x

In der Kategorie BioLex sind drei wichtige Lexika mit über 5500 Biografien von überzeugten Kommunistinnen und Kommunisten, Renegatinnen und Dissidenten im Volltext recherchierbar.

 

Das Handbuch „Deutsche Kommunisten. Biographisches Handbuch 1918 bis 1945“ wird von Andreas Herbst und Hermann Weber in der 8. aktualisierten Ausgabe herausgegeben. Auf breiter Quellenbasis werden die Schicksale deutscher Kommunisten knapp geschildert, von denen etwa ein Drittel während der NS-Diktatur und durch den Stalinistischen Terror gewaltsam ums Leben kam.

Kurzbiografien zu Personen des politischen Lebens in der DDR stellt das von Helmut Müller-Enbergs, Jan Wielgohs, Dieter Hoffmann, Andreas Herbst, Ingrid Kirschey-Feix herausgegebene Lexikon ostdeutscher Biographien „Wer war wer in der DDR?“ Ch. Links Verlag, 5. Aufl. 2010 bereit.

Zudem ist das Online-Lexikon www.dissdenten.eu ebenfalls auf unserer Seite aufrufbar. Die über 700 Biografien mit umfangreichen Informationen zu Oppositionellen, Bürgerrechtlern und  Dissidenten aus vielen Ländern Ost- und Mitteleuropas werden laufend erweitert.

 

Wer war wer in der DDR?

Poppe, Gerd

* 1941




In Rostock am 25. März 1941 geboren, legte Gerd Poppe 1958 das Abitur ab. Von seinem Elternhaus – sein Vater war Ingenieur, seine Mutter Sekretärin – wurde er politisch nicht nachhaltig beeinflusst. Allerdings erfuhr er insbesondere durch seine Mutter kulturelle Prägungen, die sich in Poppes vielseitigen Interessen für Literatur, Musik und Film widerspiegeln. Freunde und Wegbegleiter von ihm schätzen seine geradezu frappierenden Kenntnisse der Musik- und Filmgeschichte. 1959 begann er an der Universität Rostock ein Physikstudium, das er 1964 mit Diplom abschloss. Anschließend arbeitete er bis 1976 im Halbleiterwerk in Stahnsdorf am Rande von Berlin.

Unter dem Einfluss der westeuropäischen antiautoritären Studentenproteste und des *Prager Frühlings 1968 begann Poppe, sich in oppositionellen Gruppierungen zu engagieren. Er verband dabei von Anfang an seine Aktivitäten in der Kulturopposition mit jenen der politischen Opposition. Einerseits bewegte er sich in alternativen Kulturkreisen und stellte seine Wohnung nonkonformistischen Personen zur Verfügung. Andererseits artikulierte er frühzeitig seinen Protest gegen die kommunistische Diktatur, so zum Beispiel als er am 22. August 1968 in der tschechoslowakischen Botschaft in Berlin eine Protesterklärung gegen den *Einmarsch von Truppen des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei unterzeichnete. Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) teilte dies seiner Arbeitsstelle einige Tage später mit. Poppe wurde seitdem vom MfS systematisch beobachtet und verfolgt – unter anderem in den Operativen Vorgängen (OV) „Monolith“ und „Atelier“ sowie 1976–89 gemeinsam mit seiner damaligen Ehefrau Ulrike Poppe im OV „Zirkel“, der über 30 Bände umfasst. Er war von langjährigen Zersetzungsmaßnahmen, häufigen Zuführungen und Ordnungsstrafen betroffen. Die Staatssicherheit zählte ihn zum kleinen harten Kern unversöhnlicher Feinde des SED-Systems.

1975 ging Poppe als ungedienter Reservist sechs Monate zu den Bausoldaten der Nationalen Volksarmee (NVA), nachdem er den Dienst an der Waffe verweigert hatte. Nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns im November 1976 richtete er ein Protestschreiben an Erich Honecker, weswegen ihm eine fest zugesicherte Anstellung an der Akademie der Wissenschaften verweigert und über ihn ein faktisches Berufsverbot verhängt wurde. Er war deshalb 1977–84 als Maschinist in einer Schwimmhalle sowie 1984–89 als Ingenieur im Baubüro des Diakonischen Werkes Berlin tätig.

Die Biermann-Ausbürgerung mit der Folge, dass viele kritische Personen die DDR verließen, und die Diskussionen im Anschluss an die im Westen erfolgte Veröffentlichung des Buches „Die Alternative“ von Rudolf Bahro 1977 verfestigten in Poppe die Meinung, dass politisches Engagement in der DDR nur außerhalb der bestehenden offiziellen Institutionen und Strukturen sinnvoll und die Herstellung einer oppositionellen Gegenöffentlichkeit notwendig sei. In seiner Wohnung in Berlin-Prenzlauer Berg fanden zwischen 1980 und 1983 regelmäßig Lesungen kritischer und zum Teil verbotener Autoren statt. Dieses Veranstaltungsformat hatte in Berlin mit den Lesungen des Dichters Frank-Wolf Matthies bereits eine gewisse Tradition gehabt, und wurde vom Ehepaar Poppe weitergeführt, als Matthies in den Westen ging. Solche Veranstaltungen fanden auch in der Wohnung des Ehepaars Ekkehard und Wilfriede Maaß sowie bei Stephan Bickhardt und Ludwig Mehlhorn statt.

Poppe hatte außerdem zusammen mit seiner Frau Ulrike Poppe und anderen Aktivisten einen Kinderladen in Berlin-Prenzlauer Berg eröffnet. Dies stellte den Versuch dar, die beiden eigenen jüngeren Kinder und die von Freunden der staatlichen Verfügungsgewalt zu entziehen. Der Kinderladen bestand von Anfang 1981 bis zum 14. Dezember 1983, ehe er zerstört und verboten wurde.

Anfang der 70er Jahre hatte Poppe Robert Havemann und Wolf Biermann oder auch Rudi Dutschke persönlich kennen- und schätzen gelernt. Solche Begegnungen und Freundschaften waren nicht nur politisch prägend, sondern zeigten zugleich, dass er mit seinen Überzeugungen nicht allein war. Ab Ende der 70er Jahre begann er, Kontakte nach Ostmitteleuropa aufzubauen und zu intensivieren, etwa zu Mitgliedern der tschechoslowakischen *Charta 77 oder zur ungarischen Opposition. Gleichzeitig profilierte er sich ab Anfang der 80er Jahre zu einem maßgeblichen Protagonisten der unabhängigen Friedens- und Menschenrechtsbewegung in der DDR. Seine eigene Politisierung und seine Ablehnung des Systems verstärkten sich in dem Maße, in dem er und seine Familie Repressalien und Zersetzungsmaßnahmen des Staates ausgesetzt waren. Dabei überlagerten sich stets die eigenen Erfahrungen und Anschauungen mit denen der osteuropäischen Opposition und der westlichen Friedensbewegung. Zu beiden Strömungen unterhielt er umfangreiche Kontakte, obwohl seit 1980 über ihn ein totales Reiseverbot verhängt worden war.

Als 1983/84 die unabhängige Friedensbewegung in Ost wie West ihren Zenit bereits überschritten hatte, rückten Fragen der Menschenrechte immer stärker in den Mittelpunkt der Arbeit. Für Poppe war dies mit zwei wichtigen Entscheidungen verbunden: Zum einen sollte auch diese Arbeit blockübergreifend erfolgen, was dazu führte, dass nicht nur mit Nichtregierungsorganisationen oder westdeutschen Oppositionsparteien gesprochen wurde, sondern ebenso mit an der Regierung beteiligten Parteien. Als Poppe 1987 an einem Gespräch mit bundesdeutschen CDU-Politikern in der Wohnung von Ralf Hirsch teilnahm und dies anschließend in der Samisdat-Zeitschrift „Grenzfall“ verteidigte, kam es innerhalb der Oppositionsszene zu harschen Auseinandersetzungen und gegenseitigen Vorwürfen. Zum anderen war Poppe seit 1983/84 ein Vertreter derjenigen, die intensiv und systematisch mit Westmedien zusammenarbeiteten, was ebenfalls Anlass zu scharfen Kontroversen bot: Ein Teil der linken Opposition lehnte dies strikt ab – ohne dies selbst freilich ernsthaft durchhalten zu können. Hinzu kam noch, dass Poppe in eben dieser Zeit bewusst wurde, dass die Opposition das schützende Dach der Kirchen verlassen musste, weil die Kirche zum „Ersatzfeind“ geworden war: Statt Diskussionen über den Zustand des Staates und der Gesellschaft zu führen, absorbierten immer mehr jene Diskussionen Kräfte und Zeit, in denen es um die Klärung des komplizierten Verhältnisses zwischen den oppositionellen Basisgruppen einerseits und den Kirchenleitungen andererseits ging.



In Anlehnung an die *Charta 77 bildete sich Ende 1985/Anfang 1986 in Berlin die Initiative Frieden und Menschenrechte (IFM), eine der wichtigsten Oppositionsgruppen in der DDR der 80er Jahre. Diese Gruppe, zu deren Mitbegründern neben Gerd und Ulrike Poppe auch Wolfgang Templin, Werner Fischer, Bärbel Bohley, Peter Grimm, Reinhard Weißhuhn und Ralf Hirsch gehörten, trat entschieden für Demokratie, Freiheit, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit in der DDR ein. Sie beteiligte sich an Aufrufen der osteuropäischen Opposition ebenso wie sie sich etwa für die Freilassung politischer Häftlinge engagierte. Die Mitglieder diskutierten auch über die Lösung der deutschen Frage, was damals angesichts der Blockkonfrontation und der gültigen Breschnew-Doktrin den meisten ostdeutschen Oppositionellen nur im Rahmen eines gemeinsamen Hauses Europas möglich schien.

Die IFM geriet 1988 an den Rand der Arbeitsunfähigkeit, nachdem einige ihrer bekanntesten Vertreter wie Wolfgang Templin, Bärbel Bohley und Werner Fischer aus der DDR ausgewiesen wurden. Dies geschah nach dem alljährlich abgehaltenen offiziellen Massenaufmarsch in Erinnerung an die Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Im Januar 1988 hatten daran Oppositionelle und Ausreisewillige auch mit der in Anlehnung an einen Satz von Luxemburg gebildeten Losung „Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden“ teilgenommen. Es kam zu über 160 Verhaftungen und der Abschiebung einiger prominenter Oppositioneller in den Westen.

Poppe war in den 80er Jahren Initiator, Autor, Mitverfasser und Mitunterzeichner einer ganzen Reihe von offenen Briefen, Aufrufen und Samisdat-Publikationen. Dazu zählen zum Beispiel der „Offene Brief Robert Havemanns an Breschnew“ (1981), die Antwort auf den *Prager Aufruf vom 8. Juni 1985, die „Erklärung zum 30. Jahrestag der ungarischen Revolution“ (1986), der Brief der IFM an die *Charta 77 (1987) sowie die Zeitschriften „Grenzfall“, „Ostkreuz“ oder „Spuren“.

Im März 1989 öffnete sich die Berliner Initiative für Frieden und Menschenrechte DDR-weit, was zwar keine große Resonanz erfuhr, aber Ausgangspunkt dafür war, dass sie im Herbst 1989 als eine der wesentlichen Gruppierungen in der gesamten DDR agieren und dabei zugleich auf eine mehrjährige Oppositionsarbeit zurückblicken konnte. Sie wurde neben den neuen Gruppierungen wie Neues Forum, „Demokratie Jetzt, Demokratischer Aufbruch, Böhlener Plattform/Vereinigte Linke oder der Sozialdemokratischen Partei in der DDR (SDP) zur politisch agierenden Triebfeder der ostdeutschen Revolution. Poppe zählte dabei zu jenen Akteuren, die 1989/90 in der Volksbewegung gegen die Diktatur zu den Führungspersönlichkeiten gerechnet wurden. Als einer der Sprecher der IFM war er Teilnehmer am Zentralen Runden Tisch von Dezember 1989 bis März 1990, wobei er sich insbesondere als Gründer der Arbeitsgruppe „Neue Verfassung der DDR“ für Elemente der direkten Demokratie und für die deutsche Einheit auf dem Wege der Einberufung einer deutschen Nationalversammlung aussprach, die eine neue Verfassung für Gesamtdeutschland ausarbeiten sollte (nach Artikel 146 des Grundgesetzes). Als die Regierung von Hans Modrow im Februar 1990 Oppositionelle zu Ministern ohne Geschäftsbereich berief, war Gerd Poppe einer von ihnen.

Nach den ersten demokratischen Wahlen in der DDR zog er als Abgeordneter in die DDR-Volkskammer ein, wobei er stellvertretender parlamentarischer Geschäftsführer der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen war. Schon in dieser Zeit begann sich Poppe als Außenpolitiker zu profilieren, womit er seinen eigenen Intentionen aus den 80er Jahren folgte. Als er nach der Einheit von 1990 bis zum September 1998 für Bündnis 90/Die Grünen Mitglied des Deutschen Bundestages war, nahm er das Amt des außenpolitischen Sprechers wahr und vertrat seine Fraktion im Auswärtigen Ausschuss. Neben diesen Tätigkeitsfeldern ist es ihm bis heute ein wichtiges Anliegen, über die Geschichte der kommunistischen Diktatur aufzuklären. Er publizierte Aufsätze über die Oppositionsgeschichte und war Mitglied der Enquete-Kommissionen des Deutschen Bundestages „Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“ (1992–94) sowie „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit“ (1995–98). In der 1998 gegründeten Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur ist Poppe ehrenamtliches Vorstandsmitglied.

Hauptsächlich aber galt und gilt Poppes Engagement dem Schutz und der Förderung von Menschen- und Bürgerrechten. Da seine diesbezügliche Arbeit parteiübergreifend geschätzt und geachtet wird, war es beinahe folgerichtig, dass er im November 1998 die neu geschaffene Position eines Beauftragten für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe beim Auswärtigen Amt übertragen bekam und diese bis März 2003 innehatte. Mit Gerd Poppe füllte nicht nur ein strikter Verfechter der Achtung und Einhaltung von Menschenrechten dieses Amt aus, sondern zudem ein Mensch, der selbst jahrzehntelang erfahren musste, was es heißt, wenn diktatorische Regime die Menschenrechte mit Füßen treten. Von April 2003 bis zum Frühjahr 2005 arbeitete Poppe als Berater der Heinrich-Böll-Stiftung für Projekte der Demokratisierungshilfe in Russland und im südlichen Kaukasus. Insofern hat sich mit diesen zuletzt genannten Tätigkeitsfeldern seine politische und oppositionelle Biografie in einem Maße abgerundet, wie es nur wenigen einstigen Oppositionellen vergönnt gewesen ist.


Ilko-Sascha Kowalczuk
Letzte Aktualisierung: 08/16

Information

Die Sonderzeichen * und # erscheinen lediglich aus technischen Gründen im Text. Auf der Ursprungs-Webseite dissidenten.eu finden sie weiterführende Links sowie die vollständige Version der Biografien mit Glossarerklärungen, Chroniken und ausführlichen Darstellungen der Oppositionsgeschichten aller Länder.