x

In der Kategorie BioLex sind drei wichtige Lexika mit über 5500 Biografien von überzeugten Kommunistinnen und Kommunisten, Renegatinnen und Dissidenten im Volltext recherchierbar.

 

Das Handbuch „Deutsche Kommunisten. Biographisches Handbuch 1918 bis 1945“ wird von Andreas Herbst und Hermann Weber in der 8. aktualisierten Ausgabe herausgegeben. Auf breiter Quellenbasis werden die Schicksale deutscher Kommunisten knapp geschildert, von denen etwa ein Drittel während der NS-Diktatur und durch den Stalinistischen Terror gewaltsam ums Leben kam.

Kurzbiografien zu Personen des politischen Lebens in der DDR stellt das von Helmut Müller-Enbergs, Jan Wielgohs, Dieter Hoffmann, Andreas Herbst, Ingrid Kirschey-Feix herausgegebene Lexikon ostdeutscher Biographien „Wer war wer in der DDR?“ Ch. Links Verlag, 5. Aufl. 2010 bereit.

Zudem ist das Online-Lexikon www.dissdenten.eu ebenfalls auf unserer Seite aufrufbar. Die über 700 Biografien mit umfangreichen Informationen zu Oppositionellen, Bürgerrechtlern und  Dissidenten aus vielen Ländern Ost- und Mitteleuropas werden laufend erweitert.

 

Wer war wer in der DDR?

Miklós, Gáspár

* 1948 ✝ 2023




Gáspár Miklós Tamás wurde 1948 im rumänischen Cluj (Klausenburg / Kolozsvár) in Siebenbürgen geboren. Nach dem Abitur am dortigen Unierten Kolleg studierte er 1966/67 Philosophie an der Babeş-Bolyai-Universität Cluj, 1967–69 klassische Philologie in Bukarest und 1969–72 erneut Philosophie in Cluj. Gemeinsam mit Vilmos Ágoston und Gusztáv Molnár gehörte er der Schule des Philosophen György Bretter an.

1972–78 war er für die in Cluj erscheinende Wochenzeitschrift „Utunk“ tätig. Als er sich 1978 weigerte, einen die Politik von Staats- und Parteichef Nicolae Ceauşescu in höchsten Tönen lobenden Beitrag abzudrucken, begannen mehrmonatige Schikanen der Geheimpolizei Securitate gegen ihn, die damit endeten, dass Tamás Rumänien verließ und nach Ungarn ging.

Noch während seiner Zeit in Siebenbürgen hatte er in Ungarn philosophische Texte und Rezensionen veröffentlicht. Er unterhielt enge Kontakte zur Schule des Philosophen György Lukács und war mit den Schülern von György Márkus befreundet.

In den Jahren 1979 bis 1981 hielt er Vorlesungen in Philosophiegeschichte am Lehrstuhl für Philosophie der Loránd-Eötvös-Universität Budapest; aus dem Kreise seiner Studenten gingen die „führenden“ Köpfe der unabhängigen Studentenbewegung „Dialog“ hervor: István Szent-Iványi, Roza Hodosán, András Kovács, Ákos Róna-Tass. Zur Jahreswende 1979/80 hielt Tamás drei aufsehenerregende Vorlesungen zur Siebenbürgen-Problematik, in denen er sowohl dem ungarischen Nationalismus als auch linken romantischen Illusionen eine Abfuhr erteilte. Ende 1981 arbeitete er für die Redaktion der Samisdat-Schrift „Kisugó“ (in etwa „Hinausplauderer“).

Im Gegensatz zu den meisten anderen Bürgerrechtlern ließ sich Tamás durch die Einführung des *Kriegsrechts in Polen nicht niederschmettern, sondern fühlte sich zu vermehrter Aktivität angeregt. 1982 druckte der Unabhängige Verlag *AB (AB Független Kiadó) drei politische Essays von ihm. In dem Beitrag „Das stille Europa“ (A csendes Európa) schrieb er, die polnische Niederlage sei kein Grund für die Ungarn, auf den Kampf für die Demokratie zu verzichten. In seinen Essays „Die ungarische Frage“ (A magyar kérdés) und „Der Nationalismus als Zeichen und Metapher“ (A nacionalizmus mint rejtjel és metafora) lernten die Leser Tamás als modernen, demokratischen und den Nationalismus ablehnenden Patrioten kennen. Der Preis für seine oppositionelle Tätigkeit waren Repressalien der Staatsmacht: Nachdem er von der Universität entfernt worden war, war er zunächst einige Monate in einer Vorstadtbibliothek beschäftigt, bevor er seine Arbeit ganz verlor.

Tamás war innerhalb der ungarischen Opposition eine besondere Erscheinung. Einerseits war er ein Idealist, der in seiner politischen Arbeit stets Wert auf ideologische und moralische Inhalte legte. Zugleich wollte er weder aus der Tradition des linksorientierten Marxismus noch aus der sozialdemokratischen Ideologie schöpfen – auch nicht aus deren neueren, kritischen Strömungen. Seine Ansichten wurzelten im Anarchosyndikalismus und hatten eine gewisse libertär-patriotische Färbung. Zum Ausdruck kommen sie in seinen Essays. Dazu gehören unter anderen „Auge und Hand“ (A szem és a kéz) sowie „Einführung in die Politik“ (Bevezetés a politikába), beide 1983 im Verlag *AB veröffentlicht und später dann auch in einer Reihe von westlichen Verlagen. In späteren Veröffentlichungen unternahm Tamás den Versuch, eine moderne Spielart des Konservatismus zu erarbeiten.

1985 kandierte er, wie auch László Rajk, im Rahmen der sogenannten Bürgerliste zur ungarischen Parlamentswahl. 1986 stellten ihm die ungarischen Behörden aus Sorge um die öffentliche Meinung im Westen einen Reisepass aus. Tamás reiste nach New York, wo er als Gastprofessor an der Columbia University arbeitete. Gemeinsam mit den ebenfalls in New York weilenden Ferenc Kőszeg und Sándor Szilágyi initiierte er eine Erklärung prominenter osteuropäischer Bürgerrechtler aus Anlass des 30. Jahrestages der *Ungarischen Revolution von 1956, im Westen bekannt als „Osteuropäische Unabhängigkeitserklärung“. 1988 wurde Tamás Sprecher des Netzes Freier Initiativen.

Nach dem Ende des kommunistischen Regimes war er 1991–94 Parlamentsabgeordneter des *Bundes Freier Demokraten (Szabad Demokraták Szövetsége; SZDSZ), aus dem er 2000 austrat. Er war wissenschaftlicher Mitarbeiter und zeitweise Direktor des Instituts für Philosophie der Ungarischen Akademie der Wissenschaften bis er 2011 zusammen mit anderen politisch unliebsamen Kollegen entlassen wurde. Er engagierte sich in Opposition zu Viktor Orbán politisch links unter anderem im globalisierungskritischen Netzwerk Attac Ungarn und in der Partei Grüne Linke (Zöld Baloldal Párt). Tamás hatte zahlreiche Gastprofessuren und Fellowships inne (unter anderem an der Central European University in Budapest und Wien, in Oxford, am Wissenschaftskolleg zu Berlin, an der New School in Yale und am Institut für Wissenschaft vom Menschen in Wien). Bis zuletzt war er wissenschaftlich tätig.

Gáspár Miklós Tamás starb am 15. Januar 2023 in Budapest.



Sándor Szílágyi
Aus dem Polnischen von Gero Lietz
Letzte Aktualisierung: 02/23

Information

Die Sonderzeichen * und # erscheinen lediglich aus technischen Gründen im Text. Auf der Ursprungs-Webseite dissidenten.eu finden sie weiterführende Links sowie die vollständige Version der Biografien mit Glossarerklärungen, Chroniken und ausführlichen Darstellungen der Oppositionsgeschichten aller Länder.