x

In der Kategorie BioLex sind drei wichtige Lexika mit über 5500 Biografien von überzeugten Kommunistinnen und Kommunisten, Renegatinnen und Dissidenten im Volltext recherchierbar.

 

Das Handbuch „Deutsche Kommunisten. Biographisches Handbuch 1918 bis 1945“ wird von Andreas Herbst und Hermann Weber in der 8. aktualisierten Ausgabe herausgegeben. Auf breiter Quellenbasis werden die Schicksale deutscher Kommunisten knapp geschildert, von denen etwa ein Drittel während der NS-Diktatur und durch den Stalinistischen Terror gewaltsam ums Leben kam.

Kurzbiografien zu Personen des politischen Lebens in der DDR stellt das von Helmut Müller-Enbergs, Jan Wielgohs, Dieter Hoffmann, Andreas Herbst, Ingrid Kirschey-Feix herausgegebene Lexikon ostdeutscher Biographien „Wer war wer in der DDR?“ Ch. Links Verlag, 5. Aufl. 2010 bereit.

Zudem ist das Online-Lexikon www.dissdenten.eu ebenfalls auf unserer Seite aufrufbar. Die über 700 Biografien mit umfangreichen Informationen zu Oppositionellen, Bürgerrechtlern und  Dissidenten aus vielen Ländern Ost- und Mitteleuropas werden laufend erweitert.

 

Wer war wer in der DDR?

Turtschin, Walentin

* 1931 ✝ 2010




Walentin Turtschin wurde 1931 in Podolsk im Moskauer Gebiet als Sohn eines Pflanzenphysiologen und -chemikers geboren. 1952 beendete er sein Studium an der Fakultät für Physik der Moskauer Universität. 1953–64 arbeitete er am Institut für Physik und Energie in Obninsk im Gebiet Kaluga, einem der Zentren der sowjetischen Kernforschung. Nebenher schrieb Turtschin satirische Stücke, die von Amateurtheatergruppen aufgeführt wurden, und leitete ein Studentenkabarett. Die von ihm mitherausgegeben Witzesammlungen „Physiker machen Scherze“ (Fiziki šutjat, 1966) und „Physiker machen weiter Scherze“ (Fiziki prodolžajut šutit‘) erfreuten sich großer Beliebtheit.

1964 verteidigte Turtschin seine Doktorarbeit und zog nach Moskau. Er wurde Autor von etwa 60 wissenschaftlichen Arbeiten. Zwischen 1964 und 1974 war er leitender wissenschaftlicher Mitarbeiter des Institutes für angewandte Mathematik der Akademie der Wissenschaften der UdSSR und einer der Erfinder der Programmiersprache „Refal“, die er von 1967 bis 1977 und nach 1989 auch unterrichtete.

Turtschins Unterstützung der Petitionskampagne für Alexander Ginsburg und Juri Galanskow (siehe *Prozess der Vier) 1967/68 markiert den Beginn seines Engagements in der Menschenrechtsbewegung. Am 28. Juni 1968 schrieb er darüber hinaus einen offenen Brief an den Chefredakteur der Literaturzeitschrift „Literaturnaja Gazeta“ (Literaturzeitung), um sich für Alexander Solschenizyn einzusetzen.

Im Herbst 1968 schloss Turtschin seine philosophisch-publizistische Abhandlung „Trägheit der Angst“ (Inercyja stracha) ab, die im Samisdat weite Verbreitung fand. Darin legte er die These dar, dass es für jeden denkenden Naturwissenschaftler unvermeidlich sei, sich der offiziellen sowjetischen Ideologie zu widersetzen: „Die einzige Alternative zur falschen Staatsideologie ist, diese aus der Position einer kritischen wissenschaftlichen Weltsicht zu analysieren und auf dieser Grundlage neue politische Ideen zu entwickeln.“

Am 19. März 1970 verfasste Turtschin gemeinsam mit Roi Medwedew und Andrei Sacharow einen Brief an die Partei- und Staatsführung, der ein Programm für liberale und demokratische Reformen der Sowjetunion unter Leitung der KPdSU enthielt. Die Verfasser erklärten darin, dass das Streben der Intelligenz nach mehr Freiheit rechtskonform und notwendig sei, während die administrative und gerichtliche Knebelung der Freiheit zur unvermeidlichen Spaltung von Intelligenz und herrschender Elite führen müsse: „Dieser Widerspruch kann nicht anders als selbstmörderisch bezeichnet werden.“ Der Brief wurde sowohl in der UdSSR als auch im Ausland bekannt und war einer der letzten Versuche eines direkten Dialoges der Dissidenten mit dem Staat.

Am 1. September 1973 schrieb Turtschin einen offenen Brief zur Unterstützung von Andrei Sacharow, in dem er erklärte, dass die gegen diesen gerichtete Pressekampagne das internationale Ansehen der Sowjetunion beschädigt habe. Am 10. September 1973 wurde Turtschin daraufhin auf einer Mitarbeiterversammlung seines Institutes öffentlich kritisiert. Die Abteilung, die er leitete, wurde aufgelöst und seine bereits im Druck befindlichen Bücher eingestampft. Im Juli 1975 wurde Turtschin ganz entlassen, woraufhin er drei Jahre lang keine Anstellung in seinem Beruf finden konnte.

Im Herbst 1973 beteiligte sich Turtschin an der Gründung der *sowjetischen Sektion von Amnesty International, deren Leiter er anschließend wurde.

Zwischen 1974 bis 1977 erstellte und unterschrieb Turtschin Dutzende Dokumente zur Verteidigung der Menschenrechte. Er setzte sich für Juri Gastew, Wladimir Ossipow, Sergei Kowaljow, Andrei Twerdochleb, Alexander Ginsburg, Mykola Rudenka, Oleksy Tychy, Juri Orlow, Malwa Landa, Natan Scharansky und andere verfolgte Dissidenten ein. Als Leiter der *sowjetischen Sektion von Amnesty International engagierte er sich auch für politische Gefangene in Polen, der Tschechoslowakei, Jugoslawien und Spanien.

Im Herbst 1976 erweiterte Turtschin seine Abhandlung „Die Trägheit der Angst. Sozialismus und Totalitarismus“ (Inercyja stracha. Socializm i totalitarizm) um weitere Passagen, in denen er die Gründe für die passive Haltung der Mehrheit der sowjetischen Intelligenz gegenüber Menschenrechtsfragen analysierte und seinen eigenen geistig-moralischen Standpunkte formulierte: „Es sind Menschen vonnöten, die sich anders als die Mehrheit verhalten und etwas wagen. Ohne sie gäbe es keinen Fortschritt und keine Entwicklung nach vorn. Alles, was neu ist, ist am Anfang in der Minderheit.“ Seine Überzeugungen bezeichnete Turtschin als „demokratischen Sozialismus“.

Turtschin wurde die ganze Zeit über systematisch mit Hausdurchsuchungen, Verhören, Festnahmen, Telefonabschaltungen und der Androhung von Haft unter Druck gesetzt.

Am 14. Oktober 1977 emigrierte er in die USA. Im selben Jahr erschienen in New York seine Bücher „Trägheit der Angst“ und „Das Phänomen Wissenschaft“ (Fenomen nauki) auf Englisch. 1978/79 arbeitete er am Courant-Institut für Mathematik in New York, ab 1979 war er Professor an der Fakultät für Computermathematik der New York City University und arbeitete an dem Projekt „Principia Cybernetica“, dessen Publikationen er bis 2005 mit herausgab. Sein wissenschaftlicher Schwerpunkt lag auf der Formalisierung der philosophischen Sprache. 1998 war er Mitgründer eines Softwareunternehmens, 1999 wurde er als Professor emeritiert.

Nach Russland reiste Turtschin ab 1989 regelmäßig und nahm dort auch am wissenschaftlichen Leben teil. Bis zu seinem Tod 2010 lebte Walentin Turtschin in Oakland bei New York.


Dmitri Subarew, Genadi Kusowkin
Aus dem Polnischen von Tim Bohse
Letzte Aktualisierung: 03/16

Information

Die Sonderzeichen * und # erscheinen lediglich aus technischen Gründen im Text. Auf der Ursprungs-Webseite dissidenten.eu finden sie weiterführende Links sowie die vollständige Version der Biografien mit Glossarerklärungen, Chroniken und ausführlichen Darstellungen der Oppositionsgeschichten aller Länder.