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In der Kategorie BioLex sind drei wichtige Lexika mit über 5500 Biografien von überzeugten Kommunistinnen und Kommunisten, Renegatinnen und Dissidenten im Volltext recherchierbar.

 

Das Handbuch „Deutsche Kommunisten. Biographisches Handbuch 1918 bis 1945“ wird von Andreas Herbst und Hermann Weber in der 8. aktualisierten Ausgabe herausgegeben. Auf breiter Quellenbasis werden die Schicksale deutscher Kommunisten knapp geschildert, von denen etwa ein Drittel während der NS-Diktatur und durch den Stalinistischen Terror gewaltsam ums Leben kam.

Kurzbiografien zu Personen des politischen Lebens in der DDR stellt das von Helmut Müller-Enbergs, Jan Wielgohs, Dieter Hoffmann, Andreas Herbst, Ingrid Kirschey-Feix herausgegebene Lexikon ostdeutscher Biographien „Wer war wer in der DDR?“ Ch. Links Verlag, 5. Aufl. 2010 bereit.

Zudem ist das Online-Lexikon www.dissdenten.eu ebenfalls auf unserer Seite aufrufbar. Die über 700 Biografien mit umfangreichen Informationen zu Oppositionellen, Bürgerrechtlern und  Dissidenten aus vielen Ländern Ost- und Mitteleuropas werden laufend erweitert.

 

Wer war wer in der DDR?

Stötzer, Gabriele

* 1953




Während ihrer politischen Haft unter Kriminellen und Mörderinnen im Frauenzuchthaus Hoheneck/Stollberg beschloss Gabriele Stötzer 1977, Schriftstellerin zu werden. In den 80er Jahren beeinflusste sie als zentrale Gestalt der Erfurter Subkultur mit ihrer radikalen, schonungslosen Offenheit die unabhängige Kunstszene der späten DDR. Am 4. Dezember 1989 gehörte die Künstlerin in Erfurt zu jenen vier Frauen, die die erste Besetzung einer Bezirksverwaltung der Staatssicherheit organisierten und damit republikweit das Signal zur Sicherung der Stasi-Akten gaben. Eine politische Karriere lockte sie danach nicht. Wichtig war und ist ihr ihre künstlerische Unabhängigkeit – auch in ihrem Engagement gegen Entmündigung und Reglementierung heute. „Indem ich Kunst mache und schreibe, erreiche ich unerwartete Ebenen, in denen ich glücklich bin“, sagt Gabriele Stötzer über sich. Ein banaler Satz, stünde hinter ihm nicht eine außerordentliche Biografie.

Am 14. April 1953 wurde Gabriele Stötzer im Dorf Emleben unweit von Gotha geboren. Nach ihrer Lehre arbeitete sie als medizin-technische Assistentin in Erfurt und machte ihr Abitur im Abendstudium. 1973 heiratete sie und trug nach ihrer Scheidung 1979 bis 1991 den Namen Kachold. 1973 begann sie ein Studium für Deutsch und Kunsterziehung an der Pädagogischen Hochschule Erfurt. Nach ihrer Solidarisierung mit dem exmatrikulierten Kommilitonen Wilfried Linke – er hatte sich für einen weniger dogmatischen Marxismus-Leninismus-Unterricht eingesetzt – erfolgte 1976 auch ihre Exmatrikulation.

Im November 1976 wurde sie nach ihrer Unterschrift gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann als „Rädelsführerin“ verhaftet. Ihre Weigerung zu „tätiger Reue“ und Rücknahme der Unterschrift brachte ihr fünf Monate Untersuchungshaft ein. In den Verhören sprach sie offen aus, was sie dachte, erfüllte damit den DDR-Tatbestand der „Staatsverleumdung“ und wurde zu einem Jahr Strafvollzug ohne Bewährung verurteilt.

Es sollte 25 Jahre dauern, ehe die heute in Erfurt und Utrecht lebende Schriftstellerin im Schutz der dritten Person ihre Erfahrungen über das ehemalige sächsische Staatsgefängnis, dem wegen seiner Härte in der DDR berüchtigten Frauenzuchthaus Burg Hoheneck, niederschrieb.

Weil sie im Gegensatz zu anderen politischen Häftlingen die DDR nicht verlassen wollte, fand sie sich in der Gefängnishierarchie weit unten – in einer Zelle zusammen mit Kriminellen. 22 Frauen in einem „Verwahrraum“, auf engstem Raum. Bei guter Führung gab es die Erlaubnis, wöchentlich einen zensierten Brief zu schreiben, monatlich einen „Sprecher“, getrennt durch eine Glasscheibe, zu haben, jeden Monat ein kleines Paket zu bekommen. Bei erfüllter Arbeitsnorm, das waren im Dreischichtbetrieb täglich 650 genähte Strumpfhosen, durfte sie für 40 Mark im Monat Lebensmittel, Toilettenartikel und Bohnenkaffeemarken eintauschen.

Gabriele Stötzers Buch „Die bröckelnde Festung“ (2002) ist ein faktenreicher Bericht über den drastischen Alltag in dieser „Mörderburg“ und zugleich eine sehr intime Schilderung innerer Selbstfindung. Es beschreibt hautnah den subtilen Druck zur Normerfüllung, die Hierarchie in den verschlossenen, schlecht geheizten Zellen, die Zweckbündnisse der Frauen, ihre Liebesverhältnisse, Eifersucht, Kämpfe und Versöhnungen, ihre Träume von Amnestie – oder davon, wenigstens einmal in die Stadt zum Konditor gehen zu können, sowie die Unmöglichkeit, der täglichen Akkordarbeit zu entgehen, außer durch Einweisungen in die Krankenstation oder Suizid.

Aus dem Gefängnis entlassen, wehrte sich Gabriele Stötzer-Kachold gegen die verordnete Ohnmacht, indem sie ihre Erlebnisse, Ängste, Hoffnungen notierte. Ihre Haftberichte kursierten als Schreibmaschinenabschriften unter der Hand. Unangemeldet besuchte sie Christa Wolf. Über die Begegnung ist in deren Erzählung „Was bleibt“ nachzulesen: „Wer schickte die? Das Mädchen kramte in seiner Umhängetasche und zog endlich ein paar Blätter daraus hervor, ein Manuskript, das war der Anlass für ihren Besuch. Ich las die Blätter sofort. […] Ich sagte, was sie da geschrieben habe, sei gut. Es stimme. Jeder Satz sei wahr. Sie solle es niemanden zeigen. Diese paar Seiten könnten sie wieder ins Gefängnis bringen.“

Nach zweijähriger Arbeit „zur Bewährung“ in einer Schuhfabrik übernahm Gabriele Stötzer-Kachold 1980 die private „Galerie im Flur“ in Erfurt, die alternative Künstler erst aus Thüringen, später auch aus Dresden, Leipzig und Berlin ausstellte. Spitzelberichte, unter anderem von Sascha Anderson, führten 1981 zur Schließung der Galerie. „Aber“, sagt Gabriele Stötzer, „letztlich gelang es ihnen nicht, die kreative Potenz zu brechen.“ Von 1979 bis 1986 verfolgte das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) die Künstlerin im Operativen Vorgang „Toxin“ mit dem Ziel der erneuten Verhaftung, danach bis 1989 in der Operativen Personenkontrolle „Medium“. Stötzer beeinflusste maßgeblich die Erfurter und auch die unabhängige DDR-Kunstszene, durchbrach radikal sozialistisch-kleinbürgerlich-dogmatische Tabus. Sie fotografierte, drehte erfolgreich Super-8-Filme – seit 1990 Videoprojekte – über feminine Selbstfindung. Dokumentiert sind sie in „Gegenbilder. Filmische Subversion in der DDR 1976–1989“ von 1996. Gegen drohende gesellschaftliche Isolierung erfand sie immer neue Handlungsräume und Aktionen. Seit 1983 trat sie mit einer von ihr gegründeten Frauen-Performance-Gruppe auf und veröffentlichte in den Untergrundzeitschriften „und“ in Dresden sowie „mikado“ und „ariadne“ in Berlin.

Stötzer lebte bewusst den Widerspruch zur vormundschaftlichen Gesellschaftsordnung, probte „außerstaatliche Lebensqualität“, machte die Kunst zum Medium für ihre Artikulation.

Ihr erster unter dem Namen Kachold von Gerhard Wolf herausgegebener Band „zügel los“ (1989) mit experimenteller Prosa und Prosagedichten verkörperte den Ausbruch aus der allgemeinen Agonie. Tagebuchartige Reflexionen, bisweilen im Rap-Rhythmus, vielfach drastisch exhibitionistisch und illustriert mit provozierenden Zeichnungen, setzten in „grenzen los fremd gehen“ (1992) den Aufbruch aus gesellschaftlicher Verkrustung aus unmittelbarer subjektiver Nähe fort.

Ihre Sprache in dieser Zeit war hart und direkt, Beschönigungen lehnte sie ab: „Erst habe ich gedacht, manches sei unaussprechbar. Dem habe ich widersprochen. Wenn man schon Knast sagen kann und nicht Strafvollzug, hängt das sicher mit der Härte zusammen, die existiert hat. Wobei die Mehrheit sagt: Mir ist nichts passiert. Ich habe die Härte nicht gespürt.“ Tatsächlich gibt es nur wenige Schriftstellerinnen aus der ehemaligen DDR, die ihre Erfahrungen so kompromisslos und authentisch in die Literatur einbringen wie Gabriele Stötzer.

Als 1988 die sowjetische Zeitschrift „Sputnik“ in der DDR verboten wurde, ging Stötzer in die Pathologie und beschrieb die Obduktion eines Mannes als Vorwegnahme der zu sezierenden Ordnung. Kurz darauf entwickelte sich im Herbst 1989 jene kaum vorhersehbare, von vielen Couragierten getragene Dynamik. Es entstand eine breite Bürgerbewegung. Um den Maler Matthias Büchner gruppierte sich das Erfurter Neue Forum. Die Psychologin Kerstin Schön, Gabriele Stötzer-Kachold und andere gründeten die Frauengruppe Frauen für Veränderung. In diesem Herbst sprach Gabriele Stötzer-Kachold auf den Erfurter Demonstrationen und holte im Januar 1990 „Biermann auf den Domplatz“.

Am Abend des 3. Dezember erreichte die Spitze des Neuen Forums, die bei Berlin in Grünheide tagte, die Information, der oberste Devisenbeschaffer der DDR, Alexander Schalck-Golodkowski, habe sich abgesetzt. Die Bürgerrechtler ergriffen die Initiative gegen die angelaufene Aktenvernichtung und Devisenveruntreuung, übermittelten per Telefon an Mitstreiter in allen Bezirken einen Aufruf, um Absetzbewegungen und Verschleierungsversuche zu verhindern. Matthias Büchner rief bei Manfred Ruge, dem späteren Oberbürgermeister von Erfurt, an. Noch in der Nacht wurde der Aufruf in der Stadt verbreitet.

Gabriele Stötzer erinnert sich: „Kerstin Schön weckte mich ganz früh am Morgen des 4. Dezember. Sie klingelte gegen 5.00 Uhr an der Tür und erklärte aufgeregt, es müsse etwas getan werden, die Stasi verbrenne seit Tagen Akten, das müsse gestoppt werden.“ Die führenden Bürgerrechtler Erfurts waren in Berlin, und so beschlossen die beiden Frauen spontan: „Die Stasi-Bezirksverwaltung muss besetzt werden.“ Zusammen mit Sabine Fabian und Claudia Bogenhardt liefen sie zunächst ins Rathaus, platzten in die außerordentliche Bürgermeisterwahl und verlangten, sofort die Aktenvernichtung durch die Staatssicherheit zu stoppen. „Es war ein eigenartiges Gefühl, als wir vier Frauen nach der entschieden vorgebrachten Forderung vor den ungläubig starrenden Abgeordneten standen. Die Runde schien beeindruckt. Sie erklärten, dass der Stadtrat für Inneres mit uns in Verhandlungen treten würde.“

Während Kerstin Schön und Sabine Fabian Arbeiter aus Großbetrieben zur Demonstration vor der Stasi-Zentrale in der Erfurter Andreasstraße mobilisierten, setzten Claudia Bogenhardt und Gabriele Stötzer-Kachold durch, dass der Bezirksstaatsanwalt den zuständigen Militärstaatsanwalt aus Berlin anforderte. „Die Zeit, bis er eintraf, war zu lang, wir drängten den Erfurter Bezirksstaatsanwalt mitzugehen, was er auch tat. Als wir in die Andreasstraße kamen, war der Stasi-Komplex von vielen Bürgern umstellt, die Bewacher hatten unter dem Andrang der Leute die Türen geöffnet, die ersten Leute hineingelassen. Die Menschen von draußen liefen beherrscht und vorsichtig durch die Etagen und stießen drinnen auf Chaos und Unordnung. Überall Akten, Schnipsel, in den Kellern brannten Öfen mit Papier. Wir versiegelten die Räume, in die von da ab keiner der aufgeregt herumirrenden Stasiangestellten mehr hinein durfte.“

Im Laufe des Nachmittags traf der Militärstaatsanwalt ein und versiegelte – nun rechtskräftig – die Türen. Bürgerrechtler organisierten die Bewachung der Räume und Sicherung der Akten. Aber vor allem waren es vier mutige Frauen, die in Erfurt mit ihrer spontanen Entscheidung zur ersten Besetzung einer MfS-Bezirksverwaltung Zeitgeschichte schrieben.

In der Zeit, in der Gabriele Stötzer täglich im Bürgerrat und Bürgerkomitee arbeitete, besetzte sie mit ihrer Künstlerinnengruppe ein vierstöckiges, stark sanierungsbedürftiges Haus in der Altstadt und etablierte darin das Erfurter Kunsthaus e. V. In ihrem Buch „erfurter roulette“ (1995) setzt sie die auseinanderdriftenden Interessen und neuen Spannungen dort so hintergründig wie drastisch in Szene.

Nach dem Ende der DDR erfolgte 1992 Gabriele Stötzers Rehabilitierung und Zuerkennung des Diploms. 1992 und 1994 unternahm sie Vortrags- und Lesereisen durch die USA. Nach wie vor schreibt sie und macht Kunst, Installationen und Objekte. Ihre Arbeit findet Anerkennung, was sich unter anderem an der Zahl der Stipendien, die ihr verliehen wurden, zeigt. 2013 wurde ihr für ihr bürgerrechtliches Engagement in der DDR und für ihre künstlerische Auseinandersetzung mit der Haft- und Diktaturerfahrung das Bundesverdienstkreuz verliehen. Heute lebt die Schriftstellerin in Erfurt und Utrecht.


Udo Scheer
Letzte Aktualisierung: 08/16

Information

Die Sonderzeichen * und # erscheinen lediglich aus technischen Gründen im Text. Auf der Ursprungs-Webseite dissidenten.eu finden sie weiterführende Links sowie die vollständige Version der Biografien mit Glossarerklärungen, Chroniken und ausführlichen Darstellungen der Oppositionsgeschichten aller Länder.