Linguistik-Briefe (1953)
Siehe auch die Jahre 1954 1956 1958 1959 1960 1962 1963 1965 1966
Unter Stalin hat sich eine weitgehende Umgestaltung der marxistisch-leninistischen Theorie, als unumgänglich erwiesen, um den immer machtvoller werdenden Staatsapparat zu rechtfertigen und ein selbständiges folgerichtiges Weiterdenken der Theorie, d. h. der Möglichkeit eines neuen dialektischen „Sprungs“ der Entwicklung über die angeblich jetzt klassenlos gewordene Gesellschaft hinaus, abzubiegen. Diese Umgestaltung leitete Stalin 1950 dadurch ein, daß er die Theorie des gefeierten marxistischen Sprachwissenschaftlers N. J. Marr († 1934) einer scharfen Kritik unterzog. (Stalin, „Marxismus in der Sprachwissenschaft“, 1950.) Marr hatte die Sprache dem „Überbau“ zugerech[S. 91]net und als Funktion der ökonomischen Verhältnisse aufgefaßt. Demnach hätte der Feudalismus seine eigene Sprache gehabt. Kein europäischer Sprachwissenschaftler hat diese völlig unbegründete Auffassung der Widerlegung für wert gehalten. Stalin versucht nun, an ihrem Beispiel zu zeigen, daß die Trennung von Basis und Überbau (wie er sie bisher selbst vertreten hatte) falsch sei. Die Sprache, so erklärt er jetzt, gehöre weder zur Basis noch zum Überbau, sondern sei etwas Selbständiges; sie sei also nicht Sache einer Klasse, sondern Sache des ganzen Volkes; sie sei auch nicht das Ergebnis einer Epoche, sondern langer Zeiträume. Die Erfindung einer neuen Sprache, die Aussicht hätte, Weltsprache zu werden, sei nicht möglich. Weltsprache könne nur eine der vorhandenen Sprachen werden. Die russische Sprache habe sich bisher immer als Siegerin erwiesen, wenn sie mit anderen Sprachen in Berührung kam. Die Folgerung, daß die russische Sprache vorzüglich geeignet sei, Weltsprache zu werden, überläßt Stalin dem Leser. (Theorie des Marxismus-Leninismus-Stalinismus)
Fundstelle: SBZ von A–Z. Bonn, 1953: S. 90–91