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In der Kategorie BioLex sind drei wichtige Lexika mit über 5500 Biografien von überzeugten Kommunistinnen und Kommunisten, Renegatinnen und Dissidenten im Volltext recherchierbar.

 

Das Handbuch „Deutsche Kommunisten. Biographisches Handbuch 1918 bis 1945“ wird von Andreas Herbst und Hermann Weber in der 8. aktualisierten Ausgabe herausgegeben. Auf breiter Quellenbasis werden die Schicksale deutscher Kommunisten knapp geschildert, von denen etwa ein Drittel während der NS-Diktatur und durch den Stalinistischen Terror gewaltsam ums Leben kam.

Kurzbiografien zu Personen des politischen Lebens in der DDR stellt das von Helmut Müller-Enbergs, Jan Wielgohs, Dieter Hoffmann, Andreas Herbst, Ingrid Kirschey-Feix herausgegebene Lexikon ostdeutscher Biographien „Wer war wer in der DDR?“ Ch. Links Verlag, 5. Aufl. 2010 bereit.

Zudem ist das Online-Lexikon www.dissdenten.eu ebenfalls auf unserer Seite aufrufbar. Die über 700 Biografien mit umfangreichen Informationen zu Oppositionellen, Bürgerrechtlern und  Dissidenten aus vielen Ländern Ost- und Mitteleuropas werden laufend erweitert.

 

Wer war wer in der DDR?

Šimečka, Milan

* 1930 ✝ 1990




Milan Šimečka wurde 1930 in Nový Bohumín in der Nähe von Ostrava (Ostrau) geboren. Von 1943 bis 1953 studierte er russische und tschechische Literaturwissenschaft an der Masaryk-Universität in Brünn (Brno). 1953–54 lehrte er am Gymnasium im tschechischen Kroměřiž. Ab 1954 lebte er in Bratislava, wo er als Dozent für marxistische Philosophie zunächst an der Medizinischen und Pharmazeutischen Fakultät der Comenius-Universität unterrichtete und anschließend an der Musikhochschule. Dort habilitierte er sich 1968. Mit der Slowakei blieb er bis zu seinem Lebensende verbunden. Er schrieb sowohl auf Tschechisch als auch auf Slowakisch und war der meistübersetzte slowakische Autor und Publizist des Samisdat.

In den 60er Jahren beschäftigte sich Šimečka in seiner Forschung hauptsächlich mit gesellschaftlichen Utopien. Zu diesem Thema schrieb er 1963 sein erstes Buch: „Gesellschaftliche Utopien und die Utopisten“ (Sociálne utópie a utopisti). Seine Fortsetzung fand Šimečkas wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Thema 1967 in „Die Krise der Utopie“ (Kríza utopizmu), einer Analyse der Wurzeln und des intellektuellen Diskurses der Idee der Utopie. Demnach „sind alle Utopien nach demselben geistigen Schema entstanden […] Sie entspringen aus einer einheitlichen, spezifisch utopischen Beziehung zur Wirklichkeit.“ Die charakteristischen Merkmale von Utopien sind laut Šimečka unter anderem eine besondere, rückwärtsgewandte Auffassung von Geschichte, eine irrtümliche Erkenntniskonzeption, die Fetischisierung des Verstandes, die Idealisierung von Armut und Gleichheit, moralischer Determinismus sowie religiöse Exaltiertheit.

Bei seiner Analyse des Wesen des utopischen Denkens stieß er auf entsprechende Elemente auch in der Praxis des real existierenden Kommunismus. Er beobachtete eine ausgesprochene Aktualität einiger Vorstellungen und utopischer Traditionen, besonders im Bewusstsein der Menschen. Hieraus entsprang seine unmittelbare Motivation zu den Büchern. Durch seine Forschungen zur Utopie fand er auch „in der gegenwärtigen Gestalt des Sozialismus, die sich überwiegend nicht mit den sehr weit gefassten theoretischen Grundlagen deckt, den Einfluss älterer und gefestigter Utopievorstellungen.“ Für utopisch hielt er ebenso Versuche, „ein einziges, unangreifbares Muster für den Sozialismus und Kommunismus zu schaffen“, das als Idealzustand verstanden wird, zu dem die Welt hinstrebt. Den Erfolg einer sozialistischen Zukunft sah er an die Rückkehr zu humanistischen Werten geknüpft und daran, „dass man sich von den naiven Vorstellungen des letzten Jahrhunderts trennt.“

Šimečkas Haltung kollidierte nicht nur mit der leninistischen Auffassung vom Sozialismus, sondern auch mit dem historischen Determinismus in der Tradition von Marx. Damit ordnete er sich in die revisionistische Strömung ein, der marxistische Intellektuelle auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs in den 60er Jahren angehörten, wie beispielsweise #Miroslav Kusý, Roger Garaudy, Leszek Kołakowski und Ivan Sviták.

In dieser Zeit publizierte er unter anderem in den Zeitschriften *„Kultúrny život“ (Kulturelles Leben), *„Literární noviny“ (Literaturzeitung), „Reportér“, „Literární listy“ (Literaturblätter), „Doba“ (Epoche) und „Listy“ (Blätter). Šimečka war auch für das Radio und Fernsehen tätig. 1967/68 hatte er einen halbjährigen Forschungsaufenthalt am Institut für Europäische Geschichte in Mainz. Sein Interesse galt vorwiegend dem Denken der „Frankfurter Schule“ um Jürgen Habermas und der „neuen Linken“ um Herbert Marcuse.

Nach dem *Einmarsch von Truppen des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei 1968 wurde er aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen und ihm wurden weitere Forschungen untersagt. Šimečka nahm daraufhin eine Arbeit im Bauwesen an. Seine Frau Eva wurde aus ihrer Stelle an der Comenius-Universität in Bratislava entlassen und seinem jüngeren Sohn #Martin Milan Šimečka wurde das Studieren verboten.

In den 70er Jahren veröffentlichte er im Samisdat hauptsächlich Essays und feuilletonistische Artikel. Seine Texte erschienen auch in den Exilzeitschriften *„Listy“ (Blätter), *„Svědectví“ (Zeugnis) sowie „Obrys“ (Umriss) und wurden in andere Sprachen übersetzt. Aufsehen erregte seine 1977 geschriebene und zwei Jahre später erschienene Publikation „Die Wiederherstellung der Ordnung. Ein Beitrag zur Typologie des Realsozialismus“ (Obnovení pořádku. Příspěvek k typologii reálného socialismu). Darin untersuchte er den Prozess der sogenannten *„Normalisierung“ nach 1969 und befasste sich mit der Frage, welche Rolle Propagandabegriffe wie etwa „Kommunismus“ oder „Sozialismus“ in einer stufenweise lahm gelegten Gesellschaft spielen. Jeglichen ideologischen Konstruktionen gegenüber äußerte er sich skeptisch: „Ideologie diente ihrer Natur nach immer dazu, Verbrechen ein übermenschliches Antlitz zu verleihen, sodass diese Verbrechen den Eindruck erwecken, dass sie nicht von Menschen verursacht wurden, sondern von einer unbegreiflichen, mächtigen Hand der Geschichte.“

„Die Wiederherstellung der Ordnung“ beendete er während der staatlichen Kampagne gegen die *Charta 77. Unter dem Druck der Machthaber sowie der Warnung, seinen ältesten Sohn von der Hochschule zu werfen, entschied er sich, die Petition der Charta nicht zu unterschreiben. Diese Erfahrung beschrieb er am 15. Januar 1977 im Text „Für Ludvík Vaculík anstelle des Feuilletons“ (Ludvíkovi Vaculíkovi namiesto fejtónu).

1981 wurde er festgenommen und verbrachte mehr als ein Jahr in Untersuchungshaft in Bratislava und in Prag-Ruzyně. Im Zusammenhang mit dem *Vorfall mit einem französischen Lastwagen wurde er gemeinsam mit anderen tschechischen und slowakischen Bürgerrechtlern für angebliches umstürzlerisches Verhalten angeklagt. Von der Gruppe der ursprünglich inhaftierten Dissidenten mussten im März 1982 nur Jiří Ruml, Ján Mlynárik und Milan Šimečka im Gefängnis bleiben. Ende Mai 1982 jedoch wurden auch sie aufgrund des Druckes der internationalen Öffentlichkeit aus der Haft entlassen.

Šimečka verließ das Gefängnis in schlechtem Gesundheitszustand. In den Folgejahren bis 1989 lebte er von dem, was ihm seine Veröffentlichungen im Ausland einbrachten. Eine Auswahl der Korrespondenz mit der Familie veröffentlichte sein Sohn Martin 1984 im Samisdatverlag *Edice Petlice unter dem Titel „Signalzeichen“ (Světelné znamení). Nach seiner Haftentlassung schrieb er die „Briefe über die Beschaffenheit der Wirklichkeit“ (Dopisy o povaze skutečnosti; erschienen 1992) als einzige strikt philosophische Arbeit, die er in Form von an seine Söhne adressierte Briefe verfasste. Darin brachte er zum Ausdruck, dass für ihn nur die eigene individuelle Erfahrung unmittelbar erfahrbar ist. Auf sie solle sich der Mensch bei seiner Erkenntnisanstrengung konzentrieren. Das Übrige könne man sich nur durch Vermutungen erschließen, wobei Schlussfolgerungen höhere oder geringere Wahrscheinlichkeiten zukämen.

1984 fand Šimečka weltweit Beachtung mit seinem Essay „Unser Kamerad Winston Smith“ (Náš súdruh Winston Smith), der George Orwells „1984“ zum Gegenstand hat. Šimečka konfrontierte in seinem Text die Welt der dystopischen Erzählung mit der Wirklichkeit des Realsozialismus.

Zusammen mit Miroslav Kusý verfasste er im gleichen Jahr das Buch „Europäische Erfahrungen mit dem Realsozialismus“ (Európska skúšenosť s reálnym socializmom). Sein Beitrag „Verlust der Wirklichkeit“ (Ztrata skutečnosti) umfasste eine Auswahl an Überlegungen und politischen Essays, in denen er seine Kritik an jeglichen utopischen Konzepten aus den 60er Jahren weiterentwickelte und eine Analyse des utopischen Denkens anfügte, die ihn allen gesellschaftlichen Doktrinen gegenüber skeptisch sein ließ. In anderen Essays verfolgte Šimečka die Entwicklung der marxistischen Theorie und ihre Umsetzung in der politischen Wirklichkeit. In seinen Arbeiten „Vom Westen in den Osten“ (Ze zádpadu na východ) und „Russische Ideologie“ (Ruská ideologie) analysierte er am russischen Beispiel die Weiterentwicklung des Marxismus. In „Marktplatz der Diktaturen“ (Tržiště diktatur) beschäftigte er sich mit der Entstehung von totalitären Regimen in Europa. Diese Entwicklung sah er als eine Folge der Haltung der Gesellschaft und der Intellektuellen, die den demokratischen Institutionen vorgeworfen hatten, nicht effektiv genug zu sein und daher bereit gewesen waren, den Diktaturen den Vorrang zu geben, um dem Prinzip Gleichheit auf sozialem Gebiet Geltung zu verschaffen.

In weiteren Aufsätzen analysierte er den Kommunismus selbst und stellte fest, „dass das durch Stalin geschaffene gesellschaftlich-ökonomische System zur dauerhaften Grundlage des real existierenden Sozialismus wurde.“ Er ging ähnlich wie die Mehrheit der ostmitteleuropäischen Historiker und Politologen von einer Kontinuität der einzelnen Epochen in der Geschichte der kommunistischen Regime aus. Sein Essay „Konfrontation“ (Konfrontace) stellte die Politik des Kalten Krieges in Frage. Šimečka sah in der Auseinandersetzung ein Beispiel für die Niederlage des gesunden Menschenverstandes, die dazu führe, dass Kräfte und Produktionsmittel verschwendet würden. Seiner Meinung nach verhielte sich die Sowjetunion in diesem Konflikt defensiv. Der Einmarsch in die Tschechoslowakei oder in Afghanistan sei in der Angst begründet gewesen, dass die Sowjetunion vom inneren Zerfall, wirtschaftlichen Zusammenbruch, von gesellschaftlicher Unzufriedenheit oder einer Niederlage im Systemwettbewerb mit dem Westen bedroht sei.

Im Samisdat gab er 1985 „Rundumverteidigung“ (Kruhová obrana), eine Sammlung feuilletonistischer Artikel, heraus. In ihnen analysierte er das individuelle Schicksal von Menschen, deren Leben durch ideologisch gerechtfertigte Eingriffe zerstört wurden, was in der Konsequenz zum Verlust ihrer Identität und Individualität führte. Wie eine Mehrheit der damaligen Politikwissenschaftler ging er davon aus, dass nur ein kleiner Teil der Bevölkerung am politischen Leben teilnehme. Demokratien und Diktaturen verdankten ihre Existenz einer schweigenden Mehrheit. Indem er die Regime beschrieb, die eine totale Kontrolle über den einzelnen Menschen anstrebten, analysierte er eine weitere Seite des Realsozialismus, die er als „das Streben dieser Systeme des östlichen Europas, die Geschichte anzuhalten“ und die Bürger dazu zu bringen zu glauben, dass sie nur in einem Reich der „kleinen Geschichte“ lebten, charakterisierte.

Nicht zuletzt analysierte Šimečka auch den Prozess, der Manipulation historischer Erinnerungen durch die kommunistischen Regime: Die Regime entpersonalisierten die Geschichte, sodass die Vergangenheit zu einem abstrakten Prozess reduziert werde, ähnlich einer „Pyramide, die von anonymen Baumeistern erbaut wurde […], was im Vorhinein die Frage ausschließt, ob die Steine nicht in einer anderen Reihenfolge hätten gelegt werden können, und vor allem, ob das ganze Unterfangen Sinn macht.“ Auf der Suche nach den Gründen für die Stabilität des kommunistischen Regimes in der Tschechoslowakei stieß er auf die schweigende Mehrheit, das fehlende gesellschaftliche Engagement in der Politik und den allgegenwärtigen Stillstand.

Die Perestroika in Russland und die zunehmende Aktivität in der tschechoslowakischen Gesellschaft beschäftigten Šimečka im Jahr 1988 sehr. Seine Überlegungen hierzu veröffentlichte er 1989 in „Das Ende der Bewegungslosigkeit“ (Konec nehybnosti). Nach der *Samtenen Revolution 1989 publizierte er in Zeitschriften politikwissenschaftliche Texte. 1990 war er für mehrere Monate Abgeordneter im Slowakischen Nationalrat und im Frühjahr 1990 außenpolitischer Berater im Stab von Präsident Václav Havel.

Milan Šimečka starb 1990 in Prag an einem Herzinfarkt.


Juraj Marušiak
Aus dem Polnischen von Jonas Grygier
Letzte Aktualisierung: 08/15

Information

Die Sonderzeichen * und # erscheinen lediglich aus technischen Gründen im Text. Auf der Ursprungs-Webseite dissidenten.eu finden sie weiterführende Links sowie die vollständige Version der Biografien mit Glossarerklärungen, Chroniken und ausführlichen Darstellungen der Oppositionsgeschichten aller Länder.