x

In der Kategorie BioLex sind drei wichtige Lexika mit über 5500 Biografien von überzeugten Kommunistinnen und Kommunisten, Renegatinnen und Dissidenten im Volltext recherchierbar.

 

Das Handbuch „Deutsche Kommunisten. Biographisches Handbuch 1918 bis 1945“ wird von Andreas Herbst und Hermann Weber in der 8. aktualisierten Ausgabe herausgegeben. Auf breiter Quellenbasis werden die Schicksale deutscher Kommunisten knapp geschildert, von denen etwa ein Drittel während der NS-Diktatur und durch den Stalinistischen Terror gewaltsam ums Leben kam.

Kurzbiografien zu Personen des politischen Lebens in der DDR stellt das von Helmut Müller-Enbergs, Jan Wielgohs, Dieter Hoffmann, Andreas Herbst, Ingrid Kirschey-Feix herausgegebene Lexikon ostdeutscher Biographien „Wer war wer in der DDR?“ Ch. Links Verlag, 5. Aufl. 2010 bereit.

Zudem ist das Online-Lexikon www.dissdenten.eu ebenfalls auf unserer Seite aufrufbar. Die über 700 Biografien mit umfangreichen Informationen zu Oppositionellen, Bürgerrechtlern und  Dissidenten aus vielen Ländern Ost- und Mitteleuropas werden laufend erweitert.

 

Wer war wer in der DDR?

Sejtmuratowa, Ajsche

* 1937




Ajsche Sejtmuratowa (Ayşe Seytmuratova) wurde 1937 in dem Dorf Adschi-Eli (Acı Eli; seit 1948 Derschawino/Derschawine) auf der Krim geboren. Ihr Vater starb als Soldat im Zweiten Weltkrieg. Im Zuge der *Deportation der Krimtataren von 1944 gelangte Sejtmuratowa mit ihrer Familie in die Bergarbeitersiedlung Rudnik Langar im Gebiet Samarkand in Usbekistan.

1958 bis 1963 studierte Sejtmuratowa Geschichte an der Staatlichen Universität Samarkand. Die Aufnahme als Doktorandin an der Akademie der Wissenschaften der UdSSR in Moskau wie auch an der Akademie der Wissenschaften der Usbekischen SSR in Taschkent wurde ihr verweigert. Sie arbeitete als Geschichtslehrerin in einer Abendschule und als Lehrbeauftragte an der Staatlichen Universität Samarkand.

1964 wurde Sejtmuratowa Mitglied der *Initiativgruppe Samarkand, später auch der *Initiativgruppe der Usbekischen SSR. 1965 lernte sie Mustafa Dschemilew kennen. Sie arbeitete an Erklärungen und Dokumenten der krimtatarischen Bewegung mit und sammelte Material zur Geschichte der Krimtataren. 1965 übergab sie in Moskau Unterlagen an das ZK der KPdSU, deren Ziel eine Rücknahme des Ansiedlungsverbots für Tataren auf der Krim war. In diesem Zusammenhang bezeichnete sie gegenüber einem ZK-Mitarbeiter den Beschluss über die *Deportation der Krimtataren sowie die „Verfügung über die Umgestaltung der ASSR Krim in die Oblast Krim“ als beleidigend für ihr Volk. Der KGB wurde auf sie aufmerksam und sie war gezwungen, die Universität zu verlassen. Sie fand eine Stelle als Lehrerin in der Schule der Superphosphatfabrik am Stadtrand von Samarkand.

1966 gehörte sie als gewählte *Vertreterin des Volkes zu einer Delegation von 60 Personen, die in Moskau Briefe an Zeitungsredaktionen, an das Ministerium für Hochschulwesen und an das ZK des Komsomol übergeben sollte. Bevor es dazu kam wurden die Aktivisten von der Miliz verhaftet und auf der Wache misshandelt. In Moskau lernte Sejtmuratowa die Menschenrechtsaktivisten Pjotr Grigorenko, Andrei Sacharow, Tatjana Welikanowa, Alexander Lawuta, Tatjana Ossipowa, Juri Jarym-Agajew, die Rechtsanwältinnen Sofia Kallistratowa und Dina Kaminska sowie die Vertreterinnen der ukrainischen nationalen Befreiungsbewegung Iryna Senyk, Nina Strokata und Nadija Switlytschna kennen.

Schon bald nach Sejtmuratowas Rückkehr nach Samarkand wurde ihre Wohnung durchsucht. Am 14. Oktober 1966 wurde sie verhaftet und ins Moskauer Lefortowo-Gefängnis gebracht. Ihr Fall wurde am 19. und 20. Mai 1967 vor dem Stadtgericht Moskau verhandelt. Die Anklage nach Artikel 74 des Strafgesetzbuchs der RSFSR berief sich auf ihre Mitarbeit an verschiedenen Dokumenten der krimtatarischen Bewegung. Heftige Proteste aus den Reihen der Krimtataren und der Moskauer Menschenrechtsaktivisten aber auch vonseiten westlicher Politiker und weiterer Persönlichkeiten bewirkten ein relativ mildes, auf Bewährung ausgesetztes Urteil. Bereits am 21. Juli 1967 nahm sie als *Vertreterin des Volkes am *Treffen im Kreml am 21. Juli 1967 teil, von dem sie ein ausführliches Protokoll anfertigte. Erneut und schließlich erfolgreich bemühte sie sich um Zulassung als Promotionsstudentin am Historischen Institut der Akademie der Wissenschaften der Usbekischen SSR.

Regelmäßig übermittelte Sejtmuratowa Informationen und Unterlagen über die Unterdrückung der Krimtataren an die *„Chronik der laufenden Ereignisse“. Sie hatte mittlerweile ein umfängliches Archiv zur Geschichte der Krimtataren zusammengetragen, sammelte Zeitzeugenberichte von Deportationsopfern und Stenogramme von Prozessen gegen Aktivisten der krimtatarischen Bewegung. Ein Teil des Materials fand bei der Vorbereitung des *Prozesses der Zehn Verwendung, auf viele Dokumente griff auch Alexander Nekritsch in seinem Buch „Gestrafte Völker“ (Nakazannyje narody) zurück.

Am 20. Juni 1971 wurde sie erneut verhaftet. Ende Juli desselben Jahres verurteilte sie das Bezirksgericht Taschkent nach Artikel 194, Paragraf 4 Strafgesetzbuch der Usbekischen SSR (entspricht *Artikel 190, Paragraf 1 Strafgesetzbuch der RSFSR) zu drei Jahren Freiheitsentzug. Nach Verbüßung der Haftstrafe im Straflagerkomplex der *mordwinischen Lager kehrte sie nach Samarkand zurück. Im Oktober 1974 forderte sie in einer Erklärung gegenüber der Staatsanwaltschaft ihre Rehabilitierung und verlangte ihre Wiederzulassung zum Promotionsstudium am Historischen Institut der Akademie der Wissenschaften der Usbekischen SSR. Im April 1975 wandte sie sich diesbezüglich auch an die Wissenschaftsabteilung des ZK der KPdSU. Im September 1975 informierte die Akademie sie, dass keine Möglichkeit für sie bestehe, ihr Studium fortzusetzen.

Unter dem Vorwurf, sie habe Informationen zur Situation der Krimtataren ins Ausland geschleust, wurde Sejtmuratowa am 5. September 1976 nach Simferopol in die dortige Dienststelle des Innenministeriums und von dort nach Taschkent gebracht. Am 8. September schrieb sie eine Beschwerde an den Generalstaatsanwalt, in der sie die Bestrafung der für ihre Entführung verantwortlichen Milizbeamten verlangte. Die Beschwerde richtete sie ebenfalls an die Bezirksstaatsanwaltschaft in Simferopol.

Sejtmuratowa arbeitete mit der *Moskauer Helsinki-Gruppe und mit internationalen Menschenrechtsorganisationen zusammen (unter anderem mit *Amnesty International). Im November 1978 wurde sie zur Ausreise aus der UdSSR gezwungen und erhielt im Januar 1979 politisches Asyl in den USA (später nahm sie die Staatsbürgerschaft der USA an). Hier begann ihre Mitarbeit für den Sender Voice of America. Sie arbeitete auch für *Radio Liberty, die BBC und die Deutsche Welle. Im Mai 1980 wandte sie sich mit einer offiziellen Erklärung über die *Deportation der Krimtataren 1944 und die Unterdrückung der auf die Krim zurückkehrenden Tataren an den UNO-Generalsekretär. 1980 und 1981 trat sie als Rednerin bei Zusammenkünften der Organisation der Islamischen Konferenz in London, Paris und Kuala-Lumpur auf. Sie sprach vor den Parlamenten Kanadas, Großbritanniens, Italiens, der Türkei und Frankreichs sowie vor dem US-Kongress. Sie hielt Vorlesungen an Hochschulen. Immer ging es um den Kampf der Krimtataren für das Recht, auf die Krim zurückzukehren. Zweimal traf sie US-Präsident Ronald Reagan (1982 und 1988) und hatte 1982 auch eine Unterredung mit dem türkischen Staatspräsidenten Turgut Özal. 1980 und 1986 nahm sie an den KSZE-Folgekonferenzen in Madrid und Wien teil. 1986 rief sie in zwölf Ländern „Verteidigungskomitees für Mustafa Dschemilew“ ins Leben und engagierte sich für die Freilassung weiterer aus politischen Gründen inhaftierter Krimtataren.

1990 reiste Ajsche Sejtmuratowa zum ersten Mal nach ihrer Ausreise 1978 in die Sowjetunion und kehrte 1992 auf die Krim zurück, wo sie sich in Simferopol niederließ. Sie war weiterhin gesellschaftlich tätig. Ihrem Engagement ist die Einrichtung eines Wohltätigkeitsfonds zur Unterstützung hilfsbedürftiger Menschen sowie der Bau eines Heims für Veteranen der krimtatarischen Nationalbewegung zu verdanken. Noch immer setzt sie sich für die Belange der Krimtataren ein.



Autorenteam der Stiftung „Initiative der Krimtataren“
Aus dem Polnischen von Gero Lietz
Letzte Aktualisierung: 08/20

Information

Die Sonderzeichen * und # erscheinen lediglich aus technischen Gründen im Text. Auf der Ursprungs-Webseite dissidenten.eu finden sie weiterführende Links sowie die vollständige Version der Biografien mit Glossarerklärungen, Chroniken und ausführlichen Darstellungen der Oppositionsgeschichten aller Länder.