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In der Kategorie BioLex sind drei wichtige Lexika mit über 5500 Biografien von überzeugten Kommunistinnen und Kommunisten, Renegatinnen und Dissidenten im Volltext recherchierbar.

 

Das Handbuch „Deutsche Kommunisten. Biographisches Handbuch 1918 bis 1945“ wird von Andreas Herbst und Hermann Weber in der 8. aktualisierten Ausgabe herausgegeben. Auf breiter Quellenbasis werden die Schicksale deutscher Kommunisten knapp geschildert, von denen etwa ein Drittel während der NS-Diktatur und durch den Stalinistischen Terror gewaltsam ums Leben kam.

Kurzbiografien zu Personen des politischen Lebens in der DDR stellt das von Helmut Müller-Enbergs, Jan Wielgohs, Dieter Hoffmann, Andreas Herbst, Ingrid Kirschey-Feix herausgegebene Lexikon ostdeutscher Biographien „Wer war wer in der DDR?“ Ch. Links Verlag, 5. Aufl. 2010 bereit.

Zudem ist das Online-Lexikon www.dissdenten.eu ebenfalls auf unserer Seite aufrufbar. Die über 700 Biografien mit umfangreichen Informationen zu Oppositionellen, Bürgerrechtlern und  Dissidenten aus vielen Ländern Ost- und Mitteleuropas werden laufend erweitert.

 

Wer war wer in der DDR?

Poppe, Ulrike

* 1953




Ulrike Poppe wurde 1953 in Rostock geboren und wuchs in wohlsituierten Verhältnissen in Hohen-Neuendorf bei Berlin auf. Ihr Vater arbeitete als Historiker zunächst am neu gegründeten Museum für Deutsche Geschichte in Berlin, später an der Akademie der Wissenschaften. Ihre Mutter hatte Slawistik und Anglistik studiert und arbeitete als Übersetzerin.

Poppe legte 1971 in Oranienburg bei Berlin das Abitur ab. Schon während ihrer Schulzeit begann sich bei ihr eine kritische Einstellung zum System herauszubilden. Dies hing zunächst mit Erfahrungen zusammen, die den Widerspruch zwischen offiziell propagierter Jugendkultur und eigenen Vorstellungen offenbarten. Die Musik, die Kleidung, die Haarfrisuren und die Verhaltensweisen vieler Jugendlicher passten nicht ins offizielle Jugendbild, deshalb kam es auch bei ihr bereits in der Schulzeit zu Auseinandersetzungen. Auf diese Weise sammelte sie erste Erfahrungen, wie der Staat mit eigenständigen politischen Anschauungen umging. Gemeinsam mit einer Mitschülerin und einem Mitschüler schrieb sie 1967 einen Brief an die Volkskammer, der auch Fragen in Bezug auf die Wiedervereinigung Deutschlands enthielt. Statt einer Antwort gab es Aussprachen, in denen die politische Einstellung der drei Schreiber hinterfragt wurde. Die beiden Schülerinnen durften an der Schule bleiben, weil ihre Eltern in der SED waren und es deshalb Grund zu der Annahme gab, sie seien noch nicht für die Sache des Sozialismus verloren. Dagegen flog der Mitschüler, obwohl er Klassenbester war, von der Schule: Seine Eltern waren nicht in der Partei, und er war zudem in der Jungen Gemeinde aktiv. Diese konkrete Erfahrung, aber auch der *Prager Frühling und die westliche antiautoritäre Studentenbewegung prägten Poppe politisch.

Als Ulrike Poppe 1971 nach Berlin kam, um an der Humboldt-Universität ein Lehrerstudium für Kunsterziehung und Geschichte aufzunehmen, kam sie in Kontakt mit einer „Szene“, in der sich junge Menschen bewegten, die nicht bereit waren, sich der herrschenden und verordneten Norm zu unterwerfen. Ihr wurde zudem bewusst, dass historische Tatsachen und Zusammenhänge für die Legitimation der herrschenden Ordnung und ihrer Repräsentanten zurechtgestutzt, verzerrt oder verfälscht wurden. Sie las verbotene Bücher, diskutierte darüber in verschiedenen Kreisen und lernte soziale und kulturelle Realitäten kennen, die weder in den offiziellen Medien noch in Lehrbüchern eine Widerspiegelung fanden.

1973 brach sie ihr Studium ab, weil sie zum einen erkannt hatte, dass sie diesem System nicht als Lehrerin dienen konnte und weil sie zum anderen Psychologie studieren wollte. Der Versuch eines Fachrichtungswechsels war ihr aufgrund eines Vetos der FDJ verwehrt worden. Anschließend arbeitete sie zunächst in einem Durchgangsheim für Kinder und Jugendliche und ab 1974 in einer geschlossenen Abteilung des Krankenhauses Charité als Hilfspflegerin. In beiden Arbeitsbereichen wurde sie mit tabuisierten bzw. verleugneten Seiten des real existierenden Sozialismus konfrontiert. Der staatliche Umgang mit milieugeschädigten Kindern bzw. mit Opfern von innerfamiliärer Gewalt, den Poppe im Kinderheim kennenlernte, war nicht nur deprimierend. Ihr wurde bewusst, dass ein System, das derart menschenverachtend mit den Schwächsten der Gesellschaft verfährt, im Kern krank sein musste. Zwar steckte für sie im Kommunismus immer noch eine Befreiungsidee, aber in der SED-Führung glaubte sie, die Verräter des Sozialismus erkannt zu haben. Zugleich bewirkten diese Erfahrungen eine zunehmende Distanz zu den erlernten ideologischen Grundmustern.

Mitte der 70er Jahre lernte sie Gerd Poppe kennen, den sie 1978 heiratete. Durch ihn kam sie auch mit anderen Oppositionellen, darunter Robert Havemann, in Kontakt. Ab 1976 arbeitete sie am Berliner Museum für Deutsche Geschichte. Zusammen mit anderen Kollegen organisierte sie in den dortigen Räumen kulturelle Veranstaltungen, die bald von Hunderten Teilnehmern besucht wurden. Allerdings sah die Parteileitung des Museums darin bald „staatsfeindliche Aktionen“ und reagierte mit Verbot. Poppe geriet daraufhin in erhebliche Konflikte mit ihrem Arbeitgeber.

Zur gleichen Zeit kam sie mit vorwiegend konspirativ arbeitenden Zirkeln in Kontakt, in denen neue Gesellschaftsmodelle diskutiert wurden. Daneben gab es aber auch Kreise, in denen konkrete Themen wie Erziehung, Bildung, Wohnungspolitik und politische Mitsprache in der DDR erörtert wurden. Diese erschienen ihr sympathischer und produktiver, weil sie weniger männerdominiert, abgeschottet und intellektuell überheblich waren. Diese Kreise begannen Ende der 70er Jahre, sich mehr und mehr nach außen zu öffnen und wurden Teil der sich formierenden unabhängigen Friedensbewegung.

Zusammen mit ihrem Mann Gerd Poppe organisierte sie in ihrer Wohnung 1980–83 Lesungen von kritischen oder auch verfolgten Literaten. Diese zuerst vom Dichter Frank-Wolf Matthies organisierten Lesungen hatten in Berlin mittlerweile Tradition, die das Ehepaar Poppe fortführte, als Matthies in den Westen ging. Außerdem organisierten die Poppes (1979 und 1981 wurden ihre Kinder geboren) zusammen mit anderen Müttern und Vätern einen Kinderladen in Berlin-Prenzlauer Berg, wo sie wohnten. Damit schufen sie eine Möglichkeit, ihre Kinder unabhängig von staatlicher Einflussnahme zu betreuen und berufstätig zu bleiben. Der Kinderladen bestand von Anfang 1981 bis zum 14. Dezember 1983, ehe er auf staatliche Anweisung zerstört und verboten wurde.

Die unabhängige Friedensbewegung in der DDR reagierte auf zwei politische Entwicklungen: zum einen auf das Wettrüsten der Supermächte und zum anderen auf die fortschreitende Militarisierung der DDR-Gesellschaft. In der Schule zum Beispiel wurde 1978 das Pflichtfach Wehrkunde eingeführt. Als 1982 ein neues Wehrdienstgesetz verabschiedet wurde, das unter anderem vorsah, dass auch Frauen mobilisiert werden könnten, verfasste Poppe zusammen mit anderen Frauen eine Eingabe, in der sie sich gegen dieses Gesetz aussprach, und sammelte Unterschriften. Aus dieser Initiative heraus entwickelte sich 1982 die Gruppe „Frauen für den Frieden“, die bis zur Friedlichen Revolution eine der wichtigsten Oppositionsgruppen außerhalb der Kirchen war. Die Frauen engagierten sich gegen die Militarisierung der Gesellschaft, für blockübergreifende Abrüstung sowie für Demokratie und Menschenrechte in der DDR.

Am 12. Dezember 1983 wurde Poppe gemeinsam mit Bärbel Bohley wegen des Verdachts auf „landesverräterische Nachrichtenübermittlung“ (§ 99 StGB) vom Ministerium für Staatssicherheit (MfS) verhaftet. Inner- und außerhalb der DDR erhob sich gegen diese Verhaftung Protest. Es entwickelte sich eine breite Solidaritätswelle. Nach sechs Wochen musste das MfS die beiden Protagonistinnen der „Frauen für den Frieden“ wieder freilassen.

Ulrike Poppe wurde vom MfS seit 1976 gemeinsam mit ihrem Mann im Operativen Vorgang (OV) „Zirkel“ verfolgt und beobachtet. Dieser OV zählt zu den umfangreichsten, die der Staatssicherheitsdienst angelegt hatte. Ulrike Poppe war von langjährigen Zersetzungsmaßnahmen, häufigen Zuführungen und Ordnungsstrafen betroffen. Das MfS zählte sie zum kleinen harten Kern unversöhnlicher Feinde des SED-Systems.

Gemeinsam mit Gerd Poppe, Wolfgang Templin, Bärbel Bohley, Reinhard Weißhuhn, Peter Grimm, Ralf Hirsch, Werner Fischer, Antje und Martin Böttger und anderen zählte sie Ende 1985/Anfang1986 zu den Mitbegründern der wichtigsten Oppositionsgruppe der 80er Jahre, der Initiative Frieden und Menschenrechte (IFM). Diese Gruppe trat entschieden für Demokratie, Freiheit, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit ein und befand sich darüber hinaus in einem ständigen Dialog mit der osteuropäischen Opposition sowie mit Nichtregierungsorganisationen, Politikern und Journalisten aus dem Westen. Im Gegensatz zu einem Teil der IFM-Mitglieder führte Ulrike Poppe zahlreiche Gespräche und Diskussionen mit SED-Mitgliedern und Funktionären. Sie wollte ihre eigenen Vorstellungen und Ideen in die Gesellschaft transportiert wissen. Gleichzeitig äußerte sie sich im Samisdat und unterzeichnete eine Fülle von Aufrufen, offenen Briefen und Erklärungen der Opposition.

1987 wurde Poppe zur Berlin-Brandenburgischen Regionalvertreterin im Fortsetzungsausschuss „Frieden konkret“ gewählt, einem DDR-weiten Netzwerk der oppositionellen Gruppen und kirchlichen Basisgruppen. Ab 1987 war sie auch im Arbeitskreis „Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung“ bei der Bartholomäus-Gemeinde in Berlin aktiv. Hier diskutierten unter anderen Hans-Jürgen Fischbeck, Stephan Bickhardt, Konrad Weiß und Wolfgang Ullmann. Aus dieser Initiative entwickelte sich 1989 die Bürgerbewegung Demokratie Jetzt (DJ), zu deren Erstunterzeichnern des Gründungsaufrufes im September 1989 Ulrike Poppe gehörte. Demokratie Jetzt gehörte 1989 zu den Motoren der Friedlichen Revolution. In dieser Zeit war Poppe Mitglied des Sprecherrates und saß zusammen mit Wolfgang Ullmann am Zentralen Runden Tisch, der von Dezember 1989 bis März 1990 tagte. Anschließend war sie Mitarbeiterin der Volkskammerfraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Nach der deutschen Einheit arbeitete Poppe ab 1991 als Studienleiterin bei der Evangelischen Akademie Berlin-Brandenburg. Hier organisierte sie Veranstaltungen zu Themen der Zeitgeschichte und Politik. Ihr politisches Engagement wollte Poppe nie zum Beruf machen. In vielfältigen Formen ist sie in den öffentlichen Debatten präsent, wobei ihr Engagement insbesondere um die Aufarbeitung der kommunistischen Diktaturen, um diesbezügliche internationale Vernetzung und die Einhaltung und Achtung der Menschenrechte hervorzuheben ist. 2009–2017 war sie Brandenburger Landesbeauftragte zur Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur (LAkD) und setzte hier um, was ihr schon während ihres Engagements in der Opposition wichtig war: Verständigung über Parteigrenzen und ideologische Grenzen hinweg suchen, Standpunkte und Meinungen diskursiv austauschen. Im Gegensatz zu früher muss sie heute keine Angst haben, drangsaliert, verhaftet oder aus dem Land verwiesen zu werden. Insofern sind ihr jahrelanger Mut belohnt und ihre jahrelangen Hoffnungen – wenigstens teilweise – erfüllt worden.



Ilko-Sascha Kowalczuk
Letzte Aktualisierung: 10/17

Information

Die Sonderzeichen * und # erscheinen lediglich aus technischen Gründen im Text. Auf der Ursprungs-Webseite dissidenten.eu finden sie weiterführende Links sowie die vollständige Version der Biografien mit Glossarerklärungen, Chroniken und ausführlichen Darstellungen der Oppositionsgeschichten aller Länder.