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In der Kategorie BioLex sind drei wichtige Lexika mit über 5500 Biografien von überzeugten Kommunistinnen und Kommunisten, Renegatinnen und Dissidenten im Volltext recherchierbar.

 

Das Handbuch „Deutsche Kommunisten. Biographisches Handbuch 1918 bis 1945“ wird von Andreas Herbst und Hermann Weber in der 8. aktualisierten Ausgabe herausgegeben. Auf breiter Quellenbasis werden die Schicksale deutscher Kommunisten knapp geschildert, von denen etwa ein Drittel während der NS-Diktatur und durch den Stalinistischen Terror gewaltsam ums Leben kam.

Kurzbiografien zu Personen des politischen Lebens in der DDR stellt das von Helmut Müller-Enbergs, Jan Wielgohs, Dieter Hoffmann, Andreas Herbst, Ingrid Kirschey-Feix herausgegebene Lexikon ostdeutscher Biographien „Wer war wer in der DDR?“ Ch. Links Verlag, 5. Aufl. 2010 bereit.

Zudem ist das Online-Lexikon www.dissdenten.eu ebenfalls auf unserer Seite aufrufbar. Die über 700 Biografien mit umfangreichen Informationen zu Oppositionellen, Bürgerrechtlern und  Dissidenten aus vielen Ländern Ost- und Mitteleuropas werden laufend erweitert.

 

Wer war wer in der DDR?

Templin, Wolfgang

* 1948




Geboren wurde Wolfgang Templin am 25. November 1948 in Jena. Seine Mutter, die 1944 als Luftwaffenhelferin aus Polen nach Jena kam und dort blieb, arbeitete als Raumpflegerin. Sein Vater war sowjetischer Offizier und musste 1950 in die Sowjetunion zurückkehren. Wolfgang Templin lernte ihn nie kennen. Als „Flüchtlings-“ und „Russenkind“ wurde er in der Schule zum Einzelgänger. Eine 1965 begonnene Lehre als Buchdrucker musste er aus gesundheitlichen Gründen abbrechen. Auf die früh erfahrene Ablehnung reagierte er mit einer „Null-Bock-Haltung“, von der ihn erst „kritische Genossen“ abbrachten, die er während seiner 1966 begonnenen Ausbildung an der Universitätsbibliothek in Jena kennenlernte. Seine neuen Mentoren brachten ihn auch in die Freie Deutsche Jugend (FDJ). Templin sagte später, er habe in dieser Zeit begonnen, seine Umwelt zu „missionieren“.

1968 ging Templin nach Ost-Berlin, studierte dort an der Fachschule für Bibliothekswesen und erwarb 1970 eine bedingte Hochschulreife. Er entschied sich für ein Philosophiestudium an der Humboldt-Universität und wurde – er war bereits SED-Mitglied – Parteigruppenorganisator. Damals noch ganz „Provinzei“ und „wenig mobil“ fungierte er in dieser Rolle als ideologischer und sozialer Kontrolleur seiner Mitstudenten. Insofern erachtete er die Zustimmung zur Mitarbeit für das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) 1971–75 unter dem Decknamen IM „Peter“ lediglich als geheimdienstliche Erweiterung seiner Parteifunktion. Probleme und Schwierigkeiten rechtfertigte er noch als Mängelerscheinungen eines insgesamt richtigen Wegs. Der Beginn der Honecker-Ära beförderte seinen Optimismus. 1974 beendete er sein Studium mit Diplom, arbeitete an der Humboldt-Universität weiter als Forschungsstudent und bereitete eine Dissertation über den Philosophen Edmund Husserl vor.

Zweifel an Idee und Praxis des Sozialismus begannen für Templin nicht mit dem *Einmarsch von Truppen des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei zur Niederschlagung des *Prager Frühlings, sondern erst mit den Weltjugendfestspielen 1973, an denen er organisatorisch beteiligt war. Der Austausch mit anderen Studenten über die massiven Behinderungen – etwa des Kontaktes mit Jugendlichen aus anderen Ländern – gaben den Anstoß für die Gründung einer konspirativ tätigen, trotzkistisch orientierten Studentengruppe (mit Klaus Wolfram, Wolfgang Nitsche und anderen), vor deren Mitgliedern Templin seine MfS-Tätigkeit offenbarte. Auf gemeinsamen Beschluss – der dem MfS sogleich von einem anderen Gruppenmitglied hinterbracht wurde – ließ Templin die Zusammenarbeit mit der Staatssicherheit auslaufen. In der Gruppe hatte man die Ausarbeitung einer marxistischen Kritik des Sozialismus im Sinn. Eine offen agierende Opposition strebte man nicht an.

Seine 1974 geschlossene Ehe mit Renate Karrer, einer Enkelin von Jürgen Kuczynski, ließ Templin zunehmend weniger Zeit für Geheimpolizei, SED und die studentische Konspiration. Die Möglichkeit eines Auslandsstudiums 1976/77 in Warschau ergriff er sofort, um der Enge der ideologischen Debatten an der Universität und in der Familie Kuczynski zu entgehen.

Der Aufenthalt in Warschau war über polnische Studenten aus dem kommunistischen Jugendverband organisiert worden, die auch zur polnisch-trotzkistischen Emigration im Westen Kontakte hielten. Diese polnische trotzkistische Gruppe hatte keine unmittelbare Verbindung zum „Komitee zur Verteidigung der Arbeiter“ (Komitet Obrony Robotników, *KOR), erstellte jedoch eigene kritisch-marxistische Analysen. Templin übersetzte sie in die deutsche Sprache und diskutierte sie in Berlin.

Während Templins Abwesenheit aus Berlin waren seine Mitstreiter bei der Organisierung einer Bücherlieferung durch Freunde aus West-Berlin ertappt worden. Parteiausschluss und „Bewährung in der Produktion“ waren für sie die Folgen. Templins Verbindung zu den gemaßregelten Freunden wurde ihm unter Verweis auf eine Aussage seiner Frau vorgehalten. Scheidung und Bruch mit der Familie waren die Folge, Templin wurde an die Akademie der Wissenschaften (AdW) versetzt, wodurch sich der Abschluss der Dissertation verzögerte

1977–83 arbeitete Templin als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentralinstitut für Philosophie der Akademie der Wissenschaften, sah sich aber „als freier Vogel in Prenzlauer Berg“, lernte nicht parteigebundene linksorientierte Menschen kennen, die ihren intellektuellen Interessen in der Theologieausbildung nachgingen, nebenher in kleineren „Hauskreisen“ und in Seminaren unter dem Dach der Kirche diskutierten. Unter anderen begegnete Templin Reinhard Schult und arbeitete im Friedenskreis der Ost-Berliner Evangelischen Studentengemeinde und im Naumburger Friedenskreis um Edelbert Richter mit. Bei einer kleineren Fahrraddemonstration lernte er seine spätere Frau Regina kennen, die gerade in Potsdam eine Gemeindepädagogenausbildung absolvierte. Bald unterhielt er persönliche Freundschaften quer durch die DDR, nach Polen und in den Westen.

In diesem Geflecht von Freundschaften, „Hauskreisen“ und kirchlichen Seminarveranstaltungen, die Templin meist als Referent besuchte, konnte er seinen intellektuellen und politischen Interessen weitaus besser nachgehen als in der SED. Er arbeitete sich in diesen Jahren aus dem teleologischen marxistischen Denken heraus, nannte sich 1991 in einem Vortrag einen „Grenzgänger zwischen Theorie und Politik“ und zog daraus unmittelbare Schlussfolgerungen: Im Gefolge der sich konstituierenden unabhängigen Friedensbewegung trat er aus der SED aus. Es folgten die Entlassung aus der Akademie der Wissenschaften und ein Berufsverbot. Templin musste seinen Lebensunterhalt fortan unter anderem als Putzhilfe, Waldarbeiter und Übersetzer verdienen. Wie aus den Stasi-Akten ersichtlich, wurde er jetzt verstärkt Maßnahmen der „Zersetzung“ unterworfen. Die Kontrolle, Unterwanderung und Zerstörung seines privaten und politischen Beziehungsgeflechts war das Ziel.

Mit den Stationierungen von Atomwaffen 1983 und einer großen Ausreisewelle aus der DDR 1984 gerieten die Friedenskreise der DDR in eine Krise, verschiedene Versuche ihrer Vernetzung und Koordinierung entstanden. Um gemeinsames Handeln und notwendige Absprachen weiter möglich zu machen, bereitete Templin mit anderen zusammen Ende 1985 ein Menschenrechtsseminar vor. Etwa 200 Einladungen quer durch die ganze DDR waren bereits ausgesprochen, als die Kirchengemeinde unter Druck ihre Raumzusage zurückzog. Das Seminar musste abgesagt werden.



Bereits während der Vorbereitung des Seminars war es zu schwerwiegenden Differenzen gekommen. Umstritten waren nicht nur die Behandlung des Themas, sondern auch die Durchführung des Seminars, die Einbeziehung westdeutscher Unterstützer, die Veröffentlichung von Arbeitsergebnissen und Erklärungen sowie das Verhältnis von konspirativer und öffentlicher Arbeit überhaupt. Über diese Fragen kam es zum Bruch innerhalb des Seminar-Vorbereitungskreises. Aus dem Streit entwickelte sich die Initiative Frieden und Menschenrechte (IFM) mit Wolfgang Templin, Bärbel Bohley, Gerd Poppe und anderen einerseits sowie die Gruppe „Gegenstimmen“ um Reinhard Schult, Thomas Klein und Silvia Müller andererseits. Das MfS schürte durch seine in den Gruppen mitarbeitenden inoffiziellen Mitarbeiter (IM) diesen Streit, um deren Aktivitäten zu behindern. Seine Ursachen hatte die Auseinandersetzung jedoch im unterschiedlichen Menschenrechtsverständnis der beteiligten Dissidenten. Während Reinhard Schult und andere das – aus ihrer Sicht – „bürgerliche Menschenrechtsverständnis“ der IFM kritisierten, bemängelte diese das Verharren Reinhard Schults und seiner Freunde in der konspirativ organisierten Zirkeltätigkeit. Das im Kern umstrittene Konzept fasste die IFM 1987 mit der Erklärung zusammen, man habe beschlossen, die in internationalen Abkommen garantierten Rechte wahrzunehmen.

Die Initiative Frieden und Menschenrechte dokumentierte dies durch die Herausgabe der Zeitschrift „Grenzfall“, deren Autoren mit Namen und Kontaktadressen kenntlich waren. Darüber hinaus war das Blatt nicht durch die Anbindung an eine Kirchengemeinde geschützt – andere Samisdat-Blätter erschienen damals mit dem Verweis „nur zum innerkirchlichen Gebrauch“, mit dem die staatliche Zensur umgangen werden konnte. In der IFM umstritten blieb Templins Zusammenarbeit mit einer sich „AG-Staatsbürgerrechte“ nennenden Gruppe von Ausreisewilligen, die sich DDR-weit konstituierte und die Ausreisewünsche ihrer Mitglieder unter Berufung auf international garantierte und auch von der DDR unterschriebene Menschenrechtsvereinbarungen betrieb.

Die Tätigkeiten der IFM – die Herausgabe der Zeitschrift, die Publikation von Erklärungen im Westen, die Erarbeitung von Arbeitsbeziehungen mit der westdeutschen Partei „Die Grünen“, die Zusammenarbeit mit Oppositionsgruppen in Osteuropa, die Herstellung vielfältiger Kontakte quer durch die DDR und die Einrichtung thematisch orientierter Arbeitsgruppen (für Bildung, Arbeit usw.) – sowie ihr zunehmender Einfluss auf Friedens- und Umweltgruppen in der DDR veranlassten SED und MfS im Winter 1987/88, die gewaltsame Zerschlagung der Gruppe zu versuchen.

Trotz ausgedehnter Planungen misslang das Vorhaben jedoch, die Drucker der unter kirchlichem Schutz stehenden „Umweltblätter“ bei der tatsächlichen Herstellung des „Grenzfall“ auf frischer Tat zu überraschen. Dass das MfS zu diesem Zweck im November 1987 die Räume der Ost-Berliner Zionskirche überfiel, rief landesweite Proteste mit Mahnwachen und Gedenkgottesdiensten hervor. Eine weitere Solidarisierungswelle mit Oppositionellen, die im Zusammenhang mit der offiziellen Luxemburg-Liebknecht-Demonstration im Januar 1988 verhaftet worden waren, löste einen DDR-weiten Mobilisierungszyklus aus, der letztlich in der Konstituierung politischer Oppositionsgruppen und Oppositionsparteien im Sommer und Herbst 1989 mündete.

Templin und seine Frau wurden zusammen mit anderen im Januar 1988 verhaftet, ihre Kinder brachte man in ein Heim, von der landesweiten Solidarisierungswelle erfuhren sie in der Haft nichts. Hinter den Kulissen einigten sich SED, Staatssicherheit und Kirche auf einen vorübergehenden – im Falle Templins auf zwei Jahre terminierten – „Studienaufenthalt“ des Paares mit Kindern in der Bundesrepublik, für den finanziell die evangelische Kirche aufkam. Templin war an dem Mobilisierungszyklus der Gruppen in den Jahren 1988/89 so nur aus der Ferne – er lebte derweil in Bochum – beteiligt.

Unmittelbar nach der Maueröffnung am 9. November 1989 kehrte Templin in die DDR zurück. Er saß später für die IFM am Zentralen Runden Tisch, war 1989–91 Sprecher der IFM, ab den freien Volkskammerwahlen im März 1990 Mitarbeiter der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und außerdem Mitglied des „Kuratoriums für einen demokratisch verfassten Bund Deutscher Länder“. Von September 1991 bis Mai 1992 war er hauptamtliches Mitglied des Gründungssprecherrates der Partei Bündnis ‘90, anschließend arbeitslos und Kritiker des 1992/93 abgeschlossenen Assoziationsvertrages zwischen Bündnis ‘90 und den Grünen. Er wirkte an der Gründung des Bürgerbüros zur Aufarbeitung von Folgeschäden der SED-Diktatur in Berlin mit, arbeitete als wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Stasi-Unterlagen-Behörde und war 2010–13 Büroleiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Warschau.

Bis heute lebt Wolfgang Templin als freier Publizist in Berlin, wobei sein Engagement neben der Aufarbeitung der kommunistischen Geschichte vor allem der Geschichte und Politik Ost- und Ostmitteleuropas gilt.



Ein Interview mit Wolfgang Templin gibt es im Online-Dossier „40 Jahre Solidarność“.
Dort auch: Wolfgang Templin im Gespräch mit Basil Kerski zum 40. Jahrestag der Ausrufung des Kriegsrechts in Polen.

Außerdem ist Wolfgang Templin im Zeitzeugenportal der Bundesstiftung Aufarbeitung vertreten.



Martin Jander
Letzte Aktualisierung: 09/16

Information

Die Sonderzeichen * und # erscheinen lediglich aus technischen Gründen im Text. Auf der Ursprungs-Webseite dissidenten.eu finden sie weiterführende Links sowie die vollständige Version der Biografien mit Glossarerklärungen, Chroniken und ausführlichen Darstellungen der Oppositionsgeschichten aller Länder.