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In der Kategorie BioLex sind drei wichtige Lexika mit über 5500 Biografien von überzeugten Kommunistinnen und Kommunisten, Renegatinnen und Dissidenten im Volltext recherchierbar.

 

Das Handbuch „Deutsche Kommunisten. Biographisches Handbuch 1918 bis 1945“ wird von Andreas Herbst und Hermann Weber in der 8. aktualisierten Ausgabe herausgegeben. Auf breiter Quellenbasis werden die Schicksale deutscher Kommunisten knapp geschildert, von denen etwa ein Drittel während der NS-Diktatur und durch den Stalinistischen Terror gewaltsam ums Leben kam.

Kurzbiografien zu Personen des politischen Lebens in der DDR stellt das von Helmut Müller-Enbergs, Jan Wielgohs, Dieter Hoffmann, Andreas Herbst, Ingrid Kirschey-Feix herausgegebene Lexikon ostdeutscher Biographien „Wer war wer in der DDR?“ Ch. Links Verlag, 5. Aufl. 2010 bereit.

Zudem ist das Online-Lexikon www.dissdenten.eu ebenfalls auf unserer Seite aufrufbar. Die über 700 Biografien mit umfangreichen Informationen zu Oppositionellen, Bürgerrechtlern und  Dissidenten aus vielen Ländern Ost- und Mitteleuropas werden laufend erweitert.

 

Wer war wer in der DDR?

Sacharow, Andrei

* 1921 ✝ 1989




Andrei Sacharow kam 1921 in einer Familie der Moskauer Intelligenz zur Welt. Sein Vater war Pädagoge und Verfasser von Lehr- und populärwissenschaftlichen Büchern zur Physik. 1942 beendete Andrei Sacharow sein Physikstudium an der Moskauer Universität. 1942–47 arbeitete er als Ingenieur in einer Militärfabrik in Uljanowsk und machte mehrere Erfindungen auf dem Gebiet der Kontroll- und Messtechnik. 1945–47 absolvierte er ein Doktorandenstudium am Institut für Physik der Akademie der Wissenschaften, wo er sich auch an der wissenschaftlichen Arbeit des Seminars der Theoretischen Abteilung beteiligte, die von Igor Tamm geleitet wurde. Dort begann Sacharow, sich mit Kern- und Elementarteilchenphysik zu beschäftigen. Im November 1947 verteidigte er seine Doktorarbeit und blieb bis zum Ende seines Lebens Mitarbeiter der Theoretischen Abteilung.

Im Sommer 1948 wurde Andrei Sacharow Mitglied einer Arbeitsgruppe, die unter der Leitung von Igor Tamm mit der Entwicklung der sowjetischen Wasserstoffbombe beschäftigt war. Ab Anfang 1949 widmete er sich auf Empfehlung der Regierung vollständig der Militärforschung. Im März 1950 zog er von Moskau in die geschlossene Stadt „Arsamas 16“. Die im Gorki-Gebiet gelegene und zum Ministerium für Maschinenbau gehörende Spezialsiedlung war das Zentrum des sowjetischen Atombombenbaus und trägt heute den Namen Sarow. Sacharow war dort einer der wissenschaftlichen Leiter des Programmes für den Wasserstoffbombenbau, womit er fortan zur wissenschaftlich-technischen Elite der UdSSR gehörte und Zugang zu den höchsten Kreisen der herrschenden Partei- und Staatselite erhielt. Er konnte direkt mit den Partei- und Regierungschefs verkehren und wurde zu den Sitzungen des Präsidiums des ZK der KPdSU eingeladen, wenn es um den Atombombenbau ging.

Auch wissenschaftlich machte Sacharow eine rasante Karriere. Im Juni 1953 habilitierte er sich auf dem Gebiet der Physik und Mathematik und wurde im Oktober jüngstes Vollmitglied der Akademie der Wissenschaften der UdSSR. Drei Mal wurde Andrei Sacharow mit dem Titel „Held der Sozialistischen Arbeit“ ausgezeichnet. 1953 erhielt er den Stalin- und 1956 den Leninpreis.

In den 50er Jahren befasste sich Sacharow mit der kontrollierten Kernfusion, in der er den Schlüssel zur Bewältigung ungelöster Menschheitsprobleme sah. Gemeinsam mit Igor Tamm entwickelte er die Konzeption für eine kontrollierte thermonukleare Reaktion: die sogenannte Tokamak-Anordnung. Nachdem er wegen angeblicher „Illoyalität“ von dieser unter Geheimhaltung stehenden Tätigkeit entbunden wurde, kehrte Sacharow im Sommer 1968 nach Moskau zurück und setzte seine Arbeit am Institut für Physik der Akademie der Wissenschaften fort. Er befasste sich mit Grundproblemen der theoretischen Physik und legte 1969 eine Erklärung für die Baryonenasymmetrie, ein Schlüsselphänomen der Kosmologie, vor. Er entwickelte ein neues „mehrdimensionales Modell“ des Weltraums (1970), eine neue Theorie der Gravitation (1975), eine Hypothese zur Zeitumkehr (1980) sowie eine wichtige Ergänzung zur String-Theorie (1984).

Anfänglich stand das Interesse Sacharows an gesellschaftlichen, politischen und ideologischen Problemen im Zusammenhang mit seinem Beruf. Um 1950 beteiligte er sich am Protest gegen eine Kampagne, die sich gegen die vermeintlich „idealistische Physik“ Albert Einsteins richtete. In der Presse waren Artikel erschienen, in denen die Relativitätstheorie und die Quantenmechanik auf der Grundlage des dialektischen Materialismus angeblich widerlegt worden waren. Akademiemitglied Wladimir Fok schrieb daraufhin einen Artikel zur Verteidigung der modernen Physik, dessen Erscheinen jedoch verhindert wurde. Am 24. Juni 1953 richteten elf führende Physiker des sowjetischen Nuklearprogramms – darunter Sacharow – ein Schreiben an Lawrenti Berija, der das Programm beaufsichtigte. Die Intervention war erfolgreich, Foks Artikel konnte in der Zeitschrift „Voprosy Filosofii“ (Fragen der Philosophie; Nr. 1/1953) veröffentlicht werden, und die Presseattacken gegen Relativitätstheorie und Quantenmechanik brachen ab.

Sacharow sah seine Mitarbeit an der Wasserstoffbombe nicht nur als patriotische Pflicht, sondern auch als Dienst für die Menschheit und als Beitrag zur Verhinderung eines Dritten Weltkrieges. Jahre später schrieb er in seinen Erinnerungen: „Natürlich war ich mir darüber im Klaren, mit welchen schrecklichen, unmenschlichen Sachen wir uns beschäftigten. Doch der Krieg war noch nicht lange vorbei, und er war ebenfalls unmenschlich gewesen! In jenem Krieg war ich kein Soldat, aber nun fühlte ich mich als Soldat des wissenschaftlich-technischen Krieges. […] Mit der Zeit hörten wir von Begriffen wie strategisches Gleichgewicht, gegenseitige thermonukleare Abschreckung usw. oder kamen selbst auf diese. Auch jetzt noch denke ich, dass in diesen Ideen tatsächlich eine – wenn auch nicht vollständig überzeugende – intellektuelle Rechtfertigung für den Bau der Wasserstoffbombe und unserer Beteiligung liegt.“

Mitte der 50er Jahre wurde Sacharow und anderen Kernphysikern immer stärker bewusst, dass der Preis, den die Menschheit für die Sicherheit des nuklearen Gleichgewichts bezahlt, die globale Verseuchung durch radioaktive Zerfallsprodukte ist, die nach jeder Atomexplosion in der Atmosphäre oder unter Wasser zurückbleiben. Besonders beunruhigten ihn die biologischen Folgen der Verstrahlung. Sacharows Berechnungen zufolge konnten Atomtests in der Atmosphäre hunderttausende vorzeitige Todesfälle oder schwere Erkrankungen verursachen, von denen nicht nur gegenwärtige sondern auch zukünftige Generationen bedroht waren. Deshalb veröffentlichte er 1958 und 1959 im Zusammenhang mit Chruschtschows Initiative zur Begrenzung der Kernwaffentests zwei Artikel zu diesem Thema. 1961 protestierte Sacharow gegen die Verletzung des Kernwaffenteststoppabkommens durch die UdSSR und ließ sich dabei auf einen Streit direkt mit Chruschtschow ein, der ihn daraufhin öffentlich für „Einmischung in die Politik“ rügte.

Im Herbst 1962 protestierte Sacharow scharf gegen Pläne, zwei große Nukleartests in der Atmosphäre durchzuführen, die weder durch technische noch durch politische Erfordernisse gerechtfertigt wären. Er verlangte die Beschränkung auf nur eine Zündung, aber Chruschtschow ignorierte seine Proteste. Am 26. September explodierte über der Nordpolarinsel Nowaja Semlja die zweite, ausgerechnet unter Sacharows Leitung gebaute Atombombe. In seinen Erinnerungen schrieb er dazu: „Dieses furchtbare Verbrechen wurde verübt und ich konnte es nicht verhindern. Mich überwältigte ein Gefühl von Machtlosigkeit, Verbitterung, Scham und Erniedrigung. Ich stürzte mit dem Gesicht auf den Tisch und weinte. Das war sicher die schlimmste Lektion, die ich in meinem Leben erhalten habe: Man kann auf zwei Stühlen nicht sitzen. Ich entschied mich, von nun an meine Anstrengungen vor allem darauf zu konzentrieren, dass die Pläne für einen Atomteststopp in der Atmosphäre, im Weltraum und unter Wasser verwirklicht werden […].“

Seine Idee präsentierte Sacharow der Regierung als Ausweg aus der Sackgasse, in der sich die Genfer Atomteststopp-Verhandlungen befanden. Er schlug vor, sich auf das Verbot von Versuchen in der Atmosphäre, im Weltraum und unter Wasser zu beschränken, da diese für das Leben und die Gesundheit am gefährlichsten seien. Die vergleichsweise unschädlichen unterirdischen Tests sollten zugelassen werden, wenn kein vollständiger Verzicht erreicht werden könne. Dieser Kompromissvorschlag erwies sich als erfolgreich. 1963 unterzeichneten die UdSSR, Großbritannien und die USA den Moskauer Vertrag über das Verbot von Kernwaffenversuchen in der Atmosphäre, im Weltraum und unter Wasser. Später trat die Mehrzahl der Staaten diesem Abkommen bei.

Die Öffentlichkeit wusste damals nichts von der Rolle, die Sacharow bei dem Zustandekommen des Abkommens gespielt hatte. Selbst der Name des unter Geheimhaltung arbeitenden Nuklearphysikers war weder in der UdSSR noch im Ausland bekannt.

Registriert wurde hingegen sein Engagement im Juni 1964, als er sich am Protest gegen den Gegner der modernen Genetik Nikolai Nuschdin beteiligte, der als Vollmitglied in die Akademie der Wissenschaften aufgenommen werden sollte. Nuschdin war Mitarbeiter des von Stalin protegierten und von Chruschtschow gestützten Trofim Lyssenko. Diese Episode mit Nuschdin brachte Sacharow einen gewissen Bekanntheitsgrad ein. Sein Name wurde nun im Zusammenhang mit anderen großen Physikern genannt, die kritische Geister in dringenden Angelegenheiten um Unterstützung bitten konnten.

Seit Anfang der 60er Jahre verbrachte Sacharow immer mehr Zeit in Moskau. Der Kreis seiner Bekannten erweiterte sich und Moskauer Intellektuelle stießen dazu, die mit der entstehenden Dissidentenbewegung verbunden waren. Darunter befanden sich der bekannte Publizist Ernst Henry alias Leonid Chentow (Autor eines offenen Briefes an den Schriftsteller Ilja Ehrenburg, der einer der bekanntesten antistalinistischen Samisdat-Texte war), der Biologe Schores Medwedew (Autor des im Samisdat zirkulierenden Textes „Über die Lage in der biologischen Wissenschaft“/O položenii w biologičeskoj nauke, der eine wichtige Rolle in der Kampagne gegen die ideologisch begründete Pseudowissenschaft des „Lyssenkoismus“ spielte) sowie sein Bruder, der Historiker Roi Medwedew, der Physiker Jurij Schywluk und andere.

Anfang 1967 unterschrieb Sacharow einen Appell von 25 Vertretern aus Wissenschaft, Literatur und Kunst an den XIII. Parteitag der KPdSU, in dem vor den Folgen einer möglichen politischen Rehabilitation Stalins gewarnt wurde. Dies war die erste öffentliche Stellungnahme Sacharows, die weder mit seiner beruflichen Tätigkeit noch mit der Wissenschaft verbunden war.

Im Herbst 1967 unterschrieb Sacharow eine weitere Gemeinschaftspetition – einen Appell an den Obersten Sowjet der RFSFR gegen die Aufnahme von *Artikel 190, Paragraf 1 Strafgesetzbuch der RSFSR („Verleumdung der sowjetischen Ordnung“) und Paragraf 3 („Störung der öffentlichen Ordnung“. In dem Appell wurde davor gewarnt, dass diese Paragrafen „im Widerspruch zu den leninistischen Prinzipien der sozialistischen Demokratie stünden und im Fall ihrer Bestätigung durch den Obersten Sowjet der RFSFR die Wahrnehmung von Freiheiten behinderten, die die Verfassung der UdSSR garantiert“. Diese Petition war die erste von Sacharow unterzeichnete öffentliche Erklärung, in der es um die Verteidigung der Menschenrechte ging. Außerdem sandte Sacharow in dieser Angelegenheit ein privates Telegramm an den Vorsitzenden des Präsidiums des Obersten Sowjets der RFSFR. Diese Verbindung von öffentlichen Aktionen mit privaten Initiativen war für das gesellschaftliche Engagement von Sacharow charakteristisch.

Nachdem Sacharow von der *Glasnost-Kundgebung auf dem Moskauer Puschkin-Platz erfahren hatte, die am 5. Dezember 1966 zum zweiten Mal stattfand, nahm er daran teil, um sich öffentlich mit den Demonstranten zu solidarisieren. Dort rezitierte er die im Denkmalsockel eingravierten Verse von Puschkin. Dieser Schritt ging deutlich über die Grenzen hinaus, die damals für die Proteste berühmter Wissenschaftler im Rahmen von Petitionskampagnen üblich waren. Bemerkenswerterweise hatte Sacharow von der Kundgebung durch ein Flugblatt erfahren, das in seinen Briefkasten geworfen worden war. Das deutet darauf hin, dass er von den jugendlichen Organisatoren der Kundgebung als Sympathisant oder sogar als Oppositioneller gesehen wurde.

Im Januar 1967 schrieb Sacharow aus Anlass der Verhaftung von Alexander Ginsburg und Juri Galanskow einen privaten Brief an Breschnew. Nach der Lektüre des im Samisdat herausgegeben Essays von Larissa Bogoras im Sommer 1967 über die Situation ihres Mannes Juli Daniel, der eine Haftstrafe in den *mordwinischen Lagern absaß, rief er KGB-Chef Juri Andropow an und bat ihn, etwas zur Verbesserung der Situation zu unternehmen. Im gleichen Jahr unterzeichnete Sacharow gemeinsam mit 167 Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Kultur einen Brief an das Präsidium des Obersten Sowjets, in dem dazu aufgerufen wurde, ein Gesetz über Informationsfreiheit zu verabschieden.

Eine wichtige Etappe in seiner Entwicklung zum Dissidenten war die Abfassung des Essays „Gedanken über Fortschritt, friedliche Koexistenz und geistige Freiheit“ (Razmyšlenia o progresse, mirnom sosuščestvovanii i intelektualnoj svobode). Darin werden der wissenschaftlich-technische Fortschritt, seine Folgen sowie politische und ideologische Probleme thematisiert und von Sacharow außerordentlich unkonventionell analysiert: Er betrachtete die „friedliche Koexistenz“ nicht nur als Verzicht auf militärische Konfrontation, sondern auch als Annäherung der zwei rivalisierenden politischen Systeme Sozialismus und Kapitalismus. Tatsächlich trat Sacharow damit als Anhänger der Konvergenztheorie von John Galbraith und anderen linken westlichen Soziologen auf, wenn auch nicht bekannt ist, ob er deren Werke kannte. Aus Sicht der sowjetischen Staatsideologie war das ein unverzeihlicher Verrat, jedoch lag das Innovative an den Ideen Sacharows in etwas anderem: Nach einer Analyse der globalen Herausforderungen der Menschheit in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und der die Menschheit bedrohenden ökonomischen Ungleichheit kam Sacharow zu dem Schluss, dass der Schlüssel zur Lösung dieser Probleme in der Ausweitung der geistigen Freiheit, in der informationellen Selbstbestimmung der Gesellschaft und in der Achtung der Menschenrechte im globalen Maßstab liege. Aus diesem Blickwinkel heraus sei die in der UdSSR entstehende Menschenrechtsbewegung, die bisher pragmatisch, konkret und aus moralischen Beweggründen heraus gehandelt habe, die Verkörperung einer neuen sozialen und politischen Philosophie. Der Essay von Sacharow endete mit einer Zusammenstellung der ihm bekannten Fälle von politischer Verfolgung in der UdSSR und Gerichtsverfahren gegen Dissidenten sowie mit einem Aufruf zur unverzüglichen Verbesserung der Situation.

Der Essay „Gedanken über Fortschritt, friedliche Koexistenz und geistige Freiheit“ wurde im April 1968 während des Höhepunktes des *Prager Frühlings fertig gestellt. Sacharow selbst unterstrich den Einfluss der tschechoslowakischen Ereignisse auf seinen Text. Durch Vermittlung von Roi Medwedew gelangte dieser in den Samisdat und von dort ins Ausland. Andrei Amalrik und Pawel Litwinow übergaben das abgeschriebene Manuskript an den Korrespondenten einer niederländischen Zeitung. Am 22. Juli 1968 veröffentlichte die „New York Times“ die englische Übersetzung. Später wurde der Essay in vielen anderen Ländern publiziert, unter anderem in Jugoslawien und nach dem *Einmarsch von Truppen des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei halblegal auch dort. Der Text wurde im Samisdat zum Publikumserfolg und machte seinen Verfasser weltbekannt.

Sacharow wurde sofort aus dem sowjetischen Establishment ausgeschlossen. Schon im August entband man ihn von der unter Geheimhaltung stehenden Arbeit im „Spezialobjekt Arsamas 16“, woraufhin er anfing, sich der theoretischen Physik und seinen gesellschaftlichen Anliegen zu widmen.

Sein öffentliches Engagement unterbrach Sacharow 1969 wegen des Todes seiner Frau, bis er im Frühjahr 1970 gemeinsam mit Walentin Turtschin wieder einen „Appell an die Partei- und Staatsführung“ (K rukovoditeljam partii i pravitel‘stva) richtete, in dem er zur Demokratisierung des Landes aufrief und ein konkretes Reformprogramm unterbreitete. Der Appell, der auf Bitten Sacharows auch von Roi Medwedew unterzeichnet worden war und in den Samisdat gelangte, ist das erste politische Manifest liberaler und sozialistischer Intellektueller in der Sowjetunion. Alle späteren Aufrufe in ähnlicher Form wie der *Brief Alexander Solschenizyns zur Zensur vom Mai 1967 stellten eine direkte oder indirekte Auseinandersetzung mit diesem Appell dar. Hingegen gab es 1970 keinerlei Reaktionen auf den Brief. Ein Jahr später wiederholte Sacharow die Hauptthesen des Briefes in geraffter Form in einem Memorandum an Leonid Breschnew.

Im Frühjahr 1970 unterzeichnete Sacharow zudem mehrere Petitionen zur Unterstützung von politisch Verfolgten. Am bekanntesten wurde sein Engagement im Fall von Schores Medwedew, der im Mai und Juni 1970 gewaltsam in der geschlossenen Psychiatrie festgehalten wurde. Unterschriften für einen Appell zu seiner Freilassung sammelte Sacharow unter seinen Bekannten und auf öffentlichen Veranstaltungen. Man lud Sacharow sogar zu einer Beratung mit dem Gesundheitsminister über den „Fall Medwedew“ ein. Kurz nach diesem Gespräch wurde Medwedew freigelassen, was nicht nur Sacharows Verdienst war, sondern auch anderen Vertretern der akademischen Elite wie Professor Pjotr Kapica zu verdanken war, die sich für die Freilassung ihres Kollegen engagiert hatten.

Im Oktober 1970 nahm Sacharow erstmals an einem politischen Gerichtsprozess teil. Er war einer der wenigen zugelassenen Gäste im Saal des Gebietsgerichtes von Kaluga, wo der Prozess gegen Rewolt Pimenow und Boris Wail stattfand, die wegen des Besitzes und der Verbreitung von Samisdat-Schriften angeklagt waren. Für Sacharow war der Prozess auch aus persönlichen Gründen von Bedeutung, denn hier lernte er Jelena Bonner kennen, die bald seine Frau wurde.

Bei seinem Engagement für die Menschenrechte zog es Sacharow vor, auf sich selbst gestellt zu handeln, sich keine formellen Verpflichtungen aufzuerlegen und keinen Organisationen beizutreten. Eine Ausnahme bildete das *Komitee für Menschenrechte in der UdSSR, das auf Initiative von Waleri Tschalidse gegründet worden war. Sacharow wurde Mitglied und setzte die Arbeit in diesem Komitee auch nach der Ausreise von Waleri Tschalidse in die USA fort. Über die Mitglieder des Komitees und vor allem über Sacharow ergoss sich eine Lawine von Briefen und Besuchern vor allem aus der Provinz. Sacharow sah keinen Grund, den Menschen Hilfe zu verweigern und sich hinter dem Statut des Komitees zu verbergen. Es ist möglich, dass von Andrei Sacharow vor allem damals in der Bevölkerung das Bild des großen Mannes entstanden ist, der bereit ist, den Kampf gegen jede Ungerechtigkeit der Staatsmacht aufzunehmen.

Anfang der 70er Jahre engagierte sich Sacharow für politische Häftlinge und Personen, die aus unterschiedlichen Gründen verfolgt wurden und unterstützte diese sowohl in ihren öffentlichen als auch persönlichen Angelegenheiten. Er fuhr zu Gerichtsprozessen, obwohl ihm seit 1971 der Zutritt zu Gerichtssälen verwehrt war, protestierte gegen die Verletzung von Menschenrechten in der UdSSR und in anderen Ländern, erteilte Interviews und organisierte Pressekonferenzen für ausländische Journalisten. Eine von Ljudmila Alexejewa auf Grundlage des Samisdat-Archivs von *Radio Liberty angefertigte Übersicht über Protestbriefe und Petitionen, die Sacharow bei seinem Engagement für andere unterschrieben hatte, enthält über 150 Texte. In seinen Artikeln und Interviews wie auch in seiner Nobelpreis-Rede setzte Sacharow die Praxis fort, die er mit dem Essay „Gedanken über Fortschritt, friedliche Koexistenz und geistige Freiheit“ begonnen hatte. Er beendete seine Äußerungen mit einer namentlichen Aufzählung politischer Häftlinge und anderweitig Verfolgter, um deren Schicksal mit Hilfe der internationalen Gemeinschaft zu erleichtern.



Am 16. August 1973 wurde Sacharow zu einem Gespräch mit dem stellvertretenden Generalstaatsanwalt der UdSSR, Michail Malarow, einbestellt. Man warf ihm vor, dass er „antisowjetische Tätigkeit und Zersetzung“ betreibe und warnte ihn, dass seine Treffen mit Ausländern dazu beitragen könnten, dass sensible Informationen ausländischen Geheimdiensten preisgegeben werden würden. Sacharow achtete jedoch immer genau auf die Einhaltung der Geheimhaltungspflicht, die sich aus seiner früheren Arbeit ergab. Wahrscheinlich ging Malarow davon aus, dass allein das Stattfinden informeller Treffen mit Ausländern die ungeschriebene Regel verletze, solche Treffen vorab abzustimmen.

Am 21. August 1973 veranstaltete Andrei Sacharow eine Pressekonferenz in seiner Wohnung, auf der er über die Verwarnung berichtete und auf zahlreiche Fragen antwortete.

Im Februar 1974 unterzeichnete Sacharow den *Moskauer Appell zur Verteidigung von Alexander Solschenizyn. Zwei Monate später schrieb er einen kritischen Artikel über Alexander Solschenizyns „Brief an die Führer der Sowjetunion“ (Pis‘mo voždjam sovetskogo Sojuza). Darin erklärte er sein Unverständnis für Solschenizyns Behauptung, dass die Sowjetunion nicht reif für die Demokratie sei, und bezeichnete dessen Aufruf zu Isolationismus und Drosselung der wissenschaftlich-technischen Entwicklung als utopisch und gefährlich.

Vom 28. Juni bis 4. Juli 1974 trat Sacharow erstmals in den Hungerstreik, um während des Besuches von US-Präsident Richard Nixon in der UdSSR auf die Situation der politischen Gefangenen im Land aufmerksam zu machen. Am 30. Oktober 1974 wurde auf einer Pressekonferenz in seiner Wohnung verkündet, dass die Gefangenen der *mordwinischen Lager, der *Permer Lager und des *Wladimir-Gefängnisses den *Tag des politischen Häftlings in der UdSSR begehen würden. Im Dezember 1974 verlas Sacharow gemeinsam mit Sergei Kowaljow einen Appell für die Entlassung von gewaltlosen politischen Gefangen auf der ganzen Welt.

Mitte des Jahres 1975 stellte Sacharow die Schrift „Über mein Land und die Welt“ (O strane i mire) fertig, seine umfangreichste Veröffentlichung neben dem Essay „Gedanken über Fortschritt, friedliche Koexistenz und geistige Freiheit“. Darin griff er den aktuellen Zustand der sowjetischen Gesellschaft, die Abrüstung und die Minimierung der Gefahr eines Atomkrieges sowie die linksliberalen und sozialistischen Positionen vieler westlicher Intellektueller auf. Seine Beurteilung der sowjetischen Gesellschaft war pessimistischer als früher und er betonte, dass Unfreiheit, Ungleichheit, niedriger Lebensstandard und technologische Rückständigkeit ihre charakteristischen Eigenschaften seien. Wie immer schrieb Sacharow detailliert über aktuelle Fälle politischer Unterdrückung. Weiter kritisierte er die Ergebnisse der Abrüstungsverhandlungen zwischen der UdSSR und den USA. Seiner Ansicht nach war die Frage der Kontrolle der getroffenen Vereinbarungen nicht geklärt und darüber hinaus sogar ein Grundpfeiler des atomaren Gleichgewichts geschwächt, da sich das Ausmaß der Verluste bei Vergeltungsschlägen nun für einen Angreifer als hinnehmbar erweisen könnte. Sacharow warnte westliche Intellektuelle davor, „gedankenlos und leichtsinnig linksliberale Überzeugungen“ zu übernehmen, räumte aber gleichzeitig ein, dass der Linksliberalismus eng mit einer altruistischen Haltung verbunden sei und dass das Streben nach Gerechtigkeit, allgemeinem Wohlstand und die begründete Umsetzung linker Ideale mehr Gerechtigkeit, Glück und Wohlstand fördern könne.

Zwei Kapitel widmete er wichtigen Einzelthemen: dem Recht auf freie Wahl des Wohnorts im Sinne eines Rechtes auf Emigration sowie der Situation in Indochina nach dem Sieg der Kommunisten in Vietnam, der Roten Khmer in Kambodscha und der Situation im Nahen Osten vor dem Hintergrund des arabisch-israelischen und des kurdischen Konfliktes. Zum Abschluss zählte Sacharow Maßnahmen auf, die für eine innere Reform der Sowjetunion unverzichtbar wären und benannte dringende Schritte zur Verbesserung der internationalen Beziehungen.

Am 9. Oktober 1975 erhielt Andrei Sacharow den Friedensnobelpreis. Dieses Ereignis war nicht nur für den Preisträger, sondern für die ganze Dissidentenbewegung außerordentlich wichtig, da Andrei Sacharow sowohl für den Westen als auch für einen erheblichen Teil der sowjetischen Bevölkerung diese Bewegung verkörperte. In einer ersten kurzen Erklärung teilte Sacharow mit, dass er seine Auszeichnung mit allen gewaltfreien politischen Gefangenen teile und auf eine „globale politische Amnestie“ hoffe.

In der UdSSR wurde in der Presse eine neue Hetzkampagne gegen Sacharow lanciert. Er erhielt keine Erlaubnis für die Reise nach Norwegen zur Verleihungszeremonie mit der Begründung, dass er Geheimnisträger sei. Am 10. Dezember 1975 vertrat ihn deshalb seine Frau Jelena Bonner in Oslo, die sich in dieser Zeit bereits im Ausland aufgehalten hatte. Sie verlas die von Sacharow verfasste Nobelpreis-Rede, die er mit dem Titel „Frieden, Fortschritt und Menschenrechte“ (Mir, progress, prava čeloveka) versehen hatte. Darin begründete Sacharow den unauflösbaren Zusammenhang dieser drei Begriffe, die für die Entwicklung der modernen Welt zentral wären. Er lokalisierte die Gefahren, vor denen die Menschheit in der kritischen Phase der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stand und hob besonders das Problem der Spaltung der Erde in eine Erste, Zweite und Dritte Welt hervor. Sacharow stellte die Ansicht in Frage, dass zum Wohl der Menschheit der wissenschaftlich-technische Fortschritt gebremst werden solle, rief aber auch zu dessen vernünftiger Kontrolle auf. Er wiederholte seine Einschätzung, dass die geistige Freiheit eine Schlüsselbedeutung für die Lösung der Probleme einnehme und nannte notwendige Voraussetzungen für ein allgemeines Abrüstungsabkommen. Der letzte Teil seiner Rede war den Menschenrechten, ihrer internationalen Bedeutung und den politisch Verfolgten in der UdSSR gewidmet. Er zählte die Namen einiger Dutzend politischer Häftlinge auf und hob hervor, dass man an erster Stelle „die Opfer der Regime, die in unterschiedlichen Ländern bestehen, unterstützen sollte, ohne zum Sturz und vollständiger Verurteilung dieser Regime aufzurufen. Notwendig sind Reformen und keine Revolutionen.“

Sacharow war am Tag der Verleihungszeremonie in der litauischen Hauptstadt Wilna (Vilnius), wo ein Gerichtsprozess gegen seinen Freund Sergei Kowaljow stattfand. Trotz hartnäckiger Versuche wurde er nicht in den Gerichtssaal vorgelassen.

Am 12. Januar 1977 äußerte sich Sacharow öffentlich zu den *Bombenanschlägen in der Moskauer Metro. Er protestierte gegen die in der Presse geäußerten Unterstellungen, dass an den Terroranschlägen sowjetische Dissidenten beteiligt gewesen wären. Seiner Meinung nach hätte der Terrorakt auch eine Provokation der Sicherheitsorgane gewesen sein können: „Ich wünsche mir, dass sich dieser Verdacht als unbegründet erweist.“ Am 25. Dezember 1977 bezeichnete der stellvertretende Generalstaatsanwalt der UdSSR die Erklärung Sacharows als ungeheure Verleumdung, versuchte ihn zu einer öffentlichen Richtigstellung zu bewegen und warnte vor strafrechtlichen Konsequenzen auf der Grundlage des *Dekrets des Präsidiums des Obersten Sowjets vom 25. Dezember 1972. Sacharow weigerte sich, das Protokoll über den Erhalt der Verwarnung zu unterschreiben.

In dem Artikel „Furcht und Hoffnung“ (Trevoga i nadežda) vom Mai 1977 thematisierte Sacharow die Gefahren, die der fehlende freie Austausch von Informationen in der Gesellschaft des totalitären Sozialismus verursachen könne. Dabei ging er auch auf die Bedeutung ein, die der Kampf für die Menschenrechte für die internationalen Beziehungen habe.

Anfang 1979 traf er sich mit Zbigniew Romaszewski, der als Vertreter des polnischen „Komitees für Gesellschaftliche Selbstverteidigung ‚KOR‘“ (Komitet Samoobrony Społecznej, *KSS „KOR“) nach Moskau gekommen war.

Am 31. Januar 1979 bat Sacharow in einem Brief an Breschnew, die Vollstreckung der Todesstrafe gegen Stepan Satikjan, Hakop Stepanjan und Sawen Bagdassarjan, die wegen der *Bombenanschläge in der Moskauer Metro verurteilt worden waren, auszusetzen und einen neuen, öffentlichen Gerichtsprozess durchzuführen. Die Verurteilten waren nach offiziellen Angaben bereits einen Tag zuvor erschossen worden, wovon Sacharow jedoch nichts wusste. Am 8. Februar veröffentlichte die Zeitung „Izvestija“ unter dem Titel „Schande über die Verteidiger der Mörder“ (Pozor zaščitnikam ubijc) einen Brief von Dmitri Tjuschyn. Tjuschyn war bei dem Anschlag zusammen mit seiner Frau und seiner Tochter verletzt worden, sein Bruder war ums Leben gekommen. Kurze Zeit später erschienen bei Sacharow zwei Männer, die sich als Verwandte von getöteten Opfern des Anschlages ausgaben und ihn bedrohten.

Am 3. und 4. Januar 1980 gab Sacharow der „Welt“ und der „New York Times“ Interviews zur sowjetischen Intervention in Afghanistan. Falls die UdSSR ihre Truppen nicht aus dem Land abziehe, so erklärte er, solle das Internationale Olympische Komitee es ablehnen, die Olympiade in Moskau zu veranstalten.

Die Staats- und Parteiführung spielte lange vor 1980 mit dem Gedanken, Sacharow aus Moskau zu verbannen. Bereits im September 1973 schlug Breschnew auf einer Sitzung des Politbüros vor, Sacharow in eine sibirische Außenstelle der Akademie der Wissenschaften zu versetzen. Auch Andropow stellte damals in einer Notiz an das ZK einen Plan vor: Michail Suslow sollte sich mit Sacharow treffen und von ihm unter Androhung des Entzuges aller Titel und Orden die „Unterlassung der feindlichen Tätigkeit“ fordern. Außerdem sollte er ihm vorschlagen, seinen Arbeitsplatz in eine geschlossene Stadt zu verlegen, „damit er sich von der feindlichen Umgebung ablösen könne“.



In einer ausführlichen Notiz, die im Januar 1977 an das ZK gesandt wurde und die einen detaillierten Plan zur Zerschlagung oppositioneller Organisationen enthielt – an erster Stelle wurden die Helsinki-Gruppen genannt –, kehrte Andropow zu dieser Idee zurück. Dieses Mal schlug er vor, Sacharow keine Wahl zu lassen und ihn zwangsweise aus Moskau zu verbannen. Dieser Plan wurde erst Anfang 1980 in die Tat umgesetzt. Am 8. Januar 1980 erließ das Präsidium des Obersten Sowjets ein Dekret mit der Anordnung, Sacharow alle staatlichen Auszeichnungen abzuerkennen und ein zweites Dekret über seine Ausweisung aus Moskau. Das erste Dekret wurde in den „Nachrichten des Obersten Sowjets der UdSSR“ veröffentlicht, das zweite blieb bis 1996 geheim.

Am 22. Januar 1980 informierte der stellvertretende Generalstaatsanwalt Sacharow, dass die Entscheidung gefallen sei, ihn in die Stadt Gorki (heute wieder Nischni Nowgorod) umzusiedeln, um seine Kontakte mit ausländischen Staatsbürgern zu unterbinden. Gleichzeitig wurde die Erlaubnis erteilt, dass ihn seine Frau begleiten könne. Am nächsten Tag gab die sowjetische Presse die Nachricht über die Ausweisung Sacharows aus Moskau und die Aberkennung seiner staatlichen Auszeichnungen bekannt.

In Gorki lebte Sacharow de facto in Verbannung: Er wurde überwacht, durfte die Stadt nicht verlassen und weder mit sogenannten „kriminellen Elementen“ noch mit ausländischen Staatsbürgern Kontakt pflegen, die jedoch in einer geschlossenen Stadt wie Gorki ohnehin nicht anzutreffen waren. Sacharow bekam eine kleine Wohnung in einem Haus am Stadtrand zugewiesen, in dessen Treppenaufgang ein Polizeiposten aufgestellt wurde. Der Zutritt zur Wohnung wurde nur mit Erlaubnis des KGB gestattet. Von Sacharows Bekannten vor Ort wurden nur drei zu ihm vorgelassen. Von Zeit zu Zeit kamen dagegen Personen zu Besuch, die Sacharow ihre „Entrüstung“ über seine „antisowjetischen Tätigkeiten“ zum Ausdruck bringen sollten. Aus Moskau konnten Sacharows Kollegen aus der Theoretischen Abteilung des Institutes für Physik der Akademie der Wissenschaften anreisen, aber jede dieser Delegationen musste mit dem KGB abgestimmt werden. Besuche anderer Gäste aus Moskau wurden nur in Ausnahmefällen zugelassen.

Die einzige Person, durch die Sacharow noch mit Moskau in Verbindung stand, war seine Frau Jelena Bonner. Sie wurde jedoch im Mai 1984 wegen „Herabwürdigung der sowjetischen Ordnung“ nach *Artikel 190, Paragraf 1 Strafgesetzbuch der RSFSR angeklagt und zu fünf Jahren Verbannung verurteilt. Als Verbannungsort wurde ebenfalls Gorki festgelegt. Dadurch blieben die Sacharows bis Ende 1985 praktisch von der Welt abgeschnitten.

Zum Schweigen konnte die Verbannung Sacharow jedoch nicht bringen. Die Jahre zwischen 1980 und 1986 waren vor allem von intensiver Arbeit auf dem Feld der theoretischen Physik, aber auch vom Kampf um die Rechte seiner Angehörigen und seiner eigenen Person, vom Einsatz für weltpolitische Anliegen und vom Engagement für Verfolgte geprägt.

Sacharow versuchte, die Mitglieder der Akademie der Wissenschaften zu überzeugen, sich für seine Verteidigung einzusetzen. Das Schweigen seiner Kollegen belastete ihn als Symbol für fehlendes gesellschaftliches Verantwortungsgefühl der Menschen. Erst später zeigte sich, dass seine Bemühungen trotz allem erfolgreich waren. Einige Physiker hatten sich für ihn eingesetzt oder zumindest auf seine Situation aufmerksam gemacht. Allerdings taten sie das privat, ohne ihre Aktivitäten in der Öffentlichkeit bekannt zu machen. So wandte sich Professor Pjotr Kapiza 1980 und 1981 schriftlich an die Staatsführung mit der Forderung, Sacharows Situation zu erleichtern. Auch der Leiter des Theoretischen Physikinstituts, Witali Ginsburg, und andere Mitarbeiter setzten sich für Sacharow ein.

Dramatische Formen hatte mittlerweile auch die Lage von Sacharows Angehörigen angenommen. Schon zu Beginn von Sacharows öffentlichem Engagement versuchte man ihn zu erpressen, indem man die Kinder von Jelena Bonner aus erster Ehe, Alexei Semonow und Tatjana Semonowa-Jankelewitschs, den Mann von Tatjana Semonowa-Jankelewitsch, Jefrem Jankelewitsch, sowie die Kinder aus dieser Ehe bedrohte. Sie wurden mit ständigen anonymen Drohungen und behördlichen Zwangsmaßnahmen unter Druck gesetzt, von Hochschulen relegiert und mit fingierten Strafverfahren bedroht. Schließlich waren die Familie Jankelewitsch 1977 und Alexei Semjonow 1978 zur Emigration gezwungen.

Die Lage von Elisaweta Alexejewna, der Verlobten von Alexei Semjonow, die keine Erlaubnis zur Ausreise erhielt, bereitete Sacharow in den ersten Jahren seiner Verbannung die größten Sorgen. Eineinhalb Jahre lang bemühte sich Sacharow um die Genehmigung ihrer Ausreise. Nachdem diese Versuche zu nichts geführt hatten, trat Sacharow vom 22. November bis 8. Dezember 1981 in den Hungerstreik. Dieser Schritt zeigte Wirkung und Elisaweta Alexejewna erhielt die Erlaubnis, die UdSSR zu verlassen.

Die drei folgenden Hungerstreiks vom 2. bis 27. Mai 1984, vom 16. April bis 11. Juli 1985 und vom 25. Juli bis 22. Oktober 1985 trat Sacharow an, um für seine Frau, die im Frühjahr 1984 einen Herzinfarkt erlitten hatte, eine Genehmigung zur Ausreise ins Ausland für eine ärztlichen Behandlung zu erzwingen. Die Hungerstreiks endeten mit einem Erfolg. Jelena Bonner verbrachte sechs Monate in den USA, wo sie sich einer Operation unterzog. Ihre Verbannung wurde für diese Frist ausgesetzt. Nur durch diese dramatische Vorgehensweise gelang es Sacharow, die Gesundheit und vielleicht sogar das Leben seiner Ehefrau zu retten und gleichzeitig die Informationsblockade zu durchbrechen.

Sacharow verfasste in Gorki mehrere Texte über gesellschaftspolitische Themen. Zu den wichtigsten zählte ein an den UN-Generalsekretär und die Mitglieder des Sicherheitsrates gerichteter Plan für die friedliche Beilegung des Afghanistan-Konfliktes vom Juli 1980 und der Artikel „Die Gefahr eines thermonuklearen Kriegs“ (Opasnost‘ termojadernoj vojny“). Mit diesem Artikel vom Februar 1983 ging Sacharow ausführlich auf die Rede des amerikanischen Physikers Sidney Drell über die katastrophalen Konsequenzen eines thermonuklearen Krieges ein. Sacharow stimmte Drell in der Bewertung der zerstörerischen Folgen eines Atombombeneinsatzes zu und hielt die Wiederherstellung des strategischen Gleichgewichtes von Ost und West mit konventionellen Waffen ebenfalls für eine Grundvoraussetzung für die beidseitige Reduktion des Atomwaffenarsenals. Dagegen lehnte er die Reihenfolge der Prioritäten ab, welche die sowjetische Seite ihren Partnern bei den Verhandlungen aufzwingen wollte. Sacharow orientierte sich in seiner Argumentation faktisch an der gleichen Idee, die ihn 1948 zur Arbeit an der Wasserstoffbombe motivierte hatte: die Idee des Gleichgewichts der Kräfte als Schlüsselfaktor für die Verhinderung einer globalen Katastrophe. Darüber hinaus betonte er, dass man es nicht zu einer „moralischen Abrüstung“ des Westens und einseitigen Zugeständnissen unter sowjetischem Druck kommen lassen dürfe, weil dies die Gefahr eines Krieges vergrößere. Schließlich wies er noch darauf hin, dass expansionistische Tendenzen der sowjetischen Politik, der Mangel an Freiheit und freiem Informationsaustausch in der Gesellschaft wesentliche Gefahrenquellen darstellten.

In der sowjetischen Presse wurde Sacharow anschließend sofort als Kriegshetzer und Agent des Weltimperialismus hingestellt. Auch an dieser Kampagne nahmen – ähnlich wie 1973 – Kollegen Sacharows von der Akademie der Wissenschaften teil. Zeitgleich erreichte eine Pressekampagne gegen Jelena Bonner ihren Höhepunkt. Man stellte sie als „dämonische Frau“ mit verhängnisvollem Einfluss auf das „Akademiemitglied Sacharow“ sowie als „zionistische Agentin“ dar, die angeblich auf Sacharow angesetzt worden wäre, um ihn zu manipulieren.

Auch in Gorki setzte sich Sacharow mehrfach für Personen ein, die für ihre politischen Ansichten verfolgt wurden. Am 20. Februar 1986 wandte er sich brieflich an Michail Gorbatschow und rief den sowjetischen Staats- und Parteichef dazu auf, „die Freilassung aller nach *Artikel 190, Paragraf 1 Strafgesetzbuch der RSFSR, nach *Artikel 70 Strafgesetzbuch der RSFSR und nach Artikel 142 Strafgesetzbuch der RSFSR verurteilten politischen Häftlinge“ zu ermöglichen. Gleiches sollte für Personen gelten, die nach den entsprechenden Artikeln anderer Sowjetrepubliken verurteilt worden waren. Außerdem sollten diejenigen freigelassen werden, die wegen ihrer Überzeugungen in psychiatrische Krankenhäuser zwangseingewiesen oder aufgrund gefälschter Anklagen verurteilt worden waren. Sacharow listete die Namen von mehreren Dutzend Gefangenen auf.

Während der Verbannung setzte Sacharow die bereits in Moskau begonnene Arbeit an seinen Lebenserinnerungen fort. Das Manuskript der „Erinnerungen“ (Vospominanija) war zwei Mal – am 13. März 1981 und am 11. Oktober 1982 – gestohlen worden. Längere Textteile wurden am 7. Dezember 1982 bei Jelena Bonner konfisziert, als sie bei einer ihrer Fahrten nach Moskau festgenommen und durchsucht wurde. Trotz des vierfachen Verlustes des Manuskripts – die früheste Fassung war schon im November 1978 bei einer heimlichen Durchsuchung der Wohnung Sacharows verloren gegangen – konnte Sacharow seine „Erinnerungen“, die den Zeitraum bis November 1983 umfassten, abschließen. Nach der Rückkehr aus der Verbannung verfasste Sacharow unter dem Titel „Moskau, Gorki und dann überall“ (Moskwa–Gorki, dalee wezde) ein weiteres Buch mit Erinnerungen an die Zeit von Juli 1985 bis August 1989, das zusammen mit Jelena Bonners Erinnerungsband „Postskriptum an die Ereignisse zwischen Februar 1983 und April 1986“ eine Art Einheit bildete.

Während der Bemühungen um die Ausreiseerlaubnis für seine Frau schrieb Sacharow im Sommer 1985 an Gorbatschow und den Außenminister Andrei Gromyko und erklärte, dass er beabsichtige, sich künftig nicht mehr in öffentlichen Angelegenheiten zu engagieren, wobei er sich „Ausnahmen“ von dieser Selbstverpflichtung vorbehielt.

Im Oktober 1986 wandte sich Sacharow wieder brieflich an Gorbatschow und bezeichnete seine Verbannung als unrechtmäßig und die Verurteilung seiner Frau als ungerecht. Er erklärte erneut seine Bereitschaft, sich bis auf Ausnahmesituationen nicht mehr mit öffentlichen Angelegenheiten zu beschäftigen. Sacharow brachte darüber hinaus die Hoffnung zum Ausdruck, dass die beiden oben genannten Entscheidungen aufgehoben werden würden und teilte mit, dass er sich auf die Themen thermonukleare Energie und die internationale Zusammenarbeit auf diesem Gebiet konzentrieren wolle.

Am 1. Dezember 1986 verlas Michail Gorbatschow auf einer Politbürositzung Sacharows Brief und stellte den Antrag, Sacharow freizulassen und seiner Frau eine Amnestie zu gewähren. Der Antrag wurde angenommen. Einen Tag vor Bestätigung dieser Entscheidung durch das Präsidium des Obersten Sowjets rief Gorbatschow persönlich am 16. Dezember 1986 bei Sacharow in Gorki an – am Vortag war völlig unerwartet ein Telefonanschluss gelegt worden – und informierte ihn darüber, dass das Dekret vom 8. Januar 1980 seine Geltung verliere und er nach Moskau zurückkehren könne, um sich „für sein Vaterland einzusetzen“. Er fügte hinzu, dass auch seine Frau zurückkehren könne.

Dieser berühmt gewordene Telefonanruf Gorbatschows bedeutete nicht nur das Ende der Verbannung, er war auch ein klares Zeichen an das ganze Land und markierte den Beginn der Perestroika. Sacharow thematisierte während des Telefongespräches mit Gorbatschow erneut die Freilassung aller politischen Häftlinge. Er erinnerte Gorbatschow daran, dass einige Tage zuvor Anatoli Martschenko im Gefängnis von Tschystopol verstorben sei. Das Thema Amnestie griff Sacharow auch nach seiner triumphalen Rückkehr nach Moskau am 23. Dezember auf. Als Ende Januar 1987 die Entlassungswelle für politische Häftlinge begann, wandte er sich mehrfach wegen verschiedener Einzelpersonen an Gorbatschow.

Sacharow war es unmöglich, sein öffentliches Engagement aufzugeben. Während der Perestroika verlangten nicht nur die Gesellschaft, sondern auch diejenigen, die noch vor Kurzem von ihm gefordert hatten, sich nicht mehr zu öffentlichen Fragen zu äußern, nunmehr genau das Gegenteil. Die drei Jahre zwischen der Rückkehr Sacharows aus der Verbannung und seinem plötzlichen Tod 1989 waren noch von intensiver politischer Tätigkeit geprägt.

Im August 1988 wurde Sacharow zum Vorsitzenden des Vorstandes der Menschenrechtsorganisation *Memorial gewählt. Bis zum Ende seines Lebens widmete er dieser Bewegung viel Kraft und Zeit. Im Oktober 1988 beteiligte er sich an der Vorbereitungskonferenz und im Januar 1989 am Gründungskongress von *Memorial.

Am 30. Oktober 1988 wurde Sacharow in das Präsidium der Akademie der Wissenschaften der UdSSR gewählt. Ende 1988 gründete er den Diskussionsklub „Moskauer Tribüne“.

Zwischen Januar und März 1989 unterstützten etwa 60 wissenschaftliche Institute seine Kandidatur für den Kongress der Volksdeputierten, das höchste gesetzgebende Organ der Sowjetunion. Am 13. April 1989 gewann er ein Abgeordnetenmandat für den Volksdeputiertenkongress und wurde Vorsitzender der „Interregionalen Abgeordnetengruppe“, dem Vorläufer der demokratischen parlamentarischen Opposition.

Sacharow entwarf eine Verfassung für eine Staatsform, die seiner Meinung nach aus der UdSSR hervorgehen sollte: die „Föderation der freien Republiken Europas und Asiens“.

Im Herbst 1989 war er Mitinitiator einer Kampagne für die Aufhebung der sechs Artikel der Verfassung der UdSSR, in denen die führende Rolle der Kommunistischen Partei festgeschrieben war. Anfang Dezember 1989 appellierte er auf den Sitzungen der „Interregionalen Abgeordnetengruppe“ dafür, einen Generalstreik zur Durchsetzung dieser Forderung auszurufen.

Am 14. Dezember 1989 erlag Andrei Sacharow unerwartet in seiner Moskauer Wohnung einem Herzinfarkt. Seine Beisetzung auf dem Moskauer Wostriakowski-Friedhof war ein gesellschaftliches Ereignis, an dem zehntausende Menschen teilnahmen.


Alexander Daniel
Aus dem Polnischen von Tim Bohse
Letzte Aktualisierung: 02/16

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