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In der Kategorie BioLex sind drei wichtige Lexika mit über 5500 Biografien von überzeugten Kommunistinnen und Kommunisten, Renegatinnen und Dissidenten im Volltext recherchierbar.

 

Das Handbuch „Deutsche Kommunisten. Biographisches Handbuch 1918 bis 1945“ wird von Andreas Herbst und Hermann Weber in der 8. aktualisierten Ausgabe herausgegeben. Auf breiter Quellenbasis werden die Schicksale deutscher Kommunisten knapp geschildert, von denen etwa ein Drittel während der NS-Diktatur und durch den Stalinistischen Terror gewaltsam ums Leben kam.

Kurzbiografien zu Personen des politischen Lebens in der DDR stellt das von Helmut Müller-Enbergs, Jan Wielgohs, Dieter Hoffmann, Andreas Herbst, Ingrid Kirschey-Feix herausgegebene Lexikon ostdeutscher Biographien „Wer war wer in der DDR?“ Ch. Links Verlag, 5. Aufl. 2010 bereit.

Zudem ist das Online-Lexikon www.dissdenten.eu ebenfalls auf unserer Seite aufrufbar. Die über 700 Biografien mit umfangreichen Informationen zu Oppositionellen, Bürgerrechtlern und  Dissidenten aus vielen Ländern Ost- und Mitteleuropas werden laufend erweitert.

 

Wer war wer in der DDR?

Solschenizyn, Alexander

* 1918 ✝ 2008




Alexander Solschenizyn kam 1918 im nordkaukasischen Kislowodsk als Kind studierter Eltern zur Welt, deren Vorfahren noch Bauern gewesen waren. Sein Vater starb bei einem Jagdunfall ein halbes Jahr vor der Geburt seines Sohnes. Seine Mutter zog 1924 mit ihm nach Rostow am Don, wo er seine Kindheit und Jugend verbrachte.

1941 beendete Solschenizyn sein Studium der Mathematik und Physik an der Universität in Rostow. Parallel dazu hatte er am Moskauer Institut für Geschichte, Philosophie und Literatur noch ein Fernstudium absolviert. Zu dieser Zeit war er bekennender Kommunist, unternahm erste literarische Versuche und beschäftigte sich mit Entwürfen für ein Romanepos über den Ersten Weltkrieg und die Oktoberrevolution.

Im Oktober 1941 wurde Alexander Solschenizyn zur Roten Armee eingezogen. Im Zweiten Weltkrieg war er ab Dezember 1942 im Fronteinsatz, führte eine Artillerieeinheit und wurde 1944 zum Hauptmann befördert. Er war unter anderem am Kursker Bogen und in Ostpreußen im Einsatz, wofür er mit dem Orden des Vaterländischen Krieges zweiten Grades, mit dem Orden des Roten Sterns und mit zwei weiteren Ehrungen ausgezeichnet wurde.

Am 9. Februar 1941 wurde Solschenizyn aufgrund eines Briefwechsels mit seinem Schulfreund, dem Offizier Nikolai Witkewitsch, verhaftet. In den Briefen hatten sie Stalin kritisiert und darüber diskutiert, nach dem Krieg eine Organisation für die Erneuerung des Leninismus zu gründen. Am 7. Juli 1945 wurde Solschenizyn nach *Artikel 58, Paragraf 10 Strafgesetzbuch der RSFSR sowie nach Paragraf 11 desselben Artikels (siehe *Artikel 72 Strafgesetzbuch der RSFSR) zu acht Jahren Lagerhaft verurteilt.

Seine Strafe verbüßte er in Straflagern in der Nähe von Moskau und später in einem Spezialgefängnis des Ministeriums für Staatssicherheit. Dieses Lager war zugleich ein Konstruktionsbüro, in dem inhaftierte Wissenschaftler und Ingenieure staatliche Aufträge erfüllen mussten. Die letzten drei Jahre seiner Haft verbrachte Solschenizyn im Lagerkomplex „Steplag“ in Kasachstan.

Nach seiner Entlassung im März 1953 wurde Solschenizyn lebenslänglich in das Dorf Birlik im Gebiet Schambyl in der Kasachischen Sowjetrepublik verbannt. Dort war er Schullehrer für Mathematik und Physik.

Sowohl seine in Gefängnissen, Lagern und Verbannung verbrachten Jahre als auch Hunderte Begegnungen mit Menschen unterschiedlichster Anschauungen und Lebensschicksale trugen dazu bei, dass sich Solschenizyn von seinen früheren Ansichten entfernte. Er gab den Leninismus auf, wurde überzeugter Antikommunist und gelangte zu der Überzeugung, dass die Oktoberrevolution die größte Tragödie der russischen Geschichte gewesen sei. Heimlich setzte er seine intensive literarische Arbeit fort, die er bereits während seiner Inhaftierung wiederaufgenommen hatte.

Nach der Entlassung aus der Verbannung im Sommer 1956 zog Solschenizyn nach Zentralrussland. Im Februar 1957 wurde er rehabilitiert. Fast ein Jahr lang arbeitete er als Lehrer im Kreis Kurlowo im Gebiet Wladimir östlich von Moskau, ab Juni 1957 lebte er dann in Rjasan und unterrichtete Astronomie an einer Schule. Seine heimlich verfassten Texte zeigte er nur den engsten Freunden. Auf Zureden des Schriftstellers Lew Kopelew, seinem ehemaligen Mithäftling im Staatssicherheits-Gefängnis, schickte er im Oktober 1961 seine 1959 entstandene Erzählung „ŠČ-854“ an die Zeitschrift „Novyj Mir“. Im Oktober 1962 wurde sie als erstes bedeutendes Werk der sowjetischen Literatur über die sowjetischen Straflager unter dem Titel „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“ (Odin den‘ Ivana Denisoviča) veröffentlicht. Solschenizyn wurde damit umgehend im In- und Ausland bekannt.

Bereits im Dezember 1962 wurde er in den sowjetischen Schriftstellerverband aufgenommen. Auf einem Treffen der Parteiführung mit Schriftstellern bezeichnete Parteichef Nikita Chruschtschow das Buch als „Vorbild parteilicher Wahrheit“. Chruschtschow hatte persönlich veranlasst, die Erzählung von der Zensur auszunehmen. „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“ wurde für den Leninpreis vorgeschlagen.

Solschenizyns Werke wurden als Zeichen für die Erneuerung der russischen Literatur gewertet. Die Veröffentlichung seiner Erzählungen „Matrjonas Hof“ (Matrënin dvor) und „Zwischenfall auf dem Bahnhof Kretschetowka“ (Slučaj na stancii Krečetovka) in der Zeitschrift „Novyj Mir“ bekräftigte seine Stellung als moderner Klassiker, den einige sogar als Nachfolger von Lew Tolstoi und Fjodor Dostojewski ansahen.

Zeitgleich begannen Reformgegner im Partei- und Staatsapparat Hand in Hand mit linientreuen Schriftstellern Solschenizyn anzugreifen. Auf geschlossenen Parteiversammlungen wurden Gerüchte in Umlauf gebracht, Solschenizyn sei wegen Hochverrates verurteilt und nur durch einen Irrtum rehabilitiert worden. Außerdem gelang es seinen Gegnern zu verhindern, dass er den Leninorden erhielt. Solschenizyns Werke, die 1963 und 1964 zur Veröffentlichung vorgeschlagen worden waren, lehnte die Zensur nun ab. Nach dem Sturz Chruschtschows verstärkte sich die Hetzkampagne gegen Solschenizyn immer mehr; der KGB begann, ihn zu überwachen.

Ein Wendepunkt in Solschenizyns Leben wurde der 11. September 1965, als der KGB jenen Teil seiner geheimen Manuskriptsammlung beschlagnahmte, der bei Wenjamin Teusch aufbewahrt worden war. Darunter waren dramatische Werke und Gedichte aus der Zeit der Gefangenschaft, die bisher nicht für den Druck vorgesehen gewesen waren. Von dem Stück „Das Bankett der Sieger“ (Pir pobeditelej), in dem es um die letzten zwei Monate des Zweiten Weltkrieges ging, setzte der KGB die Präsidiumsmitglieder des Zentralkomitees in Kenntnis. Später wurde dieser Text immer wieder benutzt, um Solschenizyn zu verleumden. Nahezu die gesamte Staats- und Parteiführung sah sich nun in der Überzeugung bestätigt, dass es sich bei Solschenizyn um einen heimlichen und kompromisslosen Feind der sowjetischen Ordnung handele. Die Veröffentlichung seiner Werke wurde verboten, als Letztes konnte 1966 offiziell die Erzählung „Sachar-Kalita“ in der Zeitschrift „Novyj Mir“ erscheinen.

Damit war Solschenizyns Schriftstellerkarriere beendet. Im Verlauf der kommenden zwei bis drei Jahre wurde er zum oppositionellen Dissidenten. Es begann eine präzedenzlose, bis 1974 andauernde offene Konfrontation zwischen Solschenizyn und den Machthabern, die er in dem autobiografischen Buch „Die Eiche und das Kalb“ (Bodalsja telënok z dubom) beschrieben hat.

Bereits 1963 und 1964 zirkulierten im Samisdat kleinere Arbeiten Solschenizyns, die in den 50er Jahren entstanden waren. Diese waren „Nemow und das Flittchen“ (Olen‘ i šalašovka), ein Stück über das Häftlingsleben, das am Moskauer Sovremennik-Theater einstudiert, dann aber von der Zensur gestoppt wurde, das Drehbuch zu „Die Panzer kennen die Wahrheit“ (Znajut istinu tanki) über den Lageraufstand 1954 im kasachischen Schesqasghan und die ebenfalls von der Zensur verbotenen Prosaminiaturen „Minigeschichten“ (Krochotnye rasskazy). Letztere waren seine ersten in der UdSSR verbotenen Texte, die im Westen erschienen (in *„Grani“ Nr. 56/1964).

1967 lagen zwei umfangreiche Romane Solschenizyns druckfertig vor: „Im ersten Kreis“ (V kruge pervom) ist ein breites Panorama des sowjetischen Lebens der späten 40er Jahre. Es spannt den Bogen von einem Lager für Wissenschaftler, das mit dem vergleichbar ist, in dem Solschenizyn von 1947 bis 1950 inhaftiert war, bis hin zur Vorstadtresidenz Stalins. Die Arbeit an dem Roman, der anfangs den Titel „Scharaschka“ trug, begann Solschenizyn noch in der Verbannung in Kasachstan und führte sie später in Rjasan fort. Nach eigener Auskunft hatte er Kapitel und Handlungsstränge, die Einwände der Zensurbehörde hätten wecken können, bei der Vorbereitung des Manuskripts für den Druck entfernt oder angepasst. Ungeachtet dessen erhielt der Roman keine Druckzulassung. Der zweite Roman mit dem Titel „Krebsstation“ (Rakovyj Korpus), in dem Solschenizyn ebenfalls persönliche Erfahrungen verarbeitet hatte, stellte den Versuch dar, die in der russischen Literatur oftmals aufgegriffenen „ewigen Fragen“ über den Sinn des Lebens, den Tod und das Wesen der menschlichen Existenz durch die Darstellung von Patienten und Ärzten einer onkologischen Abteilung in einem Provinzkrankenhaus neu zu stellen. Gleichzeitig war die Romanhandlung eine komplexe Metapher für ein Land, das die Epoche des Massenterrors hinter sich gelassen hatte, aber noch von Gewalt, Heuchelei und Lüge gezeichnet war. „Krebsstation“ entstand im Auftrag der Zeitschrift „Novyj Mir“, in der sein Erscheinen angekündigt wurde. Doch trotz beharrlicher Bemühungen der Redaktion scheiterte die Veröffentlichung an der Zensur.

1966 las Solschenizyn in Moskau mehrmals öffentlich Auszüge aus seinen Werken und sprach über die Verfolgung, der er ausgesetzt war.

Im Mai 1967 verfasste er einen offenen Brief an den IV. Schriftstellerkongress der UdSSR, der als *Brief Alexander Solschenizyns zur Zensur bekannt wurde. Darin rief er zu einer ehrlichen Diskussion über die Willkür der Zensur auf und warf der Leitung des Schriftstellerverbandes vor, dass sie sich, statt Mitglieder vor politischer Verfolgung zu schützen, an Verleumdungskampagnen beteiligen würde. Der Brief fand im Samisdat Verbreitung und wurde im Ausland veröffentlicht. 80 Schriftsteller unterstützten Solschenizyn mit einem gemeinsamen Brief, viele solidarisierten sich mit ihm in privaten Schreiben und Telegrammen wie etwa Georgi Wladimow, Wenjamin Kawerin, Wladimir Kornilow, Wladimir Wojnowitsch, Feliks Swetow, Aleksei Kosterin und Wiktor Konezki. Mit der Verbreitung seines Briefes über die Zensur wurde der Name Solschenizyn zum Symbol des offenen gesellschaftlichen Widerstandes gegen das Regime.

Zur gleichen Zeit erschienen „Krebsstation“ und „Der erste Kreis“ im Samisdat. Trotz des großen Umfangs der Romane, der die Vervielfältigung erschwerte, erlangten sie eine außergewöhnliche Popularität. Um an die mit Schreibmaschinen angefertigten Kopien beider Bücher zu gelangen, musste man lange warten. In intellektuellen Kreisen borgte man sich die Bücher gegenseitig, um sie in einem Zuge über Nacht durchzulesen. Einander fast fremde Menschen schlossen sich zu Gruppen zusammen, um die Bücher gemeinsam zu lesen, indem die gelesenen Blätter von Hand zu Hand weitergereicht wurden.

Im Sommer 1968 wurde Solschenizyn mit einem Artikel vom 26. Juli 1968 in der „Literaturnaja Gazeta“ erstmals in der sowjetischen Presse angegriffen. Er wurde vor allem für seinen Brief an den Schriftstellerkongress kritisiert und dazu aufgefordert, sich von dem „Aufruhr“ zu distanzieren, den „antisowjetische Kreise“ im Westen in seinem Namen anzettelten. Als Reaktion darauf erschien im Samisdat der Artikel „Die Verantwortlichkeit des Schriftstellers und die Unverantwortlichkeit der ‚Literaturnaja Gazeta‘“ (Otvetstvennost‘ pisatelja i bezotvetstvennost‘ Literaturnoj gazety) von Lidija Tschukowskaja.

In der „Literaturnaja Gazeta“ erschien daraufhin eine Erklärung Solschenizyns gegen die unautorisierte Veröffentlichung seiner Werke im Ausland. Dies war das letzte Zugeständnis, das der Staat ihm noch abringen konnte. Als Reaktion auf die endgültige Absage, „Krebsstation“ zu veröffentlichen, erteilte Solschenizyn noch im selben Jahr die Genehmigung, beide Romane im Ausland herauszugeben.

Im November 1969 schloss man Alexander Solschenizyn aus dem Schriftstellerverband aus. Er reagierte darauf mit einem offenen Brief an das Sekretariat des Schriftstellerverbandes der UdSSR, in dem er die Adressaten als „Blindenführer ohne Sehvermögen“ ansprach, die den Kontakt zur Wirklichkeit vollständig verloren hätten. Er erinnerte an frühere Verleumdungskampagnen gegen Anna Achmatowa und Boris Pasternak sowie an aktuelle gegen Lew Kopelew und Lidija Tschukowskaja und warf den Literaturfunktionären vor, überall nur Feinde zu sehen. Solschenizyn führte weiter aus, dass die sowjetische Gesellschaft „schwer krank“ sei und nur eine „ehrliche und umfassende Transparenz“ zu ihrer Gesundung beitragen könne.

Am 8. Oktober 1970 erhielt Alexander Solschenizyn den Literaturnobelpreis. Er wurde mit der Auszeichnung für die „moralische Kraft“ gewürdigt, „mit der er die lebendige Tradition der russischen Literatur fortführt“. Die Preisverleihung rief eine Verleumdungskampagne gegen ihn in der sowjetischen Presse hervor. Solschenizyn reiste nicht zur Verleihungszeremonie nach Stockholm und begründete diese Entscheidung mit seiner Befürchtung, dass er während des Auslandsaufenthaltes seine Staatsbürgerschaft verlieren und nicht mehr in die Heimat zurückkehren könne. In einem zu den Feierlichkeiten der Preisverleihung gesandten Telegramm machte er auf die politischen Häftlinge in der Sowjetunion aufmerksam, die zur Verteidigung ihrer Freiheiten in den Hungerstreik getreten waren. Eineinhalb Jahre lang bemühte sich Solschenizyn darum, den Preis in Moskau entgegenzunehmen, aber die Behörden durchkreuzten im April 1972 endgültig diesen Plan, indem sie dem Vertreter der Schwedischen Akademie der Wissenschaften die Einreise in die UdSSR verweigerten.

Im Sommer 1971 veröffentlichte der Pariser Verlag YMCA-Press Solschenizyns neues Buch „August 1914“ (Avgust četyrnadcatogo), den ersten Band des Romanzyklus „Das rote Rad“ über den Krieg und die russische Revolution. Fortan widmete sich Solschenizyn hauptsächlich der Arbeit an diesem Epos, das er als seine Lebensaufgabe betrachtete.

Dieses Werk und der Einsatz Solschenizyns in der Öffentlichkeit spielten eine wichtige Rolle für die Entstehung der sowjetischen Dissidentenbewegung, obwohl sich Solschenizyn selbst fast nie an Gruppen und oppositionellen Vereinigungen beteiligte und es bevorzugte, allein zu agieren. Eine Ausnahme war seine Mitgliedschaft im *Komitee für Menschenrechte in der UdSSR (Komitet prav čeloveka w SSSR) ab Dezember 1970, über die er später jedoch öffentlich sein Bedauern äußerte. Ungeachtet dessen pflegte er Kontakte zu bekannten Dissidenten. Mitte der 60er Jahre lernte er die Brüder Schores und Roi Medwedew kennen. Solschenizyn teilte deren Antistalinismus und unterschrieb im Juni 1970 einen offenen Protestbrief für Schores Medwedew, der in ein psychiatrisches Krankenhaus eingewiesen worden war. Mitte der 70er Jahre führten Meinungsunterschiede mit den Medwedew-Brüdern, die oppositionelle Kommunisten waren, zu einer deutlichen Abkühlung der Beziehung und zu scharfen polemischen Auseinandersetzungen mit ihnen. Solschenizyn traf sich auch mit Pjotr Grigorenko, hatte jedoch zu dessen Engagement für die Menschenrechte ein ambivalentes Verhältnis. An Andrei Sacharow schrieb er einen Brief, in dem er auf dessen politischen Essay „Gedanken über Fortschritt, friedliche Koexistenz und geistige Freiheit“ (Razmyšlenia o progresse, mirnom sosuščestvovanii i intelekualnoj svobode) Bezug nahm. Er schätzte diese freie, öffentliche Stellungnahme sehr, kritisierte Sacharow aber dafür, dass er nicht entschieden genug mit der sozialistischen Ideologie gebrochen habe. Die im Memorandum entwickelte Idee einer Konvergenz von Kommunismus und Kapitalismus bezeichnete Solschenizyn als utopisch. Der Appell von Roi Medwedew, Andrei Sacharow und Walentin Turtschin „An die Führer von Partei und Regierung“ (K rukovoditeljam partii i pravitel‘stva), in dem diese für gemäßigte liberal-demokratische Reformen von oben plädierten, rief noch stärkeren Widerspruch Solschenizyns hervor.

Sein Essayband *„Stimmen aus dem Untergrund“ (Iz-pod glyb) war eine polemische Entgegnung auf Andrei Sacharows Memorandum „Gedanken über Fortschritt, friedliche Koexistenz und geistige Freiheit“. In seinem Buch „Die Eiche und das Kalb“ schrieb Solschenizyn außerdem, Sacharow seien einige seiner Äußerungen und Aktivitäten von Liberalen innerhalb der Menschenrechtsbewegung aufgezwungen worden, allen voran von Waleri Tschalidse. Es kann davon ausgegangen werden, dass Solschenizyns „Brief an die sowjetische Führung“ (Pismo voždjam Sovetskogo Sojuza), in dem er seine politischen Vorstellungen darlegte, eine Alternative zum Appell von Roi Medwedew, Andrei Sacharow und Walentin Turtschin sein sollte. Später kam es zwischen Solschenizyn und Andrei Sacharow zu einem heftigen Streit. Solschenizyn kritisierte Andrei Sacharow dafür, dass er dem Recht auf Auswanderung unverhältnismäßig viel Aufmerksamkeit schenke, obwohl es seiner Meinung nach eine zweitrangige Bedeutung für die Zukunft Russlands besitze. Bis Mitte der 70er Jahre hielt sich Solschenizyn jedoch mit direkter öffentlicher Kritik an Andrei Sacharow und anderen Publizisten der liberal-demokratischen Strömung und der Menschenrechtsbewegung zurück. Über einige Initiativen der Menschenrechtsbewegung, vor allem über die *„Chronik der laufenden Ereignisse“, äußerte er sich sogar anerkennend.

Im August 1973 begann in der sowjetischen Presse eine neue Hetzkampagne gegen Solschenizyn und Andrei Sacharow. Im Artikel „Die Welt und die Gewalt“ (Mir i nasilie), der eine Ergänzung seines Nobelpreisvortrages war, schlug er Andrei Sacharow für den Friedensnobelpreis vor, mit dem dieser im Oktober 1975 tatsächlich ausgezeichnet wurde.

Am 4. August 1973 wurde die Sekretärin Jelisaweta Woronjanskaja vom Leningrader KGB zur Vernehmung abgeführt. Solschenizyn hatte ihr über einen Bekannten, den Literaturwissenschaftler Efim Etkin, einige Manuskripte zum Abschreiben gegeben. Nach fünf Tagen intensiver Verhöre gab die 67-Jährige schließlich die Adresse des Hauses preis, in dem die Kopien der Manuskripte aufbewahrt wurden. Trotz Solschenizyns Warnung hatte sie auch jeweils ein Exemplar für sich selbst behalten. Am 23. August beging Jelisaweta Woronjanskaja Selbstmord. In der angegebenen Wohnung wurde eine Hausdurchsuchung vorgenommen und das am besten versteckte Buchmanuskript Solschenizyns fiel in die Hände der Sicherheitsorgane: der *„Archipel Gulag“.

Die Idee für *„Archipel Gulag“, den Solschenizyn als „Versuch einer literarischen Aufarbeitung“ bezeichnete, entstand noch während seiner Lagerhaft. Ab 1964 arbeitete er an seinem immensen Werk über das sowjetische Gefängnis- und Lagersystem, über die Geschichte des staatlichen Verfolgungsapparates und über den Terror, der von 1917 bis 1956 vom sowjetischen Regime ausgeübt worden war. Tausende Briefe, Erinnerungen und Dokumente, die er von ehemaligen Häftlingen der stalinistischen Lager und ihren Verwandten nach Veröffentlichung von „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“ zwischen 1962 und 1964 erhalten hatte, bildeten einen weiteren Impuls für die Wahl des Themas. Bei der Verwirklichung halfen ihm Dutzende anonyme Freiwillige, die Materialien in Archiven und Bibliotheken sammelten, handschriftliche Briefe, Tagebücher und Erinnerungen übertrugen, zusammengetragene Informationen präzisierten und überprüften sowie Manuskriptseiten vervielfältigten und vor der Geheimpolizei versteckten. Trotz der großen Zahl an Mitarbeitern gelang es, das Vorhaben vor dem KGB geheim zu halten. 1967 war die Hauptarbeit abgeschlossen. Die drei Bände des *„Archipel Gulag“, die zusammen etwa 2.000 Seiten umfassten, waren in Reinform niedergeschrieben. Ein Exemplar wurde in den Westen mit der Maßgabe gebracht, es nicht zu Lebzeiten des Verfassers ohne seine ausdrückliche Genehmigung zu veröffentlichen, die anderen Exemplare wurden im Land versteckt.

Nach der Konfiszierung des Exemplares, das Jelisaweta Woronjanskaja aufbewahrt hatte, gab Solschenizyn die Anweisung zum Druck des Buches, die er mit folgendem kurzen Kommentar versah: „Schweren Herzens hielt ich die Veröffentlichung des bereits fertigen Textes zurück. Die Verpflichtung gegenüber den Lebenden war wichtiger als die Verpflichtungen gegenüber jenen, die gestorben sind. Aber jetzt, wo die Sicherheitsorgane das Buch ohnehin an sich gerissen haben, bleibt mir nichts anderes, als es umgehend zu veröffentlichen.“

Im Dezember 1973 erschien der erste Band von *„Archipel Gulag“ im Pariser Verlag YMCA-Press. Dank der Sendungen westlicher Rundfunkanstalten wurde das Buch auch in der Sowjetunion für Hörer zugänglich, wo es einen überwältigenden Eindruck hinterließ und auch jene erschütterte, die selbst Verfolgungen ausgesetzt gewesen waren.

*„Archipel Gulag“ war der wichtigste Versuch, die Grundlage für ein neues nationales Geschichtsbewusstsein zu legen und dem offiziellen Geschichtsbild, das auf Verschweigen und Unwahrheit beruhte, eine Alternative entgegenzusetzen. Diese neue Geschichtsschreibung entstand aus der Verbindung zweier voneinander getrennter Strömungen der Erinnerung an den Terror: aus der unmittelbaren persönlichen Erfahrung der Zeugen und Opfer sowie aus der kritischen Interpretation bisher verschwiegener historischer Tatsachen, die Ende der 50er bis Anfang der 60er Jahre in zahlreichen Texten des Samisdat stattgefunden hatte. Beide Aspekte verband Solschenizyn mit Hilfe von emotionalen und gleichzeitig sorgfältig durchdachten literarischen Kommentaren.

Den umfassenden Einblick in die jüngste Geschichte, den die Leser unabhängig von ihrer Meinung zu den ideologischen Überzeugungen oder geschichtsphilosophischen Ansichten Solschenizyns gewannen, war entscheidend für den tiefen Eindruck, den *„Archipel Gulag“ in der Sowjetunion hinterließ. Die Tatsache, dass Mitte der 70er Jahre der Mythos von der heroischen Vergangenheit die abgenutzte marxistische Ideologie verdrängt hatte und praktisch zur einzigen Legitimationsquelle des Regimes geworden war, verstärkte diesen Eindruck noch.

Bis in die letzten Jahre der Perestroika hinein war *„Archipel Gulag“ einer der begehrtesten Texte des Samisdat, dessen Besitz auch am strengsten bestraft wurde. Wurde das Buch bei einer Hausdurchsuchung beschlagnahmt, drohte für die Lektüre oder Aufbewahrung der Verlust des Arbeitsplatzes oder die Relegation von der Hochschule und für dessen Verbreitung oder Vervielfältigung sogar Verhaftung und ein Gerichtsprozess. Ungeachtet dessen wurden Exemplare ausländischer Auflagen in die UdSSR eingeschmuggelt und vor Ort hundertfach fotografisch vervielfältigt oder auf Schreibmaschinen abgetippt. 1974 und 1975 ließ Swiad Gamsachurdia in Georgien den *„Archipel Gulag“ illegal drucken, was in der Geschichte des Samisdat einmalig war.

*„Archipel Gulag“ wurde in viele Sprachen übersetzt und war damit ein Buch mit den höchsten Auflagenzahlen. In der westlichen Welt, wo der Kommunismus als Weltanschauung in seiner ursprünglichen Form weiterhin lebendig war, hinterließ das Buch als glaubwürdiges Zeugnis und unbestreitbarer Beweis für den Preis und die Folgen des kommunistischen Experiments einen schockierenden Eindruck. Die russische Abkürzung „Gulag“ für „Hauptverwaltung der Lager“ (Glavnoe upravlenie lagerej) wurde zum feststehenden Begriff und ging neben Bezeichnungen wie „Auschwitz“ oder „Hiroshima“ in den internationalen Wortschatz als ein Synonym für politisch verursachte humanitäre Katastrophen ein.

Kurz nach Veröffentlichung des ersten Bandes begann im Januar 1974 eine erneute Pressekampagne gegen Solschenizyn. Er wurde als Verräter, Judas und sogar als „Wlassow-Soldat der Literatur“ beschimpft; die Zeitungen druckten „Briefe von Arbeitern“ ab, in denen die Bestrafung des Verräters verlangt wurde.

Am 7. Februar 1974 fiel auf der Sitzung des Politbüros der KPdSU die Entscheidung über das weitere Schicksal Solschenizyns. Das offizielle Protokoll vermerkte zunächst noch, er solle „nur“ strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden. Fünf Tage später holte man Solschenizyn dann tatsächlich gewaltsam aus seiner Moskauer Wohnung, sperrte ihn ins Lefortowo-Gefängnis und klagte ihn nach *Artikel 58, Paragraf 1 Strafgesetzbuch der RSFSR wegen Vaterlandsverrats an. Auf Beschluss des Präsidiums des Obersten Sowjets wurde Solschenizyn dann jedoch die sowjetische Staatsbürgerschaft entzogen und er wurde des Landes verwiesen. Am 13. Februar 1974 schob man ihn im Flugzeug nach Westdeutschland ab. Ende März reiste auch seine Frau zusammen mit den gemeinsamen Kindern aus. Ihr gelang es, einen Großteil der literarischen Materialsammlung ihres Mannes mitzunehmen. Die sowjetische Zensur wies nicht nur an, alle Bücher Solschenizyns aus den Bibliotheken zu entfernen, sondern auch diejenigen Ausgaben von Zeitschriften, in denen seine Werke veröffentlicht worden waren.

Für den Fall seiner Verhaftung oder Abschiebung hatte Solschenizyn bereits zuvor mehrere Erklärungen vorbereitet. Am Tag seiner Verhaftung gab er bekannt, dass er jedes Gerichtsurteil über Literatur für illegitim erachte und eine Bestrafung nicht akzeptiere. Ein zweiter Text enthielt seine berühmte Losung „Leben ohne Lüge!“ (Žyt‘ nie po lžy!), die eine immense Bedeutung für die Bewusstseinsbildung der sowjetischen Intelligenz hatte. Solschenizyn entwickelte darin eine besondere Strategie des zivilen Ungehorsams, die sowohl den Boykott der verlogenen Zwangsrituale auf Versammlungen, Kundgebungen und Demonstrationen als auch eine Ermutigung zur Verfassung unzensierter Bücher und Artikel enthielt. Diese dem Anschein nach moderaten Forderungen liefen im Wesentlichen darauf hinaus, die Gesellschaft zu ermutigen, sich zahlreichen Regeln des Regimes zu widersetzen. Als Beweis dafür, dass ein Leben ohne Lüge möglich ist, zählte Solschenizyn Beispiele widerständigen Verhaltens sowjetischer Dissidenten und die Entwicklung in der tschechoslowakischen Gesellschaft auf.

Solschenizyns Losung von einem Leben ohne Lüge blieb für viele Jahre in der liberalen sowjetischen Intelligenz populär. Auch wenn sie nicht als Anleitung zum konkreten Handeln taugte, diente sie doch zumindest als Erklärung für das Phänomen der Dissidentenbewegung. Unter den Oppositionellen wurde Solschenizyns Losung aber auch zurückhaltend aufgenommen, da es ihnen fremd war, andere zu etwas aufzurufen. Einige Dissidenten, die Solschenizyn nahe standen, unterstützen jedoch seinen Appell und entwickelten dessen Programmatik weiter. Igor Schafarewitsch beispielsweise versuchte, die Idee eines Lebens ohne Lüge in dem Artikel „Hat Russland eine Zukunft?“ (Jest li u Rossii buduščee?) weiterzuentwickeln und gab im Samisdat unter dem Titel „Leben ohne Lüge“ eine Textsammlung mit Protesterklärungen gegen die Ausweisung Solschenizyns heraus.

Ein dritter Text Solschenizyns jener Zeit war der bereits erwähnte Brief an die Führung der Sowjetunion, der auch ein Programm für politische und soziale Reformen enthielt. Das Dokument war im September 1973 an die Staatsführung versandt und vorerst nicht der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden. Solschenizyn rief darin die politische Führung der UdSSR auf, ihr Monopol über die kommunistische Staatsideologie aufzugeben, zuzustimmen, dass sich die Mehrzahl der „peripheren Völker“ von der UdSSR löse und die Umwandlung Russlands in einen Nationalstaat voranzutreiben. Außerdem forderte er, auf die umfassenden Industrialisierungspläne und den Ausbau der großen Städte zugunsten der „Erneuerung des Volkes“ durch freie Landarbeit zu verzichten. Die Entwicklung des Nordostens und die Erschließung von schwach entwickelten Gebieten Sibiriens stellte Solschenizyn als ein besonderes nationales Projekt für Russland heraus. Im Austausch für die Garantie bürgerlicher Freiheiten schlug er vor, dass die politische Macht auf unbegrenzte Zeit in den Händen der „Sowjetführung“ verbleiben solle. Da Russland seiner Meinung nach für eine Demokratie nicht bereit sei, solle die kommunistische Diktatur durch einen gemäßigten Autoritarismus ersetzt werden. Dieses letzte Argument führte zu großen Kontroversen in der Opposition. Die national eingestellten Dissidenten überzeugte weniger die Taktik der Argumentation als vielmehr die Tatsache, dass ihr Misstrauen und ihre Skepsis gegenüber dem westlichen Demokratiemodell indirekt zum Ausdruck gebracht wurde. Prowestlich orientierte Oppositionelle waren hingegen von Solschenizyn enttäuscht.



Solschenizyns Brief an die Führung wurde durchgehend als Manifest des „aufgeklärten Nationalismus“ verstanden, der früher nur einen Randbereich der dissidentischen Vorstellungswelt ausgemacht hatte und nun unerwartet einen hochgeachteten Dissidenten als Führungsfigur erhielt. Ludmila Aleksejewa: „Der Brief zog eine deutliche Grenze zwischen den Anhängern der russischen Nationalbewegung und den Verteidigern der Menschenrechte, denen mehrheitlich die Idee des demokratischen Rechtsstaats vorschwebt.“

Trotz gegenteiliger politischer Meinung verurteilten zahlreiche Dissidenten einhellig die Verhaftung und Abschiebung Solschenizyns. Schon am 13. Februar 1974 wurde ein Dokument veröffentlicht, das später als *Moskauer Appell (Moskovskoe obraščenie) bekannt wurde. Neben selbstverständlichen, sich aus der Situation ergebenden Forderungen wie der Rückkehr Solschenizyns in die Sowjetunion, dem Ende der Repressionsmaßnahmen und der offiziellen Veröffentlichung von *„Archipel Gulag“ forderten die Verfasser auch die Offenlegung von Akten, die eine vollständige Bewertung des sowjetischen Terrorapparates erlauben würden, sowie die Gründung eines internationalen Tribunals zur Erforschung der Verbrechen des Regimes. Dieser Appell war der erste Text von Dissidenten, in dem in Anlehnung an Solschenizyn offen erklärt wurde, dass Bürgerinitiativen notwendig seien, um die jüngste Geschichte aus dem Geflecht der Propagandalügen zu befreien und sie aufzuarbeiten. Derartigen Forderungen sollte einige Jahre später während der Perestroika eine grundlegende Rolle zukommen.

Außer den genannten Texten sind zwei weitere Initiativen Solschenizyns zu nennen, die vor dessen Abschiebung vorbereitet und erst nach seiner Emigration verwirklicht wurden: 1972/73 bereiteten Solschenizyn und einige Mitstreiter – der Mathematiker Igor Schafarewitsch, der Literaturkritiker Felix Swetow, der Kunsthistoriker Wadim Borisow und Jewgeni Barabanow – einen Essayband zu religiös-philosophischen und historisch-politischen Themen vor. Der Band mit dem Titel *„Stimmen aus dem Untergrund“ stellte sich in die Tradition des Sammelbandes „Wegzeichen“ (Vechi) von 1909 und sollte zur geistigen Erneuerung der russischen Intelligenz beitragen. Er erschien 1974 in Paris und wurde zu einem wichtigen Manifest des christlich-orthodoxen nationalen Flügels der Dissidenten. Die Anthologie enthielt drei Texte von Solschenizyn: Den Artikel von 1969 mit dem Titel „Wenn Atmung und Bewusstsein zurückkehren“ (Na vozvratie dychanija i soznanija), den historisch-philosophischen Essay „Reue und Selbstbeschränkung als Kategorien des nationalen Lebens“ (Raskajanie i samoograničenie kak kategorii nacionalnoj žyzni) vom November 1973, in dem er vorschlug, die geschichtlichen Ereignisse einzelner Völker nach moralischen Kategorien zu beurteilen, sowie den Artikel „Gebildetenpack“ (Obrazovanščina) vom Januar 1974 über die russische Intelligenz, ihre Entartung und Verwandlung in eine seelenlose, feige und berechnende Masse.

Dieser letzte Artikel stand am deutlichsten in der Tradition der „Wegzeichen“ und stellte eine scharfe Kritik an den prowestlich orientierten Publizisten des Samisdat dar, vor allem an Grigori Pomeranz, Boris Schragin, Wladimir Kromer und Gerzen Kopylow, die ihre ganze Hoffnung auf die Intelligenz setzten. Solschenizyn zufolge würden sie lediglich für wirkungslose und risikofreie Formen des Widerstandes werben. Ihrer pädagogischen Mission fehle es an religiöser Fundierung. Selbst wenn sie sich auf die Religion bezögen, würden sie doch die Volksfrömmigkeit verachten und – wie alle Liberalen – das Volk von oben herab und mit Geringschätzung behandeln.

Die zweite Initiative Solschenizyns war die Einrichtung des *Hilfsfonds für politische Häftlinge und ihre Familien und die Spende eines Teils der Honorare, die er für die Publikation des *„Archipel Gulag“ im Ausland erhalten hatte. Im Winter 1973/74 traf sich Solschenizyn mit Alexander Ginsburg und bot ihm an, die Leitung des Fonds zu übernehmen, dessen Gründung im Frühjahr 1974 öffentlich bekannt gegeben wurde. Später beschränkte sich die persönliche Beteiligung Solschenizyns darauf, dass er die Einkünfte aus den Nachauflagen des *„Archipel Gulag“ spendete. Der *Hilfsfonds für politische Häftlinge und ihre Familien wurde zu einer der wirkungsvollsten dissidentischen Organisationen, für die Dutzende Personen tätig waren. Für viele Menschen in der Sowjetunion der 70er und 80er Jahre stand er nicht nur für konkrete materielle Hilfe, sondern auch für die Solidarität mit den Verfolgten. Hunderte Familien, die von politischen Repressionen betroffen waren, konnten seine Mittel in Anspruch nehmen.

Im Exil ließ sich Solschenizyn zunächst in der Schweiz nieder und ab 1976 dann im US-Bundesstaat Vermont. 1974–76 erschien der zweite und dritte Band von *„Archipel Gulag“, eine Auswahl von Fragmenten aus „Das rote Rad“ unter dem Titel „Lenin in Zürich“ sowie die bereits vor seiner Abschiebung entstandenen, seine literarische Karriere beschreibenden Erinnerungen „Die Eiche und das Kalb“.

Solschenizyn setzte auch in den USA seine schriftstellerische Arbeit fort, beteiligte sich an den politischen und kulturellen Debatten in Exilzeitschriften, wobei er sich als Vertreter eines gemäßigten Nationalismus und als entschiedener Kritiker prowestlicher, liberaler Projekte der russischen Intelligenz profilierte, der die Rückkehr zu den vom Christentum definierten ewigen Wahrheiten befürwortete. Besonders entschieden kamen seine Ansichten in einer öffentlichen Debatte mit dem Philosophen und liberalen Dissidenten Grigori Pomeranz und dem Schriftsteller Andrei Sinjawski zum Ausdruck, als er unter anderem den programmatischen Artikel „Unsere Pluralisten“ (Naši pluralisty) verfasste. In seinen später herausgegebenen Erinnerungen „Zwischen zwei Mühlsteinen“ (Ugodilo sernyško promeš dvuch šernovov) widmete Solschenizyn dieser Diskussion viel Raum.

Während der Perestroika wurde begonnen, Solschenizyn auch in Russland zu verlegen. Im August 1990 bekam er die sowjetische Staatsbürgerschaft zurück und im September 1991 informierte ihn die Staatsanwaltschaft, dass das 1974 gegen ihn eröffnete Strafverfahren wegen Vaterlandsverrates eingestellt werde.

Im Mai 1994 kehrte Alexander Solschenizyn nach Russland zurück. Er flog nach Magadan und unternahm eine zweimonatige Zugreise von Wladiwostok nach Moskau, die er in den größeren Städten unterbrach, um sich mit den Menschen zu treffen. Die wichtigste politische Stellungnahme Solschenizyns in den 90er Jahren war der Artikel „Wie soll Russland wiederaufgebaut werden?“ (Kak nam obustroit Rossiju?) von 1990, der jedoch kaum Reaktionen hervorrief. Später trat Solschenizyn nicht mehr mit politischen Stellungnahmen in Erscheinung, traf sich jedoch mehrmals privat mit den russischen Präsidenten Boris Jelzin und Wladimir Putin.

Die Realität des postkommunistischen Russland bewertete Solschenizyn entschieden negativ. Seinen Standpunkt legte er 1998 in dem Buch „Russland am Abgrund“ (Rossija w obvale) dar. Im Dezember 1998 verweigerte er die Annahme der wichtigsten Auszeichnung Russlands, des Ordens des Heiligen Andrei, mit dem ihn der russische Präsident zu seinem 80. Geburtstag ehren wollte. Seine Entscheidung begründete er mit der katastrophalen Situation des Landes, für die er die politische Führung verantwortlich machte. Ab Mitte der 90er Jahre widmete Solschenizyn politischen Angelegenheiten immer weniger Aufmerksamkeit und konzentrierte sich auf sein literarisches Schaffen.

1997 wurde Solschenizyn Vollmitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften in der Sektion Literatur und Sprache. 2000/01 gab er mit „Zweihundert Jahre zusammen 1795–1995“ (Dvesti lat vmeste 1795–1995) ein Buch über die Geschichte der russisch-jüdischen Beziehungen heraus.

Alexander Solschenizyn starb 2008 in Moskau.


Alexander Daniel, Dmitrij Subarew, Nikolai Mitrochin
Aus dem Polnischen von Tim Bohse
Letzte Aktualisierung: 03/16

Information

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