Mitgliedern. Nach der Auflösung des Klubs im Jahre 1963 erarbeitete er gemeinsam mit Freunden eine kritische Analyse der volkspolnischen Gesellschaftsordnung. Als Ergebnis erschien eine gemeinsam mit Karol Modzelewski verfasste Broschüre, die für die geheime Weiterverbreitung vorgesehen war. Am 14. und 15. November 1964 wurde die gesamte Gruppe von der Staatssicherheit verhaftet. Nach 48 Stunden kamen zwar alle Inhaftierten wieder auf freien Fuß, sie waren fortan jedoch politischen Repressionsmaßnahmen des Staates ausgesetzt. So wurde Jacek Kuroń erneut aus der Partei ausgeschlossen und man entzog ihm sein Doktorandenstipendium an der Warschauer Universität.

Jacek Kuroń und Karol Modzelewski rekonstruierten den beschlagnahmten Text ihrer Broschüre und verteilten diesen am 19. März 1965 unter dem Titel „Offener Brief an die Mitglieder der Partei“ (List otwarty do członków PZPR) in 16 Exemplaren an der Universität Warschau. Je ein Exemplar ging an die Hochschulleitungen von Partei und Jugendverband. In diesem „Offenen Brief“ beschrieben sie einen Konflikt zwischen der Arbeiterklasse und der zentralen Politbürokratie und entwarfen die Vision einer Gesellschaft, in der die Herrschaft von Arbeiterräten ausgeübt werden würde. Die beiden Verfasser wurden am 20. März 1965 verhaftet und im Juli verurteilt. Kuroń erhielt eine dreijährige Haftstrafe.

Nachdem er 1967 unter Auflagen aus dem Gefängnis entlassen worden war, engagierte er sich in einer auch „Kommandotrupp“ genannten Studentengruppe, die sich zum Teil aus ehemaligen „Walteristen“ rekrutierte und an der Warschauer Universität Protestaktionen organisierte. Anfang 1968 nahm Kuroń an den Protesten gegen die erzwungene Absetzung des Theaterstücks „Dziady“ (Totenfeier) von Adam Mickiewicz teil, das Kazimierz Dejmek am Warschauer Nationaltheater inszeniert hatte. Unter anderem verfasste er Flugblätter, die dann an der Universität verteilt wurden. Auch an der Entscheidung, als Reaktion auf die Zwangsexmatrikulation von Adam Michnik und Henryk Szlajfer eine studentische Protestkundgebung durchzuführen, war er beteiligt. Nach seiner erneuten Verhaftung am 8. März 1968 wurde Kuroń zur Zielscheibe heftiger Propaganda-Attacken der Partei in den Medien. Im Januar 1969 wurde er im Prozess gegen die sogenannten Rädelsführer der Ereignisse vom *März 1968 zu dreieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Am 17. September 1971 kam er vorzeitig aus der Haft frei.

In den folgenden Jahren überprüfte Kuroń seine politischen Überzeugungen. Er war auf der Suche nach einem Wertesystem, in dem es möglich sein würde, die wichtigsten linken Werte mit der ethischen Botschaft des Christentums und mit der Perspektive einer demokratischen, pluralistischen Gesellschaft in Einklang zu bringen. Die Ergebnisse seiner Überlegungen sind am umfassendsten in der Broschüre „Zasady ideowe“ (Ideelle Grundlagen; erschienen 1977 bei *NOWA) dargestellt. Als Grundwert bezeichnete er das Wohl des Menschen, das in der Souveränität des Individuums und dessen schöpferischen Wirken in seinem gesellschaftlichen Umfeld liegt. Kuroń sprach sich für eine parlamentarische Demokratie und die Souveränität des Staates aus, machte jedoch auf die Gefahr der Dominanz des Staates (auch eines demokratischen) über das Individuum aufmerksam; dagegen sollte das aktive Engagement verschiedener Formen von Selbstverwaltungen und Vereinen schützen.

In den Aufsätzen „Politische Opposition in Polen“ (Polityczna opozycja w Polsce; erschienen in *„Kultura“, Nr. 11/1974) und „Gedanken zum Handlungsprogramm“ (Myśli o programie działania; erschienen in „Aneks“, Nr. 13–14/1977) legte Kuroń seine Vorstellungen von der Handlungsstrategie der demokratischen Opposition dar. Das in der Volksrepublik herrschende System bezeichnete er als totalitär, was sich dadurch ausdrücke, dass die herrschende Partei das Organisations-, Informations- und Entscheidungsmonopol innehabe. Den Weg zur Wiedererlangung der Freiheit durch die Bürger sah er in unabhängigen gesellschaftlichen Bewegungen. Indem sich die Bürger zur Verwirklichung gemeinsamer Werte und konkreter Ziele in kleinen, sich mit der Zeit ausbreitenden Gruppen zusammenfänden, könnten sie die Keimzellen einer unabhängigen gesellschaftlichen Bewegung bilden und so das totalitäre Machtmonopol durchbrechen. Notwendig sei dabei jedoch, dass man sich im Rahmen des geltenden Rechts bewege. In Bezug auf die Frage, wie weit man bei der Wiedererlangung der Unabhängigkeit Polens von der Sowjetunion gehen könne, sah Kuroń in der sogenannten „Finnlandisierung“ eine Etappe auf dem Weg zur vollen Unabhängigkeit in fernerer Zukunft.

Kuroń war einer der Initiatoren der Proteste gegen geplante Verfassungsänderungen und verfasste im Dezember 1975 gemeinsam mit Jakub Karpiński und Jan Olszewski den sogenannten *Brief der 59. Im *Juni 1976 unterzeichnete er eine Erklärung von 14 Intellektuellen, die ihre Solidarität mit den in jener Zeit in Radom und in den Warschauer Ursus-Werken stattfindenden Arbeiterprotesten ausdrückten. Im Juli wandte er sich in einem offenen Brief an den Vorsitzenden der Kommunistischen Partei Italiens, Enrico Berlinguer, und rief diesen dazu auf, sich für die Opfer der Repressionen in Folge der Arbeiterproteste einzusetzen.

Kuroń war nicht nur einer der Gründer des Komitees zur Verteidigung der Arbeiter (Komitet Obrony Robotników; *KOR) am 23. September 1976, sondern auch einer der wichtigsten Organisatoren und Strategen dieser Organisation. Seine Wohnung wurde zum Umschlagplatz von Informationen über staatliche Repressionen gegen die demokratische Opposition. Kuroń leitete entsprechende Berichte an polnische Exileinrichtungen im Ausland weiter und sorgte so dafür, dass die staatlichen Unterdrückungsmaßnahmen im Westen bekannt wurden. Die polnische Gesellschaft wiederum erfuhr davon durch polnische Radiosender im Ausland.

Im Mai 1977 wurde Kuroń zusammen mit anderen Mitgliedern und Mitarbeitern des *KOR verhaftet, nachdem sie gegen die Ermordung von Stanisław Pyjas protestiert hatten, einem Studenten der Krakauer Jagiellonen-Universität und *KOR-Mitglied. Die Festgenommenen wurden im Juli desselben Jahres wieder aus der Haft entlassen.

Im Oktober 1977 war Kuroń maßgeblich an der Umwandlung des *KOR in das Komitee für Gesellschaftliche Selbstverteidigung „KOR“ (Komitet Samoobrony Społecznej; *KSS „KOR“) beteiligt, wo er abermals eine wesentliche Rolle spielte und bei vielen (auch bei der Staatsmacht) als politischer Kopf dieser Bewegung galt. Er stand im direkten Kontakt mit den Mitgliedern des Komitees im ganzen Land, beteiligte sich an zahlreichen, in der unabhängigen Presse geführten Debatten und pflegte auch Kontakte zu ausländischen Journalisten und zu Landsleuten im Exil. Er war damit eine wesentliche Inspirationsquelle für die unabhängige Arbeiterbewegung in Polen. Kurońs Devise lautete: „Brennt keine Komitees nieder, sondern gründet eigene!“ (Nie palcie komitetów, zakładajcie własne!). Wichtig waren ihm solidarisches, gemeinsames Handeln bei allen Protestaktionen, die klare Formulierung von Forderungen sowie die Aufstellung von Verhandlungsdelegationen für die Gespräche mit der Regierung.

Am 22. Januar 1978 unterzeichnete Kuroń die Gründungserklärung der *Gesellschaft für Wissenschaftliche Kurse (Towarzystwo Kursów Naukowych; TKN) und beteiligte sich auch persönlich mit einer Vorlesung zur Sozialpädagogik. Im März wurden er und seine Familie brutal von Schlägertrupps des Sozialistischen Polnischen Studentenverbandes und der Warschauer Parteileitung angegriffen, woraufhin er seine Vorlesungen aussetzte.

Im Sommer 1978 nahm Kuroń an einem Treffen mit Vertretern der tschechoslowakischen *Charta 77 teil. Nachdem diese inhaftiert worden waren, beteiligte er sich in der Zeit vom 3. bis 10. Oktober 1979 als Zeichen der Solidarität an einem Hungerstreik in der Warschauer Heilig-Kreuz-Kirche. Ab 1978 war er auch Mitglied der Redaktion der Samisdat-Quartalsschrift *„Krytyka“. Im Mai 1980 beteiligte er sich an einem weiteren Hungerstreik, diesmal in der St. Christophorus-Kirche in Podkowa Leśna, wo die Protestierenden ein Zeichen der Solidarität mit den im Gefängnis hungerstreikenden Mirosław Chojecki und Dariusz Kobzdej sowie mit anderen politischen Gefangenen setzten.

Jacek Kuroń war eine der wenigen Personen, gegen die die allerschärfsten Formen von Repressionen zur Anwendung kamen. Er wurde ununterbrochen bespitzelt und überwacht, oftmals kurzzeitig für 48 Stunden in Polizeigewahrsam genommen. Zu offiziellen Veranstaltungen und Versammlungen bekam er grundsätzlich keinen Zutritt. Kuroń galt als Person, zu der schon allein Kontakt zu haben ausreichte, um Repressionen vonseiten der Miliz auf sich zu ziehen.

Anfang Juli 1980 richtete er in seiner Wohnung ein Streikinformationszentrum ein. Die dort gesammelten Informationen wurden systematisch in den Westen geschleust, von wo aus sie – ausgestrahlt über *Radio Freies Europa und die britische BBC – zurück nach Polen gelangten und dort weitere Protestaktionen auslösten. Nach dem Ausbruch des Streiks in der Danziger Lenin-Werft wurde Kuroń am 18. August festgenommen und am 28. August auch formell verhaftet. Gleiches geschah 13 weiteren Bürgerrechtlern und Oppositionellen. Das Überbetriebliche Streikkomitee (Międzyzakładowy Komitet Strajkowy; MKS) forderte ihre sofortige Freilassung, die nach der Unterzeichnung der *Danziger Vereinbarung am 1. September erfolgte.

Nach der ersten Streikwelle schrieb Kuroń in seinem Beitrag „Scharfe Kurve“ (Ostry zakręt) im *„Biuletyn Informacyjny“ (Informationsbulletin) im Juli 1980, dass diese Streiks der Beginn einer gesellschaftlichen Bewegung seien. Während die Arbeiter damit beginnen würden, sich in vom Staat unabhängigen Gewerkschaften und Arbeiterausschüssen zu organisieren, sei es Aufgabe der Bürgerrechtler, der Arbeiterbewegung mit Fachgutachten und programmatischen Anregungen zu dienen und die Transformation von rein wirtschaftlichen Forderungen in politische voranzutreiben.

Im Aufsatz „Was weiter?“ (Co dalej?) urteilte Kuroń nach dem Ende der Auguststreiks und der Unterzeichnung der *Danziger Vereinbarung ebenfalls im *„Biuletyn Informacyjny“ im September 1980, die Streiks hätten das politische System in seinen Grundfesten erschüttert, indem sie das Organisations-, Informations- und Entscheidungsmonopol des Staates infrage gestellt hätten. In Zukunft würden die neuen Gewerkschaften entweder ihrer Unabhängigkeit beraubt und vom bisherigen System aufgesogen werden, wenn sich das Herrschaftssystem nicht in Richtung Demokratie entwickele. Kuroń sah neben den unabhängigen Gewerkschaften auch die Entstehung zivilgesellschaftlicher, selbstbestimmter Aktivitäten in Wissenschaft, Bildung, Kultur und Wirtschaft voraus, sowie Initiativen zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit, Meinungs- und Pressefreiheit usw. Die entstandene pluralistische Gesellschaftsbewegung müsse auf die Herrschenden Druck ausüben, um sie zu Wirtschaftsreformen und zu einer Demokratisierung des Staates zu zwingen. Als langfristige Ziele definierte er die parlamentarische Demokratie und die Souveränität des Staates; diese seien aber vorerst nicht realisierbar. Solange die Menschen in Polen jedoch nicht den Versuch unternehmen würden, die Parteiherrschaft zu stürzen, sei auch keine militärische Intervention der Sowjetunion in Polen zu befürchten. Die konkrete Perspektive bestehe also in der Selbstorganisierung der Gesellschaft und im demokratischen Umbau des Staates unter (modifizierter) Beibehaltung der Herrschaft der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei.

Anfang September 1980 fuhr Kuroń nach Danzig, wo er Berater des dortigen Überbetrieblichen Streikkomitees und später der Landesverständigungskommission (Krajowa Komisja Porozumiewawcza, KKP) der *Solidarność wurde. Im Januar 1981 berief man ihn in den Programm- und Konsultationsrat der Landesverständigungskommission, dieein gesamtpolnisches Gremium der *Solidarność-Berater war. Die polnische (und sowjetische) Staatsführung sah in Kuroń einen der gefährlichsten „Konterrevolutionäre“, entsprechend scharf wurde er von der offiziellen Propaganda attackiert. Moskau riet dazu, ihn in Haft zu nehmen und ihm so die weitere politische Betätigung unmöglich zu machen. Im März 1981 formulierte demzufolge die polnische Staatsanwaltschaft Vorwürfe gegen Kuroń und stellte ihn unter Polizeiaufsicht. Gegen diese Maßnahmen, die die Vorstufe zu einer Verhaftung waren, erhob die *Solidarność scharfen Protest.

Kuroń wandte sich gegen schlecht organisierte Aktionen, die sich lediglich auf das Postulieren beschränkten. Mehrfach griff er als Schlichter in heftige Arbeitskämpfe und andere Protestaktionen ein. Im Sommer 1981 beteiligte er sich als einer von mehreren Autoren am Entwurf einer neuen Strategie der *Solidarność: Angestrebt werden sollten die Beteiligung an der Gründung von Selbstverwaltungsstrukturen in den Betrieben und die Durchsetzung einer Reform der Selbstverwaltung in der gesamten Wirtschaft. Allerdings war er dagegen, freie Wahlen zu fordern, denn das erhöhe die Gefahr einer sowjetischen Intervention. Die Toleranzschwelle der UdSSR werde überschritten, wenn es um Fragen der Macht der Partei über die Staatsverwaltung, die Polizei und das Militär gehe, diese Macht müsse also bei der Partei verbleiben.

Im Herbst forderte Kuroń eine Einigung zwischen *Solidarność, katholischer Kirche und staatlichem Machtapparat, um ein Komitee der nationalen Rettung bzw. eine Regierung der nationalen Einheit bilden zu können. Dieses Gremium solle die Macht übernehmen, ein gemeinsames Reformprogramm festlegen und nach Möglichkeit demokratische Wahlen vorbereiten. Seine Vorschläge folgten der Überzeugung, dass die Situation in Polen immer mehr außer Kontrolle geriet, sowohl auf Regierungsseite als auch aufseiten der *Solidarność.

Im November 1981 gehörte Kuroń zu den Gründern der sogenannten Klubs der Selbstverwalteten Republik „Freiheit – Gerechtigkeit – Unabhängigkeit“ (Kluby Rzeczpospolitej Samorządnej „Wolność – Sprawiedliwość – Niepodległość“), die als Sammelbecken für *Solidarność-Aktivisten gedacht war, die sich der Tradition der demokratischen Linken verpflichtet sahen. Die in seiner Wohnung stattfindende Gründungsversammlung wurde jedoch von der Miliz aufgelöst.

Mit Ausrufung des *Kriegsrechts in Polen sperrte man Kuroń am 13. Dezember 1981 zunächst in das Internierungslager Strzebielinek, später hielt man ihn in Białołęka Dworska fest. Am 3. September wurde er auch offiziell verhaftet und in das Warschauer Gefängnis in der Rakowiecka-Straße gebracht. Der Vorwurf lautete auf „Umsturzversuch“.



Während seiner Internierung deutete er das *Kriegsrecht-Regime als klassische Okkupation und forderte die Formierung einer breiten Widerstandsfront mit einem einheitlichen disziplinierten Führungszentrum. In seinen „Thesen zu einem Ausweg aus einer ausweglosen Situation“ (Tezy o wyjściu z sytuacji bez wyjścia; erschienen im *„Tygodnik Mazowsze“, Nr. 8/1982) brachte er im Februar 1982 einen Generalstreik ins Gespräch, forderte Aufklärungsarbeit unter den Angehörigen der Miliz und des Militärs sowie die Vorbereitung von Angriffen auf alle Macht- und Informationszentren im ganzen Land. Mit so einem Schlag könne es gelingen, den konservativen Teil des Machtapparates aufzubrechen und somit die Möglichkeit zu schaffen, zwischen einem Teil der Herrschenden und der organisierten Gesellschaft eine neue Form von Kompromiss auszuhandeln. Diese radikalen Thesen nahm er jedoch schon einige Wochen später zurück, als er die Notwendigkeit unterstrich, das Volk vor einem Blutvergießen zu bewahren. Zur Vorgehensweise empfahl er Demonstrationen, zivilen Ungehorsam und die Schaffung langfristig angelegter Untergrundstrukturen.

Im Juli 1984 kam Kuroń gemeinsam mit Adam Michnik, Zbigniew Romaszewski und Henryk Wujec vor Gericht. Der Prozess wurde jedoch bald eingestellt und die Angeklagten kamen gemeinsam mit anderen Inhaftierten im Rahmen einer Amnestie auf freien Fuß. In den Folgejahren war Kuroń Berater des *Regionalen Exekutivausschusses Masowien (Regionalna Komisja Wykonawcza; RKW) und des *Provisorischen Koordinierungsausschusses (Tymczasowa Komisja Koordynacyjna; TKK) der seit dem *Kriegsrecht im Untergrund agierenden *Solidarność. Er veröffentlichte weiterhin Beiträge für die Untergrundpresse und befand sich unter ständiger Überwachung durch die Staatssicherheitsbehörden. Nach einer Demonstration am 1. Mai 1985 wurde von einem sogenannten „Kollegium für Ordnungswidrigkeiten“ zu einer Arreststrafe von drei Monaten verurteilt.

Nach der Amnestie von 1986 sprach sich Kuroń für unterschiedliche Aktionsformen der Opposition aus, die sich durchaus auch im legalen Bereich bewegen sollten (unter anderem Entwicklung der Selbstverwaltung in den Betrieben, zugelassene Vereine und Ähnliches). Aber auch die Beratungs- und Informationstätigkeit für die konspirativen Strukturen sollte aufrechterhalten werden. Es ging ihm um eine Politik der kleinen Schritte, mit denen letztendlich große Ziele erreicht werden sollten. Ab Mai 1988 vertrat Kuroń die Meinung, allein die Wiederzulassung der *Solidarność reiche als politisches Ziel nicht mehr aus. Der jüngste Wandel in der Sowjetunion ließen Forderungen nach einer perspektivischen Bildung einer Koalitionsregierung real erscheinen, die sich der Wirtschaftskrise annehmen und die großen politischen Reformen in Angriff nehmen müsse.

Ab 1987 arbeitete er an einem Gremium mit, aus dem im Dezember das *Bürgerkomitee (Komitet Obywatelski) beim Vorsitzenden der *Solidarność hervorging.

Bis zum Schluss betrachtete die polnische Staatsführung Kuroń als gefährlichen Radikalen, weswegen sie ihn während der vorbereitenden Gespräche zum *Runden Tisch von den Verhandlungen ausschloss. Zu guter Letzt nahm er jedoch trotzdem an den Plenarsitzungen des *Runden Tisches und an dessen Arbeitsgruppe „Politische Reformen“ teil, ebenso an einigen vertraulichen Verhandlungen. Kuroń war damit sogar einer der Autoren des 1989 am *Runden Tisch erzielten Kompromisses. Bei den „halbfreien“ Wahlen wurde er am 4. Juni 1989 als Kandidat des *Bürgerkomitees als Abgeordneter in das polnische Parlament (Sejm) gewählt.

Auch nach dem Ende des Kommunismus blieb Kuroń bis 2001 Sejm-Abgeordneter der Fraktionen *Bürgerkomitee „Solidarność“, Demokratische Union (Unia Demokratyczna) und danach der Freiheitsunion (Unia Wolności). 1989/90 und 1992/93 war er Minister für Arbeit und Sozialpolitik, 1991–94 stellvertretender Parteivorsitzender der Demokratischen Union und ab 1995 der Freiheitsunion. Viele Jahre lang führte er den Vorsitz im Parlamentsausschuss für nationale Minderheiten.

Jacek Kuroń starb am 2004 in Warschau.


Andrzej Friszke, Ryszard Żelichowski
Aus dem Polnischen von Gero Lietz
Letzte Aktualisierung: 07/16

Information

Die Sonderzeichen * und # erscheinen lediglich aus technischen Gründen im Text. Auf der Ursprungs-Webseite dissidenten.eu finden sie weiterführende Links sowie die vollständige Version der Biografien mit Glossarerklärungen, Chroniken und ausführlichen Darstellungen der Oppositionsgeschichten aller Länder.