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In der Kategorie BioLex sind drei wichtige Lexika mit über 5500 Biografien von überzeugten Kommunistinnen und Kommunisten, Renegatinnen und Dissidenten im Volltext recherchierbar.

 

Das Handbuch „Deutsche Kommunisten. Biographisches Handbuch 1918 bis 1945“ wird von Andreas Herbst und Hermann Weber in der 8. aktualisierten Ausgabe herausgegeben. Auf breiter Quellenbasis werden die Schicksale deutscher Kommunisten knapp geschildert, von denen etwa ein Drittel während der NS-Diktatur und durch den Stalinistischen Terror gewaltsam ums Leben kam.

Kurzbiografien zu Personen des politischen Lebens in der DDR stellt das von Helmut Müller-Enbergs, Jan Wielgohs, Dieter Hoffmann, Andreas Herbst, Ingrid Kirschey-Feix herausgegebene Lexikon ostdeutscher Biographien „Wer war wer in der DDR?“ Ch. Links Verlag, 5. Aufl. 2010 bereit.

Zudem ist das Online-Lexikon www.dissdenten.eu ebenfalls auf unserer Seite aufrufbar. Die über 700 Biografien mit umfangreichen Informationen zu Oppositionellen, Bürgerrechtlern und  Dissidenten aus vielen Ländern Ost- und Mitteleuropas werden laufend erweitert.

 

Wer war wer in der DDR?

Moros, Walentyn

* 1936 ✝ 2019




Walentyn Moros wurde 1936 als Sohn einer Bauernfamilie in dem damals zu Polen gehörenden, wolhynischen Dorf Chołoniów (Choloniw) geboren. Nach seinem Schulabschluss studierte er bis 1958 Geschichte an der Universität Lwiw und absolvierte im Anschluss ein Fernstudium für Doktoranden. Parallel arbeitete er als Lehrer an einer Dorfschule. Ab 1964 war er Dozent am Pädagogischen Institut, zunächst in Luzk und später in Iwano-Frankiwsk. Zu seinen Forschungsinteressen gehörte die ukrainische nationale Befreiungsbewegung im 20. Jahrhundert. Seine Doktorarbeit schrieb er über den Prozess der polnischen Behörden gegen Aktivisten der Kommunistischen Partei der Westukraine 1934 in Łuck (Luzk), das in dieser Zeit zu Polen gehörte.

Am 1. September 1965 wurde Moros verhaftet. Das Gebietsgericht Wolhynien verurteilte ihn am 20. Januar 1966 nach Artikel 62, Paragraf 1 Strafgesetzbuch der Ukrainischen SSR (entspricht *Artikel 70, Paragraf 1 Strafgesetzbuch der RSFSR) zu vier Jahren Freiheitsentzug. Vorgeworfen wurden ihm „antisowjetische Agitation und Propaganda und ukrainischer bürgerlicher Nationalismus“ (er hatte die Politik der Russifizierung in der Ukraine kritisiert und sich für die Abspaltung der Ukraine von der UdSSR ausgesprochen) sowie die Weiterverbreitung von Samisdat-Erzeugnissen. Die Strafe verbüßte er in den *mordwinischen Lagern und im *Wladimir-Gefängnis. Hier war er Mitorganisator von Protestaktionen gegen Unrechts- und Willkürmaßnahmen der Lagerverwaltung und schrieb den ursprünglich als Petition an die Lagerleitung verfassten Essay „Reportage aus dem Berija-Reservat“ (Reportaž iz zapovidnyka imeni Berija). Im April 1967 gelang es, den Text aus dem Lager zu schleusen und an Wjatscheslaw Tschornowil weiterzuleiten, der ihn wiederum Abgeordneten des Obersten Sowjets der Ukraine zukommen ließ. Der Essay wurde im Samisdat auf Russisch und Ukrainisch weiterverbreitet, er erschien anonym im Ausland und wurde zu einem der bekanntesten Texte über die in den sowjetischen Lagern für politische Gefangene herrschenden Zustände Ende der 60er Jahre. Moros lieferte hier eine soziologisch und psychologisch begründete Analyse des sowjetischen Systems. Er beschrieb die Entwertung menschlichen Lebens, die Zerstörung der Individualität und wie es auf diese Weise gelang, einen beliebig steuerbaren, „leeren Menschen“ zu erschaffen. Moros schrieb: „Stalin lehnte die Kybernetik ab, hatte jedoch auf diesem Gebiet eine ernstzunehmende Errungenschaft vorzuweisen: Er erfand den programmierten Menschen. [...] Ein Mensch, dem die Fähigkeit der Unterscheidung von Gut und Böse genommen wurde, verwandelt sich in einen Schäferhund, der nur auf Befehl in Wut ausbricht und nur dort das Böse sieht, wo man es ihm zeigt. [...] Nach der Verwandlung der Menschen in Schrauben kann man bedenkenlos jede Verfassung beschließen und sehr weitgehende Rechte verleihen. Denn darum geht es ja: Einer Schraube fällt es gar nicht erst ein, diese Rechte auch in Anspruch zu nehmen.“ Im Unterschied zu Iwan Dsjuba oder Wjatscheslaw Tschornowil rief Moros nicht zu einem „konstruktiven Dialog“ im Rahmen des Systems auf, sondern lehnte das System als solches ab.

Nach seiner Haftentlassung im September 1969 machte sich Moros in sowjetischen Dissidentenkreisen als Samisdat-Publizist einen Namen. In seinem Aufsatz „Mitten im Schnee“ (Sered snihiv) nahm er Bezug auf die von Iwan Dsjuba geübte Selbstkritik und begegnete rationalen Verhaltensweisen mit einer ganz eigenen Art von Wahnsinn, Idealismus und Donquichotterie: „Apostel! Die heutige Ukraine braucht Apostel und keine satten Pragmatiker, keine ‚Realisten‘ mit ihren Argumenten! Es hat noch keine geistige Wende ohne Apostel gegeben. Und auch die ukrainische Wiedergeburt in unserer Zeit ist ohne sie nicht möglich.“ In den Essays „Chronik des Widerstands“ (Chronika oporu) und „Moses und Datan“ (Mojsej i Datan) griff Moros die Frage der nationalen Identität auf, deren Verteidigung er als wahres Antidoton gegen die uniformierende und dehumanisierende Macht des Systems betrachtete. Der im Exil lebende liberale Historiker Iwan Lysjak-Rudnyzki machte für den ukrainischen Nationalismus der 30er Jahre charakteristische Elemente in Morosʼ Essayistik aus: „philosophischer Voluntarismus, Entschlossenheit zur Verteidigung der Reinheit der nationalen Idee um jeden Preis, verächtliche Ablehnung jeglicher pragmatischer Anpassungsversuche an die bestehenden Verhältnisse sowie Kult eines starken, heldenmutigen und opferbereiten Individuums“.

Am 1. Juni 1970 wurde Walentyn Moros erneut verhaftet. Die Gerichtsverhandlung fand am 17. und 18. November desselben Jahres am Gebietsgericht Iwano-Frankiwsk unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Nicht einmal zur Urtreilsverkündung wurden Freunde und Verwandte des Angeklagten zugelassen. Zur Last gelegt wurden Moros die von ihm im Samisdat verbreiteten Beiträge. Die Zeugen Wjatscheslaw Tschornowil, Iwan Dsjuba und Borys Antonenko-Dawydowytsch verweigerten die Aussage, ebenso wie der Angeklagte selbst, der als Zeichen des Protestes, jede Zusammenarbeit mit dem Gericht ablehnte. Das Gericht betrachtete Moros als „besonders gefährlichen Rückfalltäter“ und verurteilte ihn nach Artikel 62, Paragraf 2 Strafgesetzbuch der Ukrainischen SSR (entspricht *Artikel 70, Paragraf 2 Strafgesetzbuch der RSFSR) zu sechs Jahren Gefängnis, drei Jahren *Lagerhaft mit besonderem Vollzug und fünf Jahren Verbannung. Die ukrainische Intelligenz reagierte empört auf dieses drakonische Urteil. Beim Obersten Gericht der Ukrainischen SSR gingen über 40 Protestschreiben ein, in Kanada und den USA fanden vor Botschaften und Konsulaten der UdSSR Protestkundgebungen statt.

Moros wurde zuerst ins *Wladimir-Gefängnis gebracht, wo er immer wieder von seinem Zellennachbar, einem Schwerverbrecher, angegriffen wurde. Erst mit einem langen Hungerstreik erwirkte er die Verlegung in eine Einzelzelle. Nach Ablauf der Gefängnisstrafe wurde er in die *mordwinischen Lager überstellt. Hier beteiligte er sich an Hungerstreiks und anderen Protestaktionen. Sein Führungsanspruch innerhalb der Gruppe der ukrainischen politischen Gefangenen und die mangelnde Toleranz, die er gegenüber anderen Häftlingen aufbrachte, führte zu Konflikten. Ein dreiköpfiges Gremium, bestehend aus Wassyl Romanjuk, Eduard Kusnezow und Danylo Schumuk, war bemüht, unter den miteinander zerstrittenen politischen Strömungen zu vermitteln sowie ein Klima gegenseitigen Respekts und allseitiger Anerkennung individueller humanitärer Rechte zu schaffen. Das Gremium befand, das Verhalten von Moros, wie auch von Iwan Hel, sei eines politischen Häftlings unwürdig, und sprach einen strengen Tadel aus. Unter anderem wurde ihnen vorgeworfen, Feindseligkeiten zwischen den Nationalitäten, insbesondere gegenüber Russen und Juden, geschürt zu haben. Morosʼ antisemitische Haltung bezeichnete das Gremium als eine Schande für die ukrainischen Dissidenten, als der größten Gruppe der Lagerinsassen, und sie schade der demokratischen Bewegung als Ganzes. Gefordert wurde, die beiden Getadelten auszuschließen und im Samisdat nicht mehr namentlich zu erwähnen. Die Redaktion der *„Chronik der laufenden Ereignisse“ wies diese Forderung jedoch zurück.

1979 trat Moros in einen fünf Monate währenden Hungerstreik. Unter Druck der internationalen Öffentlichkeit wurde er aus der Haft entlassen. In der Nacht auf den 28. April 1979 kam es auf dem New Yorker Kennedy Airport zu einem Gefangenenaustausch: Moros wurde zusammen mit Alexander Ginsburg, Georgij Wins, Michail Dymschyz und Eduard Kusnezow gegen ehemalige sowjetische UNO-Mitarbeiter ausgetauscht, die in den USA unter dem Vorwurf der Spionage zu langjährigen Haftstrafen verurteilt worden waren. Moros und die anderen politischen Gefangenen wussten im Vorfeld nichts von diesem Übereinkommen, in dessen Zuge sie, ohne um ihr Einverständnis gefragt, ausgebürgert und mit sofortiger Wirkung aus der Sowjetunion ausgewiesen wurden.

Moros lebte zunächst in den USA und hielt kurzzeitig Vorlesungen an der Harvard University. Später arbeitete er als Radiojournalist in Kanada. In die Ukraine kehrte er zum ersten Mal Anfang der 90er Jahre zurück. Ab 1997 lebte er dauerhaft in Lwiw. Er war kurzzeitig Geschäftsmann, arbeitete als Hochschullehrer und verfasste zahlreiche Publikationen.

Walentyn Moros starb am 16. April 2019 in Lwiw.



Iryna Rapp
Aus dem Polnischen von Gero Lietz
Letzte Aktualisierung: 09/20

Information

Die Sonderzeichen * und # erscheinen lediglich aus technischen Gründen im Text. Auf der Ursprungs-Webseite dissidenten.eu finden sie weiterführende Links sowie die vollständige Version der Biografien mit Glossarerklärungen, Chroniken und ausführlichen Darstellungen der Oppositionsgeschichten aller Länder.