DDR von A-Z, Band 1953

Erziehungswesen (1953)

 

 

Siehe auch:

 

[S. 42]Ausgehend von dem Grundsatz, daß Erziehung Sache des Staates ist, sucht das Sowjetzonen-Regime alle Faktoren, die neben der Schule die Entwicklung der Jugend bestimmen, auszuschalten und die Staatsschule zum ausschließlichen Träger der Erziehung zu machen. Da Staat und Sozialistische Einheitspartei identisch sind, bedeutet Staatserziehung nichts anderes als Erziehung zum Kommunismus. Zielsetzung und organisatorischer Aufbau des sowjetzonalen Schulwesens einerseits, seine Lehrerbildung, Lehrpläne, Lehrbücher und Unterrichtsmethoden — kurz seine Unterrichts- und Erziehungspraxis andererseits — zeigen die für alle Verhältnisse der SBZ typische Zweigesichtigkeit.

 

1945 wurde von dem inzwischen verstorbenen Schulrat Kreutziger die Erziehung zum „kämpferischen demokratisch-antifaschistischen Humanismus“ als Bildungsziel aufgestellt und auf den pädagogischen Landes- und Zonenkongressen 1946 verbindlich gemacht. Theoretisch wurde an Goethe und Humboldt angeknüpft, aber in Reden von Kreutziger und Wandel zur Erläuterung dieses Zieles trat klar zutage, daß die neue Schule vor allem vom Klassenkampfgedanken beherrscht sein sollte. Immer wieder wurde betont, daß die Schule ein „Politikon“ sei. Man verwies auf Lenins Rede auf dem II. Allrussischen Lehrerkongreß 1919 (Lenin, Werke Bd. XXII, S. 474): „Eine dieser bürgerlichen Heucheleien ist die Ansicht, daß die Schule außerhalb der Politik stehen kann. Gerade das Bürgertum war immer bemüht, in seinen Schulen gehorsame und getreue Lakaien zu drillen, ja überhaupt den ganzen Unterricht auf den Drill gehorsamer und geschickter Diener, von Willensobjekten und Sklaven des Kapitals abzustellen. Niemals war es darauf bedacht, die Schule zu einem Instrument der Menschlichkeit jenseits seiner Klasseninteressen zu machen. Jetzt ist es uns allen klar, daß dies nur die sozialistische Schule tun kann, die in unlösbarer Verbindung mit den Werktätigen und Ausgebeuteten steht.“ Und das auch in der Sowjetzone eingeführte Pädagogik-Lehrbuch von Jessipow-Gontscharow sagt auf S. 14: „Es gibt keine von der Politik getrennte Erziehung, da die Schule ein organischer Teil des öffentlichen Lebens ist, und Erziehung und Unterricht die Weltanschauung des Menschen formen.“

 

Diese Grundsätze fanden in den Organisationsformen der sowjetzonalen Einheitsschule unverhüllten Ausdruck. Man hob den Parallelismus der „Volksschule“ und der „Höheren Schule“ des bürgerlichen „Klassenstaates“ auf, um „jedem Kinde ohne Unterschied des Besitzes, des Glaubens oder seiner Abstammung die seinen Neigungen und Fähigkeiten entsprechende vollwertige Ausbildung zu ermöglichen“. Auf der „Vorschulischen Erziehung“ (sie wurde aus organisatorischen Gründen erst später für allgemein verbindlich erklärt) baut sich die allgemeine 8stufige „Grundschule“ auf, seit 1950 mit einheitlicher Abschlußprüfung in der ganzen Zone. Die Grundschule gabelt sich in die 4stufige Oberschule und die 3stufige Pflichtberufsschule. An die Oberschule schließen sich die Universität, an die Berufsschule die Fachschulen an, die ebenfalls den Übergang auf die Universität ermöglichen sollen (Schulen). Die Hilfsschulen wurden von sowjetischer Seite als „pädagogische Entartungen“ gebrandmarkt und auf Anordnung der SMAD aufgelöst, 1950 aber wieder zugelassen.

 

Die Zulassung zu den Oberschulen wird im Widerspruch zur Verfassung willkürlich begrenzt. Nach den Richtlinien (Anweisung 83/11) werden mit Vorrang zugelassen: 1. Kinder von Arbeitern und Kleinbauern (bis [S. 43]zu 16 ha Landbesitz), wobei zu beachten ist, daß als Arbeiter im Sinne der Gesetze und Verordnungen nur anzusehen ist, wer als solcher am 1. 1. 1942 tätig war (Arbeiterkind). 2. Kinder von anerkannten Mitgliedern der VVN. 3. Kinder von Helden der Arbeit, Nationalpreisträgern und Verdienten Ärzten und Verdienten Lehrern des Volkes. 4. Kinder der fortschrittlichen Intelligenz.

 

Die Auswahl erfolgt nach klassenkämpferischen Gesichtspunkten durch politische Kommissionen. Durch Zwischenprüfungen, die schon beim Übergang von der 7. zur 8. Grundschulklasse beginnen und in der Oberschule namentlich beim Übergang von Kl. 10 nach 11 in verschärfter Form wiederholt werden, wird der Kreis der für die Universität geeigneten, d. h. der im kommun. Sinne zuverlässigen Schüler, noch weiter eingeengt. Ausschlaggebend ist neben der Erfüllung des „Wissenssolls“ in erster Linie das gute Abschneiden in der Gegenwartskunde, die als Hauptfach nur der kommunistischen Propaganda dient. Um Fehlleistungen der Auslese auszugleichen, wurden an den Universitäten Vorstudienanstalten, die heutigen Arbeiter- und Bauern-Fakultäten eröffnet, die zunächst in 4, seit 1950 in 6 Semestern Kinder von Arbeitern und Kleinbauern, die sich politisch genügend „qualifiziert“ haben, zur Universitätsreife führen. Sie werden im Gegensatz zu den Abiturienten der Oberschulen ohne Ausnahme zum Studium zugelassen. Die Kontingentierung der Studenten für die einzelnen Fakultäten war anfangs sehr streng und vor allem je nach ihrer „staatspolitischen Bedeutung“ unterschiedlich. In den ersten Jahren wurden für die gesamte Zone nur 2.000 bis 2.500 neue Studenten zugelassen; bevorzugt wurden die neuen gesellschaftswissenschaftlichen Fakultäten, teilweise oder ganz gesperrt waren die Juristische, Philosophische und Theologische Fakultät (Hochschulen).

 

Über die Zulassung des Abiturienten zum Studium entscheiden nicht sein Reifezeugnis, sondern sein soziales Herkommen und seine gesellschaftliche Arbeit in der FDJ-Schulgruppe. So wurden 1950 in Rostock von 116 Abiturienten nur 38 zugelassen, hauptsächlich Kinder von Arbeitern, kleinen Angestellten und Kleinbauern. Von den Abgelehnten waren 16 später als Hilfs- und Gelegenheitsarbeiter beschäftigt, darunter 2 Professorensöhne und eine Arzttochter. Im Sinne des Erziehungsmonopols des Staates bemüht man sich, die Kinder des Bürgertums gegen ihr Elternhaus umzustimmen und zu proletarischen Klassenkämpfern zu erziehen. In kleinen Kollektivgruppen der Jungen Pioniere und der „Freien Deutschen Jugend“ (FDJ) müssen diese Kinder den geistig schwächeren, aber politisch aktiven Mitschülern nach bestimmten Plänen das für die Abschlußprüfungen notwendige Wissen einpauken und ihnen bei den Schularbeiten helfen; jeder bezahlte Nachhilfeunterricht ist andererseits verboten.

 

1950 setzte mit der Pflichtschulung aller Lehrer im Marxismus-Leninismus, mit neuen Lehrplänen und Lehrbüchern, mit der Zunahme der gesellschaftlichen Arbeit der Schulen, d. h. in ihrer Teilnahme an Demonstrationen und Staatsfeiern, Aufsatzwettbewerben u. a. (z. B. „Warum bin ich ein Freund der Sowjetunion?“ — „Die SU, das stärkste Bollwerk des Weltfriedens“) eine Epoche verschärfter Sowjetisierung des Schulwesens ein. Sie war durch zermürbende Betriebsamkeit bei tatsächlicher Planlosigkeit aller Arbeit gekennzeichnet. Daran konnte auch die Verkündung der „Heiligkeit der Unterrichtsstunde“ durch den damaligen Volksbildungsminister Wandel nichts ändern (Lehrerbildung).

 

[S. 44]1951 wurden nach langer kollektiver Vorarbeit neue Lehrpläne vom Deutschen ➝Pädagogischen Zentralinstitut (DPZI) herausgegeben. Ihr Inhalt ist bis in die einzelne Stunde aufgegliedert, und sie sollten mit dem „Stoffchaos“ aufräumen, beseitigten aber in Wirklichkeit die Freiheit, die verantwortungsbewußte Lehrer sich noch immer bei der Stoffauswahl hatten nehmen können. Die Lehrpläne sind keine Rahmenpläne, sondern enthalten den gesamten Stoff in Merksätzen mit methodischen Anweisungen, den Angaben des Merkstoffes und der zu erarbeitenden Begriffe in streng kommun. Auswahl und Betrachtungsweise. Alle Lehrer sind verpflichtet, sich streng an die Lehrpläne zu halten. Bei Revisionen hat der Lehrer unaufgefordert seine schriftliche Präparation und den Lehrbericht vorzulegen, die der Revisor miteinander und mit dem Soll des Lehrplanes zu vergleichen hat.

 

Die Lehrbücher werden durch Verfasserkollektive bearbeitet, die laufend an den Lehrplankonferenzen beim DPZI mitgearbeitet haben, so daß Lehrpläne und Lehrbücher genauestens gleichgeschaltet sind. Lehrbuchmanuskripte des Monopol-Verlages „Volk und Wissen“ müssen den Referenten des DPZI vor Drucklegung zur Kontrolle vorgelegt werden. Alle älteren Lehrbücher gelten als ideologisch überholt. Für den Schüler steht somit die Erarbeitung eines umfangreichen, einseitig politisch, d. h. kommunistisch ausgerichteten Wissens im Vordergründe. Selbsttätigkeit und Selbstdenken sind weitgehend ausgeschaltet. Da die „neue Gesellschaft“ aber auch echte Begeisterung und praktisches Können braucht, diskutiert man verzweifelt über die Beseitigung des Formalismus in der Schule. Die Tatsachen, die auch den Machthabern nicht verborgen sind, sprechen eine deutliche Sprache: Bei den Reifeprüfungen an den Oberschulen z. B. beherrschen die Prüflinge zwar den gesamten ideologischen Ballast des Marxismus-Leninismus, sind aber innerlich ganz anders eingestellt, diskutieren privat mit Lehrern ihres Vertrauens, hören den RIAS und den NWDR und stellen ihren Lehrern im Gegenwartskundeunterricht in gespielter Einfalt verfängliche Fragen. Auch auf dem Gebiet der Schule wurde nach sowjetischem Muster ein bis ins Letzte durchorganisiertes Überwachungssystem eingeführt. Die Schüler werden durch Mitschüler, die Leiter der JP- und FDJ-Schulgruppen und die Lehrer kontrolliert, die Lehrer durch die FDJ-Funktionäre, durch Spitzel unter den Kollegen, durch den Schulleiter und seinen Stellvertreter sowie durch Behördenvertreter.

 

Der Schulleiter ist verpflichtet, zweimonatlich einmal bei jedem Lehrer zu hospitieren, und wird seinerseits durch seinen Stellvertreter kontrolliert, der meist ein jugendlicher Aktivist ist und von der Kreisleitung eingesetzt wird, der Schulrat ebenfalls durch seinen Stellvertreter, der sich politisch qualifiziert hat und die Personalangelegenheiten des Kreises erledigt. Die ideologische Zentrale jeder Schule ist die „Parteibetriebsgruppe“. Dazu kommt eine breit angelegte Kontrolle durch die Öffentlichkeit, d. h. durch Betriebsabgeordnete bei allen Prüfungen, und die „Freunde der neuen Schule“. Eine Schlüsselstellung nimmt schließlich das „Deutsche Pädagogische Zentralinstitut“ in Berlin ein, dessen erster Leiter Frau Zaisser war, die Frau des Ministers für Staatssicherheit. Beide sind in der SU geschult. Frau Zaisser ist 1952 Nachfolgerin des Volksbildungsministers Wandel geworden. Der Wandel der Erziehungsziele in der SBZ wird am sinnfälligsten dokumentiert in Formulierungen des Hauptabteilungsleiters im Volksbildungsministerium Wolfgang Groth, die auch den Gedanken der bewaffneten Verteidigung der „proletarischen Errungenschaften“ einbe[S. 45]ziehen. Die „Erziehung zum demokratischen Patriotismus“ umfaßt 6 Punkte: 1. Die Liebe zum eigenen Volke als Quelle echten Nationalstolzes. 2. Die Freundschaft mit allen Völkern, insbesondere mit der Sowjetunion. 3. Haß gegen Reaktion und Imperialismus. 4. Aktivität bei der friedlichen Aufbauarbeit und die Bereitschaft, die demokratischen Grundlagen und die Erfolge dieser Arbeit gegen alle störenden Einflüsse oder Angriffe zu verteidigen. 5. Bewußtsein, daß die Interessen des Volkes mit den Interessen seiner Staatsführung untrennbar verknüpft sind, als Quelle der Liebe zum Präsidenten der „DDR“ und des Vertrauens zu den Vertretern des werktätigen Volkes in seiner Regierung. 6. Einsicht in die geschichtlich begründete Führungsrolle der Arbeiterklasse. Ausdrücklich wird betont, daß keiner von diesen Punkten vernachlässigt werden darf.

 

Diese Sätze machen, obschon sie an Diesterweg anzuknüpfen vorgeben, den Umsturz aller bisher gültigen pädagogischen Ziele deutlich: Christentum und Humanismus werden durch „fortschrittliche“ Sowjetpädagogik und die „bolschewistische Parteilichkeit“ ersetzt, die heute wie überall im öffentlichen Leben auch im Erziehungswesen regiert. Frau Zaisser erläuterte diese neue Zielsetzung bei der Eröffnung eines Lehrganges für Dozenten und Assistenten an pädagogischen Fakultäten mit folgenden Worten: „Erfüllt von dem Prinzip der bolschewistischen Parteilichkeit gilt es, endgültig Schluß zu machen mit der objektivistischen Betrachtung der Geschichte der Pädagogik und das reaktionäre Wesen der modernen bürgerlichen Pädagogik zu enthüllen.“ („die neue schule“, 1951, S. 365.)


 

Fundstelle: SBZ von A–Z. Bonn, 1953: S. 42–45


 

Information

Dieser Lexikoneintrag stammt aus einer Serie von Handbüchern, die zwischen 1953 und 1985 in Westdeutschland vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (ab 1969 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen) herausgegeben worden sind.

Der Lexikoneintrag spiegelt den westdeutschen Forschungsstand zum Thema sowie die offiziöse bundesdeutsche Sicht auf das Thema im Erscheinungszeitraum wider.

Ausführliche Informationen zu den Handbüchern finden Sie hier.