x

In der Kategorie BioLex sind drei wichtige Lexika mit über 5500 Biografien von überzeugten Kommunistinnen und Kommunisten, Renegatinnen und Dissidenten im Volltext recherchierbar.

 

Das Handbuch „Deutsche Kommunisten. Biographisches Handbuch 1918 bis 1945“ wird von Andreas Herbst und Hermann Weber in der 8. aktualisierten Ausgabe herausgegeben. Auf breiter Quellenbasis werden die Schicksale deutscher Kommunisten knapp geschildert, von denen etwa ein Drittel während der NS-Diktatur und durch den Stalinistischen Terror gewaltsam ums Leben kam.

Kurzbiografien zu Personen des politischen Lebens in der DDR stellt das von Helmut Müller-Enbergs, Jan Wielgohs, Dieter Hoffmann, Andreas Herbst, Ingrid Kirschey-Feix herausgegebene Lexikon ostdeutscher Biographien „Wer war wer in der DDR?“ Ch. Links Verlag, 5. Aufl. 2010 bereit.

Zudem ist das Online-Lexikon www.dissdenten.eu ebenfalls auf unserer Seite aufrufbar. Die über 700 Biografien mit umfangreichen Informationen zu Oppositionellen, Bürgerrechtlern und  Dissidenten aus vielen Ländern Ost- und Mitteleuropas werden laufend erweitert.

 

Wer war wer in der DDR?

Swerstjuk, Jewhen

* 1928 ✝ 2014




Jewhen Swerstjuk wurde 1928 in dem Dorf Sielec (Silze) im damals ostpolnischen Wolhynien geboren. Er wuchs in einer Bauernfamilie auf. Seine älteren Brüder gehörten dem Jugendverband der *Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) an. Einer kam während des Krieges ums Leben, der andere wurde für seine OUN-Mitgliedschaft mit Lagerhaft bestraft.

Nach seinem Studienabschluss an der Philosophischen Fakultät der Universität Lwiw 1952 nahm Jewhen Swerstjuk 1953 ein Promotionsstudium am Wissenschaftlichen Forschungsinstitut für Psychologie in Kiew auf. Bis 1959 lehrte er ukrainische Literatur am Pädagogischen Institut Poltawa. 1959–60 und 1962–65 arbeitete er am Wissenschaftlichen Forschungsinstitut für Psychologie in Kiew. Dazwischen leitete er 1961–62 die Prosaabteilung der Monatsschrift „Vitčyzna“. Von 1965 bis zu seiner Verhaftung 1972 war er verantwortlicher Redakteur der botanischen Zeitschrift „Ukrajins’kyj botaničnyj žurnal“. Seine Arbeitsstellen hatte er mehrfach wegen unliebsamer öffentlicher Meinungsäußerungen verloren. Auch zur Verteidigung seiner Doktorarbeit wurde er deshalb nicht zugelassen.

Als 1960 in Kiew der *Klub der schöpferischen Jugend gegründet wurde, gehörte Swerstjuk von Beginn an zu dessen aktivsten Mitgliedern. Er arbeitete eng mit anderen Vertretern der *Generation der Sechziger zusammen. Eine der am schärfsten formulierten und zugleich bei der Leserschaft äußerst populären Samisdat-Publikationen der 60er Jahre war die anonym erschienene Streitschrift „Über den Pohruschalskyj-Prozess“ (Z pryvodu procesu nad Pohružal’s‘kym). Die Verfasser thematisierten hier den durch einen Mitarbeiter vorsätzlich verursachten Brand in der Bibliothek der Kiewer Akademie der Wissenschaften, dem Tausende wertvolle Archivalien und Bücher zur ukrainischen Kultur den Flammen zum Opfer gefallen waren. Später wurde bekannt, dass der Text aus der Feder von Swerstjuk und Iwan Switlytschnyj stammte. Wichtige Ereignisse im ukrainischen Kulturleben waren auch die inoffiziellen Auftritte Swerstjuks, insbesondere 1963 seine Teilnahme an einem Gedenkabend für Wassyl Symonenko. Ein deutliches Zeichen des Widerspruchs war darüber hinaus der offene Brief an die Zeitung „Literaturna Ukrajina“ im Zusammenhang mit der Pressekampagne gegen Wjatscheslaw Tschornowil, der auch von Alla Horska, Lina Kostenko, Iwan Dsjuba und Wyktor Nekrassow unterzeichnet worden war. Große Verbreitung im Samisdat fanden verschiedene Essays Swerstjuks: „Eingerüsteter Dom“ (Sobor u ryštovanni) über den als antisowjetisch eingestuften Roman „Der Dom von Sataschipljanka“ (Sobor 1968, dt. Ausgabe 1974) von Oleksandr Hontschar, „Iwan Kotlarewski lacht“ (Ivan Kotlarevs’kyj smijet’sja), „Die letzte Träne“ (Ostannja sloza) und „Zum Muttertag“ (Na mamyne svjato). Als Leitgedanken der Publizistik Swerstjuks bezeichnete die Philologin und Dissidentin Mychajlyna Kozjubynska „die Akzentuierung der geistigen Grundelemente für die Herausbildung der Persönlichkeit, der Nation, der Gesellschaft und deren bedingungsloser Priorität im Wertesystem des gesellschaftlichen Lebens“.

In den 60er Jahren nahm Swerstjuk regelmäßig an halblegalen Literaturabenden sowie Zusammenkünften am *Taras-Schewtschenko-Denkmal am Jahrestag der Überführung der sterblichen Überreste des Dichters aus Sankt Petersburg in die Ukraine 1861 teil. Im September 1966 war er Teilnehmer einer inoffiziellen Gedenkveranstaltung in Babyn Jar bei Kiew, auf der an die 1941 von den deutschen Besatzern ermordeten Juden erinnert wurde. Am 7. Dezember 1970 hielt Swerstjuk die Grabrede für die unter mysteriösen Umständen ermordeten Künstlerin Alla Horska.

Im Zuge der *zweiten Verhaftungswelle wurde Swerstjuk am 14. Januar 1972 festgenommen. Die darauffolgenden Ermittlungen zogen sich über ein Jahr hin, die Verhandlungen fanden vom 16. bis 23. April 1973 statt. Das Bezirksgericht Kiew verurteilte ihn nach Artikel 62, Paragraf 1 Strafgesetzbuch der Ukrainischen SSR (entspricht *Artikel 70, Paragraf 1 Strafgesetzbuch der RSFSR) zur vorgesehenen Höchststrafe: sieben Jahre Freiheitsentzug und fünf Jahre Verbannung. Zu den ihm zur Last gelegten antisowjetischen Handlungen zählten die erwähnten Essays (vor allem „Eingerüsteter Dom“), aber auch seine Äußerungen von 1965 gegenüber Mitarbeitern des Schulwesens sowie Gespräche mit Bekannten und Freunden. Das Schlusswort des Angeklagten fand später Verbreitung im Samisdat.

Inhaftiert wurde Swerstjuk in den *Permer Lagern. 1974 unterschrieb er einen Brief politischer Gefangener an das Internationale Komitee des Roten Kreuzes, in dem es über die Haftbedingungen im Lager hieß, sie seien „vorsätzlich darauf ausgerichtet, die Gesundheit der Gefangenen zu gefährden“. Im Januar unterschrieb er eine Petition für Sergei Kowaljow, mit dem die Unterzeichner gegen politische Repressionen protestierten. Im November 1977 solidarisierte sich Swerstjuk mit einem Schreiben politischer Gefangener an den US-Kongressausschuss zur Kontrolle der Einhaltung der Schlussakte von Helsinki, mit der Bitte, die Haftbedingungen der politischen Gefangenen vor Ort zu begutachten. 1978 verfasste er selbst einige Briefe und Erklärungen im Zusammenhang mit dem zehnten Jahrestag des *Einmarsches von Truppen des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei und dem 60. Jahrestag des von den Bolschewiki 1918 erlassenen Dekrets über den Roten Terror (dessen Annullierung er verlangte) sowie anlässlich des internationalen Tages der Menschenrechte am 10. Dezember. Sein Verbannungsort war die Ortschaft Bagdarin  in der Burjatischen ASSR, wo er als Tischler bei einer geologischen Expedition beschäftigt war. Im Oktober 1983 konnte er nach Kiew zurückkehren.

Ab 1987 engagierte sich Swerstjuk in dem halblegalen *Ukrainischen Kulturologischen Klub. Erwähnenswert ist unter anderem sein Vortrag anlässlich des 50. Geburtstages von Wassyl Stus. Er kündigte an, den Vortragstext dem Internationalen PEN-Klub in London zu übermitteln. 1988 verlor er nach der Teilnahme an einem Empfang für sowjetische Dissidenten in der US-amerikanischen Botschaft seine Arbeit als Tischler, fand 1989 jedoch eine Redakteursstelle bei der christlichen Zeitung „Naša vira“. Hier war er Fürsprecher der *Ukrainischen Autokephalen Orthodoxen Kirche. Außerdem stand er an der Spitze der Ukrainischen Gesellschaft der Unabhängigen Schöpferischen Intelligenz, die seit 1989 den Wassyl-Stus-Literaturpreis verleiht. 1993 wählte ihn der ukrainische PEN-Klub zu seinem Vorsitzenden.

Obgleich er keiner politischen Organisation angehörte, hatte Swerstjuk großen Einfluss auf die national-patriotische Bewegung und deren ideelle Grundhaltung sowie die Bemühungen um eine geistige Wiedergeburt der Ukraine. In einem Referat zur *Generation der Sechziger und ihre Beziehung zum Westen, das er 1991 in den USA hielt, beschrieb er die historischen Wandlungsprozesse folgendermaßen: „Die weltbedrohende und in Verbrechen erstarrte, aggressive Macht des Kommunismus hat unerwartet von ihrer Methode der Manipulation und Einschüchterung von Menschen Abstand genommen. Sie ist geschrumpft, hat eine Wende um 180 Grad vollzogen und die Sprache der von ihr mit Häftlingsnummern versehenen, zu Tode gequälten und gepeinigten Opfer übernommen.“

1993 habilitierte Swerstjuk an der Ukrainischen Freien Universität in München mit einer philosophischen Arbeit über die Bezüge der ukrainischen Literatur zur christlichen Tradition. Er verfasste zahlreiche Essays und Aufsätze in den Bereichen Literaturwissenschaft, Psychologie und Religionswissenschaft, schrieb Gedichte und war Übersetzer deutscher, englischer und russischer Texte. 1995 wurde ihm der Taras-Schewtschenko-Preis verliehen, und 1996 wurde er ordentliches Mitglied der Ukrainischen Freien Akademie der Wissenschaften in den USA.

Jewhen Swertsjuk starb am 1. Dezember 2014 in Kiew.



Wolodymyr Kaplun
Aus dem Polnischen von Gero Lietz
Letzte Aktualisierung: 10/20

Information

Die Sonderzeichen * und # erscheinen lediglich aus technischen Gründen im Text. Auf der Ursprungs-Webseite dissidenten.eu finden sie weiterführende Links sowie die vollständige Version der Biografien mit Glossarerklärungen, Chroniken und ausführlichen Darstellungen der Oppositionsgeschichten aller Länder.