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In der Kategorie BioLex sind drei wichtige Lexika mit über 5500 Biografien von überzeugten Kommunistinnen und Kommunisten, Renegatinnen und Dissidenten im Volltext recherchierbar.

 

Das Handbuch „Deutsche Kommunisten. Biographisches Handbuch 1918 bis 1945“ wird von Andreas Herbst und Hermann Weber in der 8. aktualisierten Ausgabe herausgegeben. Auf breiter Quellenbasis werden die Schicksale deutscher Kommunisten knapp geschildert, von denen etwa ein Drittel während der NS-Diktatur und durch den Stalinistischen Terror gewaltsam ums Leben kam.

Kurzbiografien zu Personen des politischen Lebens in der DDR stellt das von Helmut Müller-Enbergs, Jan Wielgohs, Dieter Hoffmann, Andreas Herbst, Ingrid Kirschey-Feix herausgegebene Lexikon ostdeutscher Biographien „Wer war wer in der DDR?“ Ch. Links Verlag, 5. Aufl. 2010 bereit.

Zudem ist das Online-Lexikon www.dissdenten.eu ebenfalls auf unserer Seite aufrufbar. Die über 700 Biografien mit umfangreichen Informationen zu Oppositionellen, Bürgerrechtlern und  Dissidenten aus vielen Ländern Ost- und Mitteleuropas werden laufend erweitert.

 

Wer war wer in der DDR?

Orlow, Juri

* 1924 ✝ 2020




Juri Orlow ist Kind einer Arbeiterfamilie aus Moskau, wo er 1924 geboren wurde. In den ersten Jahren des Zweiten Weltkrieges arbeitete er in Waffenfabriken, 1944 wurde er in die Armee eingezogen und kam nach Abschluss der Artillerieschule als Leutnant an die Front. Schon während seiner Armeezeit wurde er Kandidat der KPdSU, 1948 dann Mitglied. 1946 wurde er aus der Armee entlassen, 1947–49 war Orlow Student des Moskauer Institutes für Physik und Technik, danach studierte er an der Physikalischen Fakultät der Moskauer Universität. Zwischen 1952 und 1956 arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Laboratorium für Wärmetechnik des Ministeriums für Maschinenbau, später am Institut für theoretische und experimentelle Physik der Akademie der Wissenschaften der UdSSR. Er spezialisierte sich auf dem Gebiet der Elementarphysik, schrieb und veröffentlichte seine Dissertation, ohne sie jedoch verteidigen zu können.

Schon seit Mitte der 40er Jahre entwickelte Orlow dank eigener Beobachtungen und unter dem Einfluss von Gesprächen mit Offizierskollegen in der Armee eine kritische Einstellung zum sowjetischen System. In der Armee zog er sogar in Betracht, sich an einem konspirativen Zirkel zu beteiligen. Nachdem er 1956 von der Geheimrede Chruschtschows und dessen Verurteilung des stalinistischen Systems auf dem XX. Parteitag der KPdSU erfahren hatte, wurde sich Orlow endgültig über den repressiven Charakter des Kommunismus im Klaren.

Kurz nach dem XX. Parteitag wurde aus Anlass von Chruschtschows Geheimrede eine Parteiversammlung in Orlows Labor einberufen. In seiner Stellungnahme bezeichnete Orlow Geheimpolizeichef Beria und Stalin als „mörderische Machthaber“ und forderte eine „Demokratie auf Basis des Sozialismus“. Andere Redner befürworteten seine Position. Ein vertraulicher Brief des ZK der KPdSU an die Parteiorganisationen befasste sich daraufhin eigens mit diesen „Exzessen gegen die Partei“. Am 21. April 1956 erschien ein Artikel darüber in der „Pravda“. Orlow und drei andere Teilnehmer der Diskussion wurden entlassen und aus der Partei ausgeschlossen. Um den entlassenen Kollegen zu helfen, sammelten die Physiker Geld. Mehrere Monate lang hatte Orlow keine Beschäftigung. Damals lernte er Walentin Turtschin kennen, mit dem er sich anfreundete.

Im August 1956 stellte Abram Alichanow, der Direktor des Institutes für theoretische und experimentelle Physik der Akademie der Wissenschaften der Armenischen Sowjetrepublik, Orlow in seiner Einrichtung ein. Während der folgenden 16 Jahre arbeitete und lebte Orlow in Eriwan. Dort verteidigte er 1958 seine Doktorarbeit und anschließend 1963 die Habilitation. 1968 wurde er korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften der Armenischen Sowjetrepublik. 1972 kehrte Orlow nach Moskau zurück und nahm eine Stelle am Institut für Erdmagnetismus, Ionosphäre und Verbreitung von Radiowellen an der Akademie der Wissenschaften der UdSSR an. Unter dem Einfluss der Pressekampagne gegen Andrei Sacharow wendete er sich im September 1973 wieder dem gesellschaftlichen Engagement zu. Er richtete einen offenen Brief an Parteichef Leonid Breschnew unter der Überschrift „Die Gründe der intellektuellen Rückständigkeit der UdSSR und Vorschläge zu ihrer Überwindung“ (O pričinach intellektual‘nogo otstavanija SSSR i o predloženijach jego preodolenija), der auch als „13 Fragen an Breschnew“ (Trinadcat‘ voprosov Brežnevu) bekannt wurde. Orlow schlug darin eine Lockerung der staatlichen Kontrolle über die Wirtschaft vor und verlangte die Demokratisierung des politischen Lebens. Sein Appell verbreitete sich im Samisdat und er lernte sehr schnell eine ganze Reihe der Moskauer Dissidenten kennen. Im Oktober 1973 gründete er zusammen mit Walentin Turtschin und Andrei Twerdochlebow die *Sowjetische Sektion von Amnesty International.

Anfang 1974 wurde Orlow abermals entlassen und musste sich fortan seinen Lebensunterhalt mit Nachhilfestunden verdienen. Er beteiligte sich an den Kampagnen zur Verteidigung von Alexander Solschenizyn, Alexander Woronel, Juri Gastew, Parujr Hajrikjan, Wladimir Ossipow, Sergei Kowaljow, Andrej Twerdochlebow, Mustafa Dschmilew, Andrei Sacharow und Leonid Pljuschtsch. Am 30. Oktober 1974 nahm er an der Pressekonferenz aus Anlass des *Tages des politischen Häftlings in der UdSSR teil. Er organisierte in seiner Wohnung Seminare für Wissenschaftler, die aus politischen Gründen aus ihrer Arbeit gedrängt worden waren.

In seinem im Dezember 1975 im Samisdat erschienenen Artikel „Ist ein nichttotalitärer Sozialismus möglich?“ (Vozmožen li socializm nie totalitarnogo tipa?) entwickelte er das „Konzept eines Sozialismus mit dezentralisierter, individueller wirtschaftlicher und politischer Selbstständigkeit ohne Privateigentum“ und war der Überzeugung, dass für den damaligen Zeitpunkt die Entwicklung einer „ethischen, antitotalitären Bewegung“ am wichtigsten sei.

Nach Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte von Helsinki diskutierte Orlow mit einigen Bekannten, darunter Andrei Amalrik und Natan Scharanski, die Idee, in den Unterzeichnerländern der Helsinki-Akte nationale Komitees zu gründen, die unabhängig von den Staatsorganen die Umsetzung der Bestimmungen im Bereich der Menschenrechte kontrollieren sollten. Am 12. Mai 1976 wurde in der Wohnung von Andrei Sacharow die Gründung der „Öffentlichen Gruppe zur Förderung der Umsetzung der Beschlüsse von Helsinki in der UdSSR“ (*Moskauer Helsinki-Gruppe) mit Orlow als Vorsitzendem bekannt gegeben. Andrei Amalrik erinnert sich daran wie folgt: „Orlow erwies sich als ausgezeichnete Führungspersönlichkeit. Er tolerierte andere Ansichten und war in der Lage, Menschen zu vereinen, ohne ihnen einen fremden Willen aufzuzwingen. Die Helsinki-Gruppe wurde zum Bindeglied für verschiedene Strömungen innerhalb der Opposition – von den Menschenrechtlern bis hin zur nationalen und ökonomischen Opposition – und verband außerdem die Intelligenz und die Arbeiter. Gleichzeitig drängte sie den Westen dazu, auf Verstöße der sowjetischen Regierung gegen die Helsinki-Beschlüsse zu reagieren.“



1976/77 entstanden nach dem Vorbild der *Moskauer Helsinki-Gruppe mehrere andere gleichartige Organisationen in der Sowjetunion: die *Ukrainische Helsinki-Gruppe, die *Litauische Helsinki-Gruppe, die *Georgische Helsinki-Gruppe und die *Armenische Helsinki-Gruppe. Später überschritt die Bewegung auch die Grenzen der UdSSR. Noch heute ist die Internationale Helsinki-Föderation eine der bekanntesten und bedeutendsten Vereinigungen für die Verteidigung der Menschenrechte weltweit.

Das Wirken der *Moskauer Helsinki-Gruppe traf auf starken Widerstand der Machtorgane. Schon am 15. Mai 1976 wurde Orlow vom KGB vorgeladen. Ihm wurden eine Verwarnung verlesen und mögliche Konsequenzen seiner angeblich „rechtswidrigen Tätigkeit“ angedroht; die sowjetische Nachrichtenagentur TASS verbreitete unverzüglich im Ausland eine Meldung mit dem unmissverständlichen Titel „Warnung an einen Provokateur“ (Predupreždenie provokatoru).

Juri Orlow war ab sofort ständiger und demonstrativ offener Überwachung ausgesetzt und wurde immer wieder zu Verhören vorgeladen. Im Januar 1977 wurde in seiner Wohnung eine Hausdurchsuchung durchgeführt. Dessen ungeachtet setzte er sein Wirken fort, unterschrieb Briefe zur Verteidigung von Andersdenkenden, nahm an Treffen der *Sowjetischen Sektion von Amnesty International teil, war Mitautor von Appellen zur Verteidigung von verfolgten Autoren der tschechoslowakischen *Charta 77, der Mitglieder des polnischen „Komitees zu Verteidigung der Arbeiter“ (*KOR) sowie des jugoslawischen Schriftstellers Michail Michajlow.

Am 10. Februar 1977 wurde Orlow verhaftet und in ein Untersuchungsgefängnis Lefortovo des KGB überstellt. Im Verlauf des Ermittlungsverfahrens, das sich über ein ganzes Jahr hinzog, wies er jede Schuld von sich und unterstrich den Wahrheitsgehalt der Veröffentlichungen der *Moskauer Helsinki-Gruppe.

Vom 15. bis 18. Mai 1978 wurde über den Fall Orlow, der nach Paragraf 1 des *Artikels 70 Strafgesetzbuch der RSFSR angeklagt war, vor dem Moskauer Stadtgericht verhandelt. Orlow verweigerte ein Schuldeingeständnis und wurde zu sieben Jahren Lagerhaft mit strengem Regime und zu fünf Jahren Verbannung verurteilt. Am Tag der Urteilsverkündung versammelten sich vor dem Gebäude des Gerichts zirka 200 Personen. Andrei Sacharow, Jelena Bonner und andere wurden verhaftet weil sie versuchten, in den Verhandlungssaal vorzudringen. Zur Verteidigung des Verurteilten wurde eine internationale Kampagne organisiert, an der sich herausragende Wissenschaftler und Personen des öffentlichen Lebens in den USA, Großbritannien, Frankreich, der Bundesrepublik und der Schweiz beteiligten.

Gleich nach der Ankunft in den *Permer Lagern erklärte Orlow, dass er Mitglied der *Moskauer Helsinki-Gruppe bleiben würde und beabsichtige, die Rolle eines Beobachters einzunehmen. Hierbei handelte es sich keineswegs um ein Lippenbekenntnis: Der Bericht der *Moskauer Helsinki-Gruppe „Die Situation politischer Häftlinge in den Lagern der UdSSR“ (O položenii zaključënnych v lagerjach SSSR) vom 25. April 1979 wurde auf der Grundlage eines Textes von Orlow und anderen politischen Gefangenen zusammengestellt.

Trotz Behinderungen durch die Lagerleitung setzte Orlow seine wissenschaftliche Arbeit in Haft fort und versuchte, die Ergebnisse nach draußen weiterzuleiten.

Juri Orlow wurde 1978 von Andrei Sacharow für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen. 1979 verlieh ihm die Internationale Liga für Menschenrechte ihre Medaille. Im gleichen Jahr wurde ihm insgeheim der Titel des korrespondierenden Mitgliedes der Akademie der Wissenschaften der Armenischen SSR entzogen. Die Verbannung im Anschluss an seine Haft verbrachte Orlow in der Sowjetrepublik Jakutien.

Am Vorabend des Treffens von Michail Gorbatschow und Ronald Reagan Ende September 1986 im isländischen Reykjavik wurde bekannt gegeben, dass die UdSSR dem Austausch Orlows gegen einen Mitarbeiter des sowjetischen Geheimdienstes, der in den USA inhaftiert war, zustimme. Orlow wurde mit dem Flugzeug nach Moskau gebracht und drei Tage lang intensiv im Lefortovo-Gefängnis verhört. Durch Beschluss des Präsidiums des Obersten Sowjets verlor er die sowjetische Staatsbürgerschaft, welche er erst im August 1990 zurückerhielt. Am 5. Oktober 1986 wurde Orlow in die USA ausgewiesen (wo er 1993 die amerikanische Statsbürgerschaft erhielt).

Im Ausland nahm er an den Treffen der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) 1986 und 1988 in Wien, 1989 in Paris und 1991 in Moskau teil und organisierte Kampagnen zur Verteidigung sowjetischer politischer Häftlinge. Ende 1986 wurde Orlow zum Ehrenvorsitzenden der Internationalen Helsinki-Föderation ernannt. Ab Juni 1989 fuhr Orlow regelmäßig in die Sowjetunion. 1989 appellierte er an die demokratischen Kräfte, nach dem Vorbild der polnischen *Solidarność eine Massenpartei zu gründen. Er unterstützte Boris Jelzin aktiv in den Jahren 1990 und 1991 und nahm an den Aktivitäten der 1989 reaktivierten *Moskauer Helsinki-Gruppe teil. Später veröffentlichte er seine Erinnerungen (Deutsch „Ein russisches Leben“, 1992) und wirkte auch an Dokumentarfilmen über die sowjetische Dissidentenbewegung mit. Neben seinem gesellschaftlichen Wirken widmete sich Orlow vor allem seiner wissenschaftlichen Arbeit: Seit 1987 war er Physikprofessor an der Cornell University in Ithaca im US-Bundesstaat New York, wo er später auch als Emeritus lehrte.

Juri Orlow starb am 27. September 2020 in den USA.



Dmitri Subarew, Gennadi Kusowkin
Aus dem Polnischen von Tim Bohse
Letzte Aktualisierung: 09/20

Information

Die Sonderzeichen * und # erscheinen lediglich aus technischen Gründen im Text. Auf der Ursprungs-Webseite dissidenten.eu finden sie weiterführende Links sowie die vollständige Version der Biografien mit Glossarerklärungen, Chroniken und ausführlichen Darstellungen der Oppositionsgeschichten aller Länder.