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In der Kategorie BioLex sind drei wichtige Lexika mit über 5500 Biografien von überzeugten Kommunistinnen und Kommunisten, Renegatinnen und Dissidenten im Volltext recherchierbar.

 

Das Handbuch „Deutsche Kommunisten. Biographisches Handbuch 1918 bis 1945“ wird von Andreas Herbst und Hermann Weber in der 8. aktualisierten Ausgabe herausgegeben. Auf breiter Quellenbasis werden die Schicksale deutscher Kommunisten knapp geschildert, von denen etwa ein Drittel während der NS-Diktatur und durch den Stalinistischen Terror gewaltsam ums Leben kam.

Kurzbiografien zu Personen des politischen Lebens in der DDR stellt das von Helmut Müller-Enbergs, Jan Wielgohs, Dieter Hoffmann, Andreas Herbst, Ingrid Kirschey-Feix herausgegebene Lexikon ostdeutscher Biographien „Wer war wer in der DDR?“ Ch. Links Verlag, 5. Aufl. 2010 bereit.

Zudem ist das Online-Lexikon www.dissdenten.eu ebenfalls auf unserer Seite aufrufbar. Die über 700 Biografien mit umfangreichen Informationen zu Oppositionellen, Bürgerrechtlern und  Dissidenten aus vielen Ländern Ost- und Mitteleuropas werden laufend erweitert.

 

Wer war wer in der DDR?

Pomeranz, Grigori

* 1918 ✝ 2013




Grigori Pomeranz wurde 1918 in Wilna (Vilnius) im heutigen Litauen geboren und lebte seit seinem siebten Lebensjahr in Moskau. Er absolvierte ein Studium an der Fakultät für russische Literatur am Moskauer Institut für Philosophie, Literatur und Geschichte, das er 1940 abschloss. Während des Studiums beschäftigte er sich mit dem Werk von Fjodor Dostojewski, so auch in seiner Abschlussarbeit, die von seinen Hochschullehrern allerdings als antimarxistisch eingeschätzt wurde. Im Zweiten Weltkrieg ging Pomeranz 1941 freiwillig an die Front, wo er verwundet wurde. Seine Verhaftung erfolgte 1949. Die bereits fertige Dissertation über Dostojewski wurde im Verlauf des Untersuchungsverfahrens konfisziert und als „Dokument ohne Relevanz für das Gerichtsverfahren“ vernichtet. Auf Grundlage von *Artikel 58, Paragraf 10 Strafgesetzbuch der RSFSR wurde er zu fünf Jahren Haft verurteilt. 1950–53 war er im „KargopolLag“, einem Gulag-Lager im Gebiet Archangelsk, inhaftiert. Im Zuge einer Amnestie wurde er entlassen und 1958 rehabilitiert.

1953–56 unterrichtete Pomeranz als Lehrer an einer Dorfschule im Donezbecken in der Ukraine. Nach seiner Rückkehr nach Moskau arbeitete er als Bibliograf und wurde Mitarbeiter an der Bibliothek für Gesellschaftswissenschaften. 1959 starb seine erste Frau, die Romanistin Irina Murawjowa. Für lange Zeit prägte die Erinnerung an sie Pomeranz‘ philosophische und literarische Arbeit.

Zwischen 1953 und 1959 entstanden unter dem Titel „Durchlebte Abstraktionen“ (Perežitye abstrakcii) seine ersten Essays, die in der traditionellen Form des philosophischen Dialogs verfasst, aber in der Realität des stalinistischen Lagers angesiedelt waren.

Die *Ungarische Revolution 1956 und die öffentliche Hetzjagd auf den sowjetischen Schriftsteller Boris Pasternak ließen Pomeranz über direkten politischen Widerstand gegen das Regime nachdenken. Zwischen 1959 und 1960 begann er, ein Seminar für Philosophie, Geschichte und Politökonomie im privaten Rahmen abzuhalten, das halb konspirativ und ohne feste organisatorische Formen stattfand. Unter den Besuchern befanden sich viele aktive Teilnehmer der *Dichterlesungen auf dem Majakowski-Platz, darunter auch Wladimir Ossipow. Diese Erfahrungen seines philosophischen und politischen Engagements, das im politischen Untergrund verortet war, gefielen Pomeranz jedoch nicht.

Die 1960 geschlossene Bekanntschaft mit Alexander Ginsburg, Natalja Gorbanewskaja und Juri Galanskow eröffnete bald eine andere Perspektive auf ein Wirken ohne Rücksicht auf die Zensur, das die „uneingeschränkte Öffentlichkeit und die Freiheit von Angst“ in den Mittelpunkt stellte. In dieser neuen Atmosphäre entstand nicht nur die Moskauer Samisdatzeitschrift *„Sintaksis“ (Syntax), zu deren Redaktion Pomeranz gehörte, sondern auch ein freier und kreativer Geist, der sowohl zwischen seinen neuen Bekannten als auch zwischen den Künstlern der *Lianosowo-Gruppe herrschte, mit denen er zu dieser Zeit Kontakt hielt. Einen großen Einfluss auf die Entwicklung seines Denkens hatte auch die Begegnung mit der Dichterin Sinaida Mirkina im Jahr 1961, die er dann heiratete.

Ab 1962 veröffentlichte Pomeranz in wissenschaftlichen Zeitschriften Artikel zu Themen der Orientalistik und der vergleichenden Kulturwissenschaft, die sein Interesse am geistigen Leben Indiens und Chinas widerspiegelten und hielt Referate und Vorlesungen an unterschiedlichen wissenschaftlichen Einrichtungen und Hochschulen. Gleichzeitig schrieb er Essays über kulturwissenschaftlich-historische, gesellschaftliche und politische Themen, die weite Verbreitung im Samisdat fanden. Vor allem die Texte „Billiarde“ (Kvadrilion) und „Das moralische Antlitz der historischen Persönlichkeit“ (Nravstvennyj oblik istoričeskoj ličnosti), die 1966 in dem unabhängigen Almanach *„Feniks“ (Phönix) veröffentlicht wurden, lösten ein großes Echo aus. 1967 und 1968 wurden beide Essays im Ausland in der Exilzeitschrift *„Grani“ (Nr. 64 und 67) veröffentlicht.

Pomeranz hielt Kontakt zu Dissidenten verschiedener Strömungen und beteiligte sich an privat abgehaltenen wissenschaftlichen Seminaren. 1970 nahm er an einer Vorlesung teil, die in der Wohnung von Walentin Turtschin stattfand. Andrei Sacharow schrieb später über dieses Seminar: „Das Interessanteste und Tiefste waren die Vorträge von Grigori Pomeranz. Ich traf ihn damals das erste Mal und war tief von seiner Gelehrtheit, der Breite seines Wissens und seinem akademischen Format berührt. […] Die zentralen Konzepte von Pomeranz waren […] der außerordentliche Wert einer Kultur, die durch gemeinsame Anstrengungen aller Völker des Ostens und Westens im Verlauf eines Jahrtausends geschaffen worden ist; die Notwendigkeit der Toleranz, des Kompromisses und des weiten Horizonts; das Elend und die Ärmlichkeit der Diktatur und des Totalitarismus und ihre historische Sinnlosigkeit sowie die Ärmlichkeit und Nutzlosigkeit eines eng verstandenen provinziellen Nationalismus.“

Nach Unterzeichnung eines Briefes zur Verteidigung von Alexander Ginsburg, Juri Galanskow und anderen (siehe *Prozess der Vier) wurde Pomeranz 1968 verweigert, seine Dissertation am Asiatischen Institut zu verteidigen.

1972 erschien eine Auswahl seiner Texte unter dem Titel „Unveröffentlichtes“ (Neopublikovannoe) in München. Ab 1976 konnte er in der Sowjetunion nicht mehr offiziell veröffentlichen. Seine Texte fanden jedoch im Samisdat weite Verbreitung und wurden im Ausland in Exilzeitschriften wie zum Beispiel in *„Sintaksis“ (Paris) und *„Strana i mir“ (Land und Welt) nachgedruckt. In der zweiten Hälfte der 70er Jahre erschienen seine Essays in der unabhängigen Zeitschrift *„Poiski“ (Suche). Für die Veröffentlichungen benutzte er kein Pseudonym, sondern schrieb unter seinem eigenen Namen.

In seinen publizistischen Arbeiten verteidigte Pomeranz Ideen der persönlichen Freiheit und der europäische Demokratie, setzte sich gegen das verlogene Ideal von „Blut und Boden“ und gegen eine neue Welle des Nationalismus ein. Die konsequente und energische Verteidigung dieses Standpunktes machte ihn zu einem der herausragenden Kritiker der rechtskonservativen Strömungen in der Dissidentenbewegung. Eine besondere Bedeutung hatte auch die jahrelange polemische Auseinandersetzung mit Alexander Solschenizyn. In seinen Artikeln „Mensch von nirgendwo“ (Čelovek niotkuda), „Leidenschaftliche Parteilichkeit und Leidenschaftslosigkeit der Seele“ (Strastnaja Odnostoronnost‘ i besstrastie ducha), „Traum von einer gerechten Rache“ (Son o spravedlivom vozmezdii) und „Stil der Polemik“ (Stil polemiki) kritisierte er Alexander Solschenizyns verbissene Parteilichkeit, seine Rachsucht und Unversöhnlichkeit sowie seinen Utopismus. Alexander Solschenizyn dagegen attackierte Pomeranz in seinem Aufsatz „Die Intelligenzler“ (Obrazovanščina) als ein der einheimischen Tradition entfremdetes Produkt der sowjetischen Halbbildung.

Pomeranz hatte sich mittlerweile den Kreisen der Menschenrechtler angenähert. In der ersten Nummer des „Informationsbulletins“ des Verteidigungskomitees für Tatjana Welikanowa, das kurz nach ihrer Verhaftung Ende 1979 herausgegeben worden war, erschien sein Essay „Vor dem Jubiläum des Molochs“ (Nakanune jubileja molocha), das auf den hundertsten Geburtstag von Josef Stalin Bezug nahm. Der Text endete mit den Worten: „Unsere gemeinsame Verpflichtung ist es, dem Schatten Stalins, dem man am Vorabend seines Jubiläums neue Opfer bringt, Widerstand zu leisten. Noch ein paar Köpfe zu 30, 40 oder 60 Millionen Opfern.“

Im März 1980 erschien im Samisdat sein Essay „Mein Gesprächspartner Viktor Sokirko“ (Moj sobesednik Viktor Sokirko) über die Verhaftung eines Redakteurs der Zeitschrift *„Poiski“.

Die Publizistik von Pomeranz weckte verstärkt Aufmerksamkeit des KGB. Fragmente seines Buchs „Die Träume der Erde“ (Sny zemli), das in Nummer 6 und 7 von *„Poiski“ veröffentlicht worden war, stuften die Ermittlungsbeamten als „verleumderisch“ ein. Am 14. November 1984 erhielt Pomeranz in Verbindung mit drohenden strafrechtlichen Konsequenzen für seine Veröffentlichungen im Ausland eine Verwarnung auf Grundlage des *Dekrets des Präsidiums des Obersten Sowjets vom 25. Dezember 1972. Am 26. Mai 1985 fand in seiner Wohnung eine Hausdurchsuchung statt, wobei sein literarisches Archiv konfisziert wurde. Im gleichen Jahr erschien in Paris die vollständige Ausgabe von „Träume der Erde“.

Seit der Perestroika Ende der 80er Jahre konnte Pomeranz wieder in offiziellen Verlagen veröffentlichen. Es erschienen seine philosophischen und literaturwissenschaftlichen Arbeiten „Offenheit gegenüber dem Abgrund. Begegnungen mit Dostojewski“ (Otkrytost‘ bezdne. Vstreči s Dostojevskim), „Vorlesungen zur Geschichtsphilosophie“ (Lekcii po filosofii istorii), „Selbstsammlung“ (Sobiranie sebja), die Sammlung von Essays und kulturwissenschaftlichen Artikeln „Ausweg aus der Trance“ (Wychod iz transa) und das gemeinsam mit Sinaida Mirkina verfasste Buch „Bilder des Ewigen“ (Obrazy wečnogo). Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hielt Pomeranz auch Referate und Vorlesungsreihen an der Russischen Staatlichen Humanistischen Universität und an der Universität der Geschichte der Kulturen.

Nachdem Pomeranz den Marxismus hinter sich gelassen und sich dem Idealismus zugewandt hatte, begann er die Tiefe von Religion und Philosophie als Grundlage des menschlichen Seins zu sehen. Der Abschied von pseudowissenschaftlichen und mythologisierenden Ideologien, die Verwurzelung des Individuums in Religion und Kultur, der Weg in die Tiefe des eigenen Selbst anstelle der Auflösung in der Masse betrachtete er als Ausweg aus der geistigen und politischen Krise der Moderne. „Nur ein neuer Geist“, schrieb er, „der in der Tiefe des Selbst zu finden ist, kann uns aus dem Morast führen. Und davon handeln alle meine Bücher.“

Grigori Pomeranz starb am 16. Februar 2013 in Moskau.


Dmitri Jermolcew
Aus dem Polnischen von Tim Bohse
Letzte Aktualisierung: 02/16

Information

Die Sonderzeichen * und # erscheinen lediglich aus technischen Gründen im Text. Auf der Ursprungs-Webseite dissidenten.eu finden sie weiterführende Links sowie die vollständige Version der Biografien mit Glossarerklärungen, Chroniken und ausführlichen Darstellungen der Oppositionsgeschichten aller Länder.