x

In der Kategorie BioLex sind drei wichtige Lexika mit über 5500 Biografien von überzeugten Kommunistinnen und Kommunisten, Renegatinnen und Dissidenten im Volltext recherchierbar.

 

Das Handbuch „Deutsche Kommunisten. Biographisches Handbuch 1918 bis 1945“ wird von Andreas Herbst und Hermann Weber in der 8. aktualisierten Ausgabe herausgegeben. Auf breiter Quellenbasis werden die Schicksale deutscher Kommunisten knapp geschildert, von denen etwa ein Drittel während der NS-Diktatur und durch den Stalinistischen Terror gewaltsam ums Leben kam.

Kurzbiografien zu Personen des politischen Lebens in der DDR stellt das von Helmut Müller-Enbergs, Jan Wielgohs, Dieter Hoffmann, Andreas Herbst, Ingrid Kirschey-Feix herausgegebene Lexikon ostdeutscher Biographien „Wer war wer in der DDR?“ Ch. Links Verlag, 5. Aufl. 2010 bereit.

Zudem ist das Online-Lexikon www.dissdenten.eu ebenfalls auf unserer Seite aufrufbar. Die über 700 Biografien mit umfangreichen Informationen zu Oppositionellen, Bürgerrechtlern und  Dissidenten aus vielen Ländern Ost- und Mitteleuropas werden laufend erweitert.

 

Wer war wer in der DDR?

Tarto, Enn

* 1938 ✝ 2021




Enn Tarto wurde 1938 in Tartu (Dorpat) geboren. 1944 wurde sein Vater verhaftet und in das Innere der Sowjetunion deportiert, wo er 1947 im Besserungsarbeitslager der sibirischen Stadt Norilsk starb.

Nach dem Ende seiner Schulzeit in Kõrveküla 1953 besuchte Tarto die Höhere Schule in Tartu, wo er zusammen mit anderen Schülern die Widerstandsgruppe „Estnische Jugendmannschaft“ gründete. Unter dem Pseudonym „Mart Kraav“ schrieb und verbreitete er Flugblätter, in denen er gegen die Niederschlagung der *Ungarischen Revolution von 1956 durch die sowjetische Armee protestierte. Zusammen mit anderen Mitgliedern der Gruppe wurde Tarto am 25. Dezember 1956 verhaftet. Am 13. März 1957 verurteilte ihn das Oberste Gericht der Estnischen SSR nach Artikel 58, Paragrafen 10 und 11 Strafgesetzbuch der RSFSR (siehe *Artikel 72 Strafgesetzbuch der RSFSR) zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren. Die anderen Angeklagten erhielten ein Strafmaß von zwei bis sieben Jahren.

Die Strafe verbüßte er in den *mordwinischen Lagern. Dort gehörte er zur illegalen Organisation „Adler“ und gründete zusammen mit anderen Häftlingen den „Estnischen Verband Neuer Nationalisten“ (siehe *Estnischer Bund der Nationalisten). Die Mitglieder dieser Gruppen nutzten die Zeit im Lager, um sich weiterzubilden und Pläne für die oppositionelle Arbeit nach der Rückkehr nach Estland zu entwickeln. 1958 schloss Tarto das Abendgymnasium ab. Am 21. Juni 1960 wurde er unter Auflagen freigelassen.

Fortan lebte er wieder in Tartu und arbeitete als Schreiner. 1961 bemühte er sich vergeblich um Aufnahme an die Universität. Er betätigte sich weiter im *Estnischen Bund der Nationalisten (Eesti Rahvuslaste Liit). Nach seiner erneuten Verhaftung am 26. Juni 1962 verurteilte ihn das Oberste Gericht der Estnischen SSR am 1. Dezember 1962 nach Artikel 58, Paragraf 2 Strafgesetzbuch der ESSR (siehe *Artikel 70 Strafgesetzbuch der RSFSR) sowie nach Artikel 207 Strafgesetzbuch der ESSR („illegaler Waffenbesitz“) zu fünfeinhalb Jahren Freiheitsentzug. Die Mitangeklagten Erik Udam, Talvo Uibo, Jarmo Kiik, Priit Silla und Valdo Reinart erhielten Freiheitsstrafen von drei bis sechs Jahren, die sie in den *mordwinischen Lagern verbüßten.

Wieder in Freiheit kehrte er nach Tartu zurück. 1959 nahm er ein Fernstudium der estnischen Philologie auf, wurde jedoch nach Interventionen des KGB nach zwei Jahren vom Studium ausgeschlossen. Daraufhin ging er wechselnden Tätigkeiten nach, bis er schließlich eine feste Anstellung als Heizer in einem Kesselwerk fand.

Ende der 60er Jahre wurde Enn Tarto zu einer der wichtigsten Persönlichkeiten der estnischen nationalen Bewegung, deren ideologische Richtung er prägte. 1977 beteiligte er sich an dem Versuch, das *Allgemeine Komitee der nationalen Bewegungen in Litauen, Lettland und Estland (Eesti-Läti-Leedu Rahvusliikumiste Peakomitee) ins Leben zu rufen. Im August 1979 unterschrieb er den *Baltischen Appell. Außerdem war er Verfasser bzw. Mitverfasser folgender Sammelappelle: der *Petition gegen den Einmarsch sowjetischer Truppen in Afghanistan vom 17. Januar 1980, des *Appells an das Internationale Olympische Komitee vom 28. Januar 1980 und des Protestes gegen die Verbannung von Andrei Sacharow am 3. Februar 1980. Er unterzeichnete das Glückwunschtelegramm vom 11. November 1980 an Lech Wałęsa, den Führer der polnischen *Solidarność, den Aufruf an die Regierungschefs der Sowjetrepubliken und nördlichen Länder vom 10. Oktober 1981 und den offenen Brief an die Bürger Finnlands vom 1. Oktober 1982. Er setzte sich vehement für die Verteidigung von Viktoras Petkus (am 14. November 1977), Romualdas Ragaisis (Anfang 1979), Tatjana Welikanowa, Gleb Jakunin, Antanas Terleckas (November 1979) und Mart-Olav Niklus (27. Juni 1980) ein. Außerdem war er aktiv an Hilfsaktionen für die Familien politischer Gefangener beteiligt. Er unterhielt Kontakte zu in Moskau akkreditierten westlichen Journalisten und informierte sie über die Lage in Estland. Im Frühjahr 1981 nahm er zusammen mit Lagle Parek, Eve Pärnaste, Arvo Pesti und Rünne Vissak am Begräbnis des im Straflager ums Leben gekommenen Jüri Kukk teil.

Tarto musste regelmäßig Hausdurchsuchungen und Verhöre über sich ergehen lassen. Die *Litauische Helsinki-Gruppe veröffentlichte am 26. Juni 1977 ein Dokument zu seiner Verteidigung. Am 13. September 1983 wurde er erneut verhaftet. Man warf ihm unter anderem die Beteiligung an der Herausgabe des Untergrundbulletins *„Lisandusi mõtete ja uudiste vabale levikule Eestis“ (Beitrag zum freien Ideen- und Informationsaustausch in Estland) vor. Am 19. April 1984 verurteilte ihn das Oberste Gericht der Estnischen SSR nach Artikel 68, Paragraf 2 Strafgesetzbuch der ESSR (siehe *Artikel 70 Strafgesetzbuch der RSFSR) zu einer Haftstrafe von zehn Jahren in den *Permer Lagern und zu fünf Jahren Verbannung. Im Dezember 1987, noch während seiner Zeit im Lager, wurde er zum Ehrenmitglied der Gruppe zur Bekanntmachung des *Hitler-Stalin-Paktes in der Öffentlichkeit ernannt. Nach turbulenten Demonstrationen für seine Freilassung in Tallinn konnte er das Lager am 14. Oktober 1988 verlassen.



Wieder in Freiheit setzte er sich aktiv für die Unabhängigkeit Estlands ein. Er wurde Bezirkssekretär des Estnischen Denkmalschutzvereins in Tartu und beteiligte sich 1989 an der Gründung von „Memento“, dem Verband der Opfer kommunistischer Repressionen, dessen Vorstand er bis 1992 angehörte. Tarto war Mitglied des *Kongresses Estlands und stellvertretender Vorsitzender des *Estnischen Komitees. Im August 1991 war er am Abschluss der Vereinbarung zwischen dem *Kongress Estlands und dem Obersten Sowjet der Estnischen SSR über die Wiederherstellung der unabhängigen Republik Estland beteiligt. 1991–92 war Tarto Mitglied der Verfassunggebenden Versammlung und von 1992 bis 2003 Abgeordneter im estnischen Parlament. Zusätzlich leitete er von 1992 bis 1995 das Estnische Institut für Menschenrechte und war von 1993 bis 2003 Vorsitzender des Ältestenrats des Freiwilligenverbandes der Armee „Estnischer Verteidigungsbund“ (Kaitseliit). Für seine Verdienste um Estland und die estnische Unabhängigkeit wurde er mit hohen nationalen Orden und internationalen Auszeichnungen geehrt.

Enn Tarto starb am 18. Juli 2021 in Tartu.



Viktor Niitsoo
Aus dem Polnischen von Beata Kosmala
Letzte Aktualisierung: 07/15

Information

Die Sonderzeichen * und # erscheinen lediglich aus technischen Gründen im Text. Auf der Ursprungs-Webseite dissidenten.eu finden sie weiterführende Links sowie die vollständige Version der Biografien mit Glossarerklärungen, Chroniken und ausführlichen Darstellungen der Oppositionsgeschichten aller Länder.