x

In der Kategorie BioLex sind drei wichtige Lexika mit über 5500 Biografien von überzeugten Kommunistinnen und Kommunisten, Renegatinnen und Dissidenten im Volltext recherchierbar.

 

Das Handbuch „Deutsche Kommunisten. Biographisches Handbuch 1918 bis 1945“ wird von Andreas Herbst und Hermann Weber in der 8. aktualisierten Ausgabe herausgegeben. Auf breiter Quellenbasis werden die Schicksale deutscher Kommunisten knapp geschildert, von denen etwa ein Drittel während der NS-Diktatur und durch den Stalinistischen Terror gewaltsam ums Leben kam.

Kurzbiografien zu Personen des politischen Lebens in der DDR stellt das von Helmut Müller-Enbergs, Jan Wielgohs, Dieter Hoffmann, Andreas Herbst, Ingrid Kirschey-Feix herausgegebene Lexikon ostdeutscher Biographien „Wer war wer in der DDR?“ Ch. Links Verlag, 5. Aufl. 2010 bereit.

Zudem ist das Online-Lexikon www.dissdenten.eu ebenfalls auf unserer Seite aufrufbar. Die über 700 Biografien mit umfangreichen Informationen zu Oppositionellen, Bürgerrechtlern und  Dissidenten aus vielen Ländern Ost- und Mitteleuropas werden laufend erweitert.

 

Wer war wer in der DDR?

Pimenow, Rewolt

* 1931 ✝ 1990




Rewolt Pimenow wurde 1931 im südrussischen Nowotscherkassk geboren. Sein Vater war Kosake aus dem nordkaukasischen Kuban-Gebiet, der während des sowjetischen Bürgerkrieges in die Kommunistische Partei eingetreten war und bei der Staatssicherheit (Tscheka) arbeitete. Zwischen 1940 und 1944 lebte die Familie in Magadan, der Hauptstadt des im Fernen Osten gelegenen Straflagerkomplexes Dalstroi. Als Kind wurde Pimenow Zeuge der unmenschlichen Behandlung der Häftlinge. Ab 1947 wohnte er in Leningrad, dem heutigen Sankt Petersburg, wo er 1948 die Mittelschule abschloss und ein Universitätsstudium an der Fakultät für Mathematik und Mechanik aufnahm. Pimenow begann sich für die neueste Geschichte Russlands zu interessieren: Es gelang ihm, an viele Bücher über die revolutionäre Bewegung vor 1917 zu kommen, obwohl sie offiziell aus dem Umlauf genommen worden waren.

Im Oktober 1949 erklärte Pimenow aus Protest gegen die antijugoslawische Pressekampagne in der Sowjetunion seinen Austritt aus dem kommunistischen Jugendverband Komsomol. Er wurde daraufhin in ein psychiatrisches Krankenhaus eingeliefert, wo er von November bis Dezember 1949 blieb. Da er seinen Austritt wieder zurücknahm, wurde er entlassen. Anfang der 50er Jahre lernte Pimenow Ernst Orlowski kennen, einen Mathematiker und späteren Dissidenten. Von der Universität wurde Pimenow mehrfach wegen angeblicher „Disziplinlosigkeit“, in Wahrheit jedoch wegen seiner nonkonformistischen Ansichten relegiert. Dank der Interventionen des Rektors Professor Alexander Alexandrow konnte Pimenow jedoch jedes Mal an die Universität zurückkehren. Alexandrow war zwar ein erbitterter ideologischer Gegner Pimenows, schätzte jedoch dessen großes wissenschaftliches Talent. 1954 schloss Pimenow sein Studium ab und wurde Assistent am Lehrstuhl für Höhere Mathematik des Leningrader Institutes für Lebensmitteltechnik. Er schrieb eine Doktorarbeit über die Axiomatik der Geometrie und machte seine ersten Entdeckungen auf dem Gebiet der nichteuklidischen Geometrie und Kosmologie.

1954/55 schrieb Pimenow einen Zyklus unveröffentlichter Stücke über russische Revolutionäre, Provokateure und Verbannte mit den Titeln „Degajev“, „Šelabov“, „Karijskaja tragedija“ (Kara-Tragödie) und „Gappon“. Zur gleichen Zeit verfasste er aus Anlass des 110. Geburtstages des Philosophen Friedrich Nietzsche eine Arbeit über ihn sowie einen Aufsatz mit dem Titel „Schicksale der russischen Revolution“ (Sudby russkoj revolucji).

Im Frühjahr 1956 erhielt Pimenow ein Exemplar von Nikita Chruschtschows Geheimrede auf dem XX. Parteitag der KPdSU, in dem dieser mit dem Stalinismus abrechnete. Pimenow vervielfältigte und verteilte die Rede, der er einen eigenen Kommentar beigefügt hatte. Nach diesen politischen Aktivitäten beschäftigte sich Pimenow bis Oktober 1956 nur noch mit seiner wissenschaftlichen Arbeit und Lehre.

Dies änderte sich am 10. November auf einer Konferenz an der Leningrader Universität über Wladimir Dudinzews Roman „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein“ (Ne chlebom edinym)“. Dort rief Pimenow die Öffentlichkeit zum Widerstand gegen die sowjetische Bürokratie auf. Nach der Niederschlagung der *Ungarischen Revolution durch die Rote Armee 1956 wandte sich Pimenow brieflich an mehrere Dutzend Abgeordnete des Obersten Sowjets und forderte die Verurteilung der Invasion und das gesetzliche Verbot eines Einsatzes der Armee außerhalb der sowjetischen Grenzen ohne Zustimmung des Parlaments. Dieser Brief diente später als Belastungsmaterial.

Bis März 1957 entstanden um Pimenow in Leningrad und Moskau mehrere Zirkel, die hauptsächlich aus Studenten bestanden. Dort hielt er Vorlesungen über die Geschichte Russlands und der UdSSR und verbreitete seine Thesen über die *Ungarische Revolution. Zu jener Zeit gab er außerdem gemeinsam mit seiner Frau Irina Werblowskaja das Bulletin „Informacji“ (Informationen) mit Berichten zu aktuellen Ereignissen, die auf der Grundlage von Berichten polnischer, ungarischer und jugoslawischer Medien erstellt wurden, heraus. „Informacji“ war die erste nichtoffizielle regelmäßig erscheinende politische Publikation in der Nachkriegsgeschichte der UdSSR.

Einige von Pimenows Aktionen, wie zum Beispiel sein Auftritt auf der Leningrader Dudinzew-Konferenz oder sein Brief an die Abgeordneten des Obersten Sowjet, aber auch seine publizistischen Aktivitäten nahmen bereits typische Formen dissidentischen Wirkens vorweg, wie sie sich erst Ende der 60er Jahre etablierten sollten.

Unterdessen setzte Pimenow seine konspirative Arbeit fort. Im Dezember 1956 lernte er Boris Wail kennen und gründete unter dessen Mitwirkung einen politischen Untergrundzirkel am Institut für Bibliothekswesen. Im Januar 1957 verfasste Pimenow auf Drängen Wails programmatische Thesen für diesen Kreis, in dem es hieß: „Die Macht in die Hände der Räte, Boden für die Bauern, Fabriken für die Arbeiter, Kultur für die Intelligenz, Freiheit und gleiches Recht für alle!“ Im Februar 1957 verfasste Pimenow dann ein Flugblatt, das er vor den Kommunalwahlen verteilen wollte.

Am 25. März 1957 wurde Pimenow vom KGB verhaftet. Er wurde angeklagt, eine antisowjetische Organisation gegründet und angeführt zu haben. Zeitgleich mit ihm wurden noch fünf weitere Personen verhaftet, insgesamt wurden etwa 20 Personen strafrechtlich zur Verantwortung gezogen – unter anderem auch seine Frau und sein Vater.

Während des Untersuchungsverfahrens gestand Pimenow, dass seine Tätigkeit „gegen die Regierung gerichtet, aber nicht antisowjetisch“ war, denn – so argumentierte er – die Sowjets besäßen in der UdSSR sowieso keine Macht. Während des Prozesses gegen Pimenow und die anderen Angeklagten vom 26. August bis 6. September 1957 am Leningrader Stadtgericht bekannte er sich nicht schuldig. In seinem Schlussplädoyer sagte er: „Die einzige Garantie, dass sich der Personenkult nicht wiederholt, ist meiner Meinung nach die Bildung gesellschaftlicher Initiativen. Genau dazu hat meine Tätigkeit beigetragen. […] Ich denke, dass es für die Entwicklung des Sozialismus nötig ist, dass das Handeln der Regierung frei erörtert und manchmal auch scharf kritisiert wird.“ Pimenow wurde nach *Artikel 58, Paragraf 10 Strafgesetzbuch der RSFSR sowie nach Paragraf 11 desselben Artikels zu sechs Jahren Lagerhaft verurteilt. Nach dem Einspruch des Leningrader Staatsanwaltes, der das Urteil für zu milde hielt, fand vom 28. Januar bis 4. Februar 1958 ein Folgeprozess statt, der mit einer Verurteilung zu zehn Jahren Arbeitslager endete.

Seine Strafe verbüßte Pimenow von Mai bis Juni 1958 in Lagern in Workuta am nördlichen Polarkreis, von Juli 1958 bis Dezember 1960 im Oserlag im Krasnojarsker Gebiet und von Dezember 1960 bis 1963 im *Wladimir-Gefängnis. Während dieser Zeit setzte er seine wissenschaftliche Arbeit fort, schrieb 69 wissenschaftliche Arbeiten auf den Gebieten der Mathematik, Physik und Linguistik, unter anderen auch die Monografie „Geometrie, Kosmometrie und Ökonometrie“. Einige dieser Arbeiten konnte er sogar veröffentlichen. Um seine vorzeitige Entlassung bemühten sich unter anderem der Präsident der Akademie der Wissenschaften der UdSSR Mstislaw Keldysch, das Mitglied der Akademie der Wissenschaften und Sekretär der Abteilung für Literatur Wiktor Winogradow und der Redakteur der Zeitschrift „Novyj Mir“ Alexander Twardowski.

Nachdem der Oberste Sowjet der RSFSR Peminow begnadigt hatte, wurde er am 26. Juli 1963 entlassen. 1963–70 lebte er in Leningrad, war wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Leningrader Zweigstelle des Steklow-Institutes für Mathematik der sowjetischen Akademie der Wissenschaften, hielt an der Fakultät für Mathematik und Mechanik der Leningrader Universität Vorlesungen über Geometrie und war Mitglied der Kommission für Schwerkraft der Akademie der Wissenschaften der UdSSR. Auf einer Konferenz über Schwerkraft lernte er 1968 Andrei Sacharow kennen. 1964 verteidigte Pimenow seine Doktorarbeit und im November 1969 seine Habilitation.

In der zweiten Hälfte der 60er Jahre sammelte und vervielfältigte Pimenow unabhängige Publikationen. 1968 erschienen im Samisdat mit „Ein politischer Prozess“ (Odin političeskij process) seine Erinnerungen an den Gerichtsprozess von 1957. Auszüge daraus wurden in den 70er Jahren im Westen veröffentlicht, in Russland erschien das vollständige Buch erst 1996. Außerdem wurde die historische Streitschrift „Wie ich den Spion Reilly suchte“ (Kak ja iskal špiona Rejli) gedruckt, die vor allem im Samisdat weite Verbreitung fand und 1972 im Ausland und nach 1990 in mehreren Auflagen in Russland veröffentlicht wurde. 1969 zeichnete Pimenow den Verlauf des Prozesses gegen Juri Gendler, Lew Kwatschewski und Anatoli Studenkow auf. Der Text wurde unter dem Pseudonym „L. P. Nestor“ veröffentlicht.

Am 18. April 1970 wurde bei Pimenow eine Hausdurchsuchung durchgeführt, bei der über 250 im Samisdat herausgegebene Publikationen konfisziert wurden. Das Protokoll der Durchsuchung wurde damals auch im Samisdat bekannt gemacht. Gleichzeitig fand eine Durchsuchung bei Boris Wail statt. Nach einigen Tagen wurde Pimenow von Wadim Medwedew, dem Sekretär für Ideologiefragen des Leningrader Parteikomitees einbestellt. Eine Aufzeichnung dieses Gespräches übergab Pimenow der *„Chronik der laufenden Ereignisse“ (Nr. 15/1970). Am 23. Juli 1970 wurde er unter dem Vorwurf der „Verbreitung verleumderischer Informationen, die das sowjetische Staats- und Gesellschaftssystem herabwürdigen“ erneut verhaftet.

Der Prozess gegen Pimenow und Boris Wail, der am 14. und vom 20. bis 22. Oktober 1970 stattfand, löste ein großes gesellschaftliches Echo aus. Viele Moskauer Dissidenten kamen, um ihre Unterstützung für die Angeklagten zum Ausdruck zu bringen. Juri Aichenwald widmete dem Prozess das Poem

„Blätterfall in Kaluga“ (Listopad v Kaluge). Die Beschuldigten wurden angeklagt, nicht genehmigte Literatur aufbewahrt und weitergeleitet zu haben, darunter Milovan Đilas‘ Buch „Die neue Klasse“ sowie einen der zentralen Texte des *Prager Frühlings, das *„Manifest der 2.000 Worte“ (Dva tisíce slov). Die Angeklagten bekannten sich nicht schuldig und wurden zu jeweils fünf Jahren Verbannung verurteilt.

Pimenow gelang es, dem im Gerichtssaal anwesenden Andrei Sacharow heimlich Notizen aus den Untersuchungsakten und den Prozessmaterialien zu übergeben.

Die Verbannung verbüßte Pimenow in der nordrussischen Sowjetrepublik Komi in der Siedlung Krasny Saton, wo er in einer Sägemühle arbeitete. Anschließend kam er nach Syktywkar, in die Hauptstadt von Komi, wo er ab März 1972 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Außenstelle der Akademie der Wissenschaften der UdSSR wurde. Nach Ablauf seiner Verbannungszeit lebte und arbeitete Pimenow weiter in Syktywkar. Zwischen 1972 und 1980 schrieb und veröffentlichte er im Samisdat unter dem Pseudonym „Sergei Spektorski“ vier Bände der historischen Abhandlung „Die Ursprünge der heutigen Machthaber“ (Proischoždenie sovrjemennoj vlasti), in der er die politische Entwicklung der russischen Gesellschaft zwischen 1855 und 1980 beschrieb: „Ich wollte am Beispiel der vaterländischen Geschichte zeigen, was die Bedeutung von ‚Staat‘, ‚Volk‘ und ‚Regierung‘ ausmacht und was Russland hinsichtlich dieser Phänomene Neues in die Geschichte des 20. Jahrhunderts eingebracht hat.“

1976–81 arbeitete Pimenow für unabhängige Zeitschriften. Im historischen Journal *„Pamjat‘“ (Gedächtnis) veröffentlichte er einige Kapitel seines Buches „Ein politischer Prozess“, Dokumente über die Verteidigung der Menschenrechte aus der Zeit seiner ersten Verhaftung sowie Rezensionen zu Büchern von Awraam Schifrin und Anatoli Martschenko über die Lager in der poststalinistischen Zeit.

Pimenow war einer der aktivsten Autoren der Samisdat-Zeitschrift *„Summa“ (Summe), in der er unter den Pseudonymen „LPN“ und „L. P. Nestor“ schrieb. 1978–80 veröffentlichte er dort ungefähr 20 Rezensionen und Analysen. Er publizierte außerdem in der Zeitschrift *„Poiski“ (Suche) und schrieb seine Memoiren. Wegen der Verbreitung von Literatur im Samisdat, beispielsweise Gedichte von Alexander Galitsch, wurde er 1978 auf seiner Arbeit degradiert. Am 30. November 1982 wurde in seiner Wohnung in Syktywkar eine Durchsuchung durchgeführt, bei der seine Manuskripte sowie „illegale“ in- und ausländische Publikationen konfisziert wurden. Im Dezember 1982 und im Mai 1983 wurde Pimenow vom KGB verhört, er verweigerte jedoch die Aussage. Zwar wurde ein Verfahren gegen ihn eingeleitet, dieses später jedoch eingestellt.

Erst 1988 wurde Pimenows Habilitation offiziell bestätigt, wozu es bis dahin wegen seiner Verurteilung 1970 nicht gekommen war. 1989 wurde er Professor an der Universität Syktywkar. Seine Arbeiten erschienen sowohl in offiziellen Zeitschriften wie „Novy Mir“, „Neva“, „Ural“, „Novoje Vremja“ und „Knižnoe obosrenie“ als auch in der inoffiziellen Presse der Perestroika-Periode. 1988/89 hielt Pimenow in Syktywkar eine Serie von Vorlesungen zur Geschichte Russlands. Im Herbst nahm er an der Gründung der Gesellschaft *Memorial in Syktywkar teil und wurde dessen Vorsitzender. Im Januar 1989 war er Delegierter des sowjetischen Gründungskongresses von *Memorial in Moskau und kam in den Vorstand.

Bei der Wahl der Volksdeputierten der UdSSR im April 1989 war Pimenow Bevollmächtigter von Andrei Sacharow und kandidierte gleichzeitig mit dessen Unterstützung selbst als Volksdeputierter der Sowjetrepublik Komi. Pimenow erreichte den zweiten Wahlgang, unterlag aber im Mai 1990.

Im März 1990 wurde Pimenow jedoch zum Volksdeputierten der Russischen Sowjetrepublik gewählt. Er nahm vom 16. Mai bis 22. Juni 1990 an den Sitzungen des Ersten Kongresses der Volksdeputierten teil, gehörte zur Abgeordnetengruppe „Demokratisches Russland“ und wurde Mitglied der Verfassungskommission.

Rewolt Pimenow starb am 19. Dezember 1990 nach einer Operation in einem Krankenhaus in Berlin. Er wurde auf dem Schuwalowski-Nordfriedhof in Leningrad beigesetzt.


Dmitri Subarew
Aus dem Polnischen von Tim Bohse
Letzte Aktualisierung: 03/16

Information

Die Sonderzeichen * und # erscheinen lediglich aus technischen Gründen im Text. Auf der Ursprungs-Webseite dissidenten.eu finden sie weiterführende Links sowie die vollständige Version der Biografien mit Glossarerklärungen, Chroniken und ausführlichen Darstellungen der Oppositionsgeschichten aller Länder.