
Rechtswesen (1954)
Siehe auch die Jahre 1953 1956 1958 1959 1960 1962 1963 1965 1966 1969 1975 1979 1985
[S. 130]Die Hauptaufgabe der Justiz besteht nach den Ausführungen ihrer maßgebenden Funktionäre (Fechner, Hilde ➝Benjamin, Melsheimer) darin, „die antifaschistisch-demokratische Ordnung zu sichern, die Wirtschaftspläne vor Angriffen feindlicher Agenten und Saboteure zu schützen und damit das Vertrauen der fortschrittlichen und friedliebenden Kräfte der Welt zum deutschen Volke zu stärken“. Besonders herausgestellt wird weiter bei allen Gelegenheiten die Forderung nach einer wahrhaft demokratischen Gesetzlichkeit, d. h. nach strenger Einhaltung der in der SBZ geltenden Verfassung und der Gesetze mit dem Ziel, die errungene Machtstellung mit Hilfe der Justiz unter allen Umständen zu festigen und weiter auszubauen.
Als oberste Gerichtsinstanz besteht seit dem 8. 12. 1949 das „Oberste Gericht der DDR“. Es entscheidet entweder über die vom Generalstaatsanwalt der Sowjetzone eingelegten Kassationsanträge (Kassation) oder in solchen Strafsachen, in denen der Generalstaatsanwalt wegen der besonderen Bedeutung des Falles die Anklage unmittelbar vor dem Obersten Gericht erhebt. Meist werden diese Prozesse dann als Schauprozesse durchgeführt. Ein Rechtsmittel steht dem Angeklagten in diesen Fällen der erstinstanzlichen Verhandlung vor dem Obersten Gericht nicht zu. Der Angeklagte ist also der Willkür des Generalstaatsanwalts unterworfen, wenn dieser das Verfahren vor das Oberste Gericht in erster und gleichzeitig letzter Instanz bringen will. Seit dem 15. 10. 1952 ist das Oberste Gericht schließlich noch Rechtsmittelinstanz gegen erstinstanzliche Entscheidungen der Bezirksgerichte.
Die sonstige Gerichtsorganisation entsprach bis zum 15. 10. 1952 noch dem alten Gerichtsverfassungsgesetz, ist dann zunächst durch die „Verordnung über die Neugliederung der Gerichte“ vom 28. 8. 1952 der neuen Verwaltungsstruktur der Sowjetzone angepaßt und durch das Gerichtsverfassungsgesetz vom 2. 10. 1952 endgültig neu geregelt worden (Gerichtsverfassung). Das zweite Gesetz im Rahmen der Justizreform ist die neue Strafprozeßordnung (Strafverfahren), die zusammen mit dem GVG am 15. 10. 1952 in Kraft getreten ist. Die sowjetzonale Staatsanwaltschaft ist durch die „Verordnung über Maßnahmen zur Vereinfachung der Justiz“ vom 27. 9. 1951 aus der Justizverwaltung herausgelöst und selbständig geworden. Der Generalstaatsanwalt Dr. Melsheimer ist befugt, alle Staatsanwälte einzustellen und zu entlassen. Die Verordnung, mit Unterschriften Grotewohls und des damaligen Justizministers Fechner, hebt teilweise den Art. 132 der Verfassung der „DDR“ auf. Dies hätte nach Art. 83 der Verfassung nur im Wege der Gesetzgebung geschehen können und auch dann nur, wenn zwei Drittel der Volkskammerabgeordneten bei der fraglichen Sitzung anwesend sind und wenigstens zwei Drittel der anwesenden Abgeordneten der Verfassungsänderung zustimmen. Am 27. 3. 1952 beschloß der sowjetzonale Ministerrat „Maßnahmen zur weiteren Festigung der demokratischen Gesetzlichkeit“ (Ministerialblatt der „DDR“ 1952, S. 35). Dem Generalstaatsanwalt wird durch diesen Beschluß die Aufsicht über alle Untersuchungen übertragen, die in Strafsachen von den einzelnen Untersuchungsorganen — also auch der Kontrollkommission und dem Staatssicherheitsdienst (SSD) — durchgeführt werden. Gleichzeitig erhält der Generalstaatsanwalt die Aufsicht über alle Haft- und Strafvollzugsanstalten der Zone, ist jetzt also aufsichtführende und anweisende Stelle gegenüber der Polizei in den Angelegenheiten des Strafvollzuges. Dieser Ministerratsbeschluß hatte zur [S. 131]Folge, daß die Volkskammer am 23. 5. 1952 das seit längerer Zeit im Entwurf fertiggestellte „Gesetz über die Staatsanwaltschaft der Deutschen Demokratischen Republik“ einstimmig annahm. In der Präambel wird betont, daß es die besondere Aufgabe der Staatsanwaltschaft sei, die Einhaltung der Gesetze sicherzustellen. Die Staatsanwaltschaft ist nach diesem Gesetz „ein von anderen Staatsorganen unabhängiges Organ der Staatsgewalt. Sie untersteht dem Ministerrat“. Mit den §§ 10 und 11 erhält der Generalstaatsanwalt „die höchste Aufsicht über die strikte Einhaltung der Gesetze und der Verordnungen der Deutschen Demokratischen Republik. Diese Aufsicht erstreckt sich auf alle Ministerien, Ämter und ihnen unterstellten Dienststellen und Einrichtungen, auf Betriebe und ebenso auf alle Funktionäre des Staatsapparates und Bürger.“
Der Generalstaatsanwalt hat durch das Gesetz alle erforderlichen Vollmachten zur Durchführung dieser Aufgaben in die Hand bekommen. Damit ist eine Entwicklung abgeschlossen, die seit langem angestrebt und mit der „Verordnung über Maßnahmen zur Vereinfachung der Justiz“ vom 27. 9. 1951 offiziell eingeleitet wurde. Der so geschaffene Zustand entspricht der in der SU geltenden Regelung. Im Art. 113 der sowjetischen Verfassung heißt es: „Die oberste Aufsicht über die genaue Durchführung der Gesetze durch alle Ministerien und die ihnen unterstellten Institutionen, ebenso durch die einzelnen Amtspersonen sowie durch die Bürger der UdSSR obliegt dem Generalstaatsanwalt der UdSSR.“
Mit dem 1. 6. 1952, dem Tage des Inkrafttretens des „Gesetzes über die Staatsanwaltschaft der DDR“ ist die Sowjetisierung des Strafrechts auf dem Gebiet der Strafverfolgung, der Strafvollstreckung und des Strafvollzuges vollendet. Die Justizverwaltung hat nunmehr also ihre Aufsichtsbefugnisse über die Staatsanwaltschaft eingebüßt und beschränkt sich in ihrer Tätigkeit auf die Kontrolle der Rechtsprechung und die Personalpolitik. Letztere vollzieht sich seit 1945 unter dem Gesichtspunkt der Demokratisierung der Justiz. Diese Personalpolitik hatte zur Folge, daß die akademischen Juristen mehr und mehr aus den Richter- und Staatsanwaltsstellen verdrängt wurden und durch Volksrichter ersetzt wurden. Am 1. 4. 1953 waren 91 v. H. aller Richter Volksrichter, während in der Staatsanwaltschaft nur noch 1,2 v. H. Volljuristen beschäftigt waren. Sämtliche wichtigen Positionen sind mit Angehörigen der SED besetzt. Es gibt keinen Leiter einer Bezirksstaatsanwaltschaft, der nicht der SED angehört; bei der Obersten Staatsanwaltschaft der Zone sind ausschließlich SED-Mitglieder als Staatsanwälte tätig. Da den Volksrichtern und den Volksstaatsanwälten, die der SED angehören, von Beginn ihrer Ausbildung an eingehämmert wird, daß sie auch als Richter und Staatsanwälte Funktionäre ihrer Partei bleiben und die Richtlinien der Partei zu befolgen haben, ist es für die SED und die von ihr gesteuerte Justizverwaltung nicht schwer, durch Anordnungen und Rundverfügungen unmittelbar in die Rechtsprechung einzugreifen. Der „Richter neuen Typus“ darf nicht dem Objektivismus erliegen, sondern muß in seiner Rechtsprechung „Parteilichkeit“ wahren (so die Vizepräsidentin des Obersten Gerichts, Hilde Benjamin, in verschiedenen Vorträgen vor Richtern und Staatsanwälten) und beweisen, daß er als Funktionär des neuen Staates die alte Klassenjustiz überwunden hat. Der Richter muß stets von dem Gedanken ausgehen, daß seine Urteile in erster Linie der „Gesell[S. 132]schaft“, also dem Staat, nützen müssen. Es kommt dabei nicht auf eine nur „formelle“ Anwendung der Gesetze an, sondern auf deren Auslegung im Sinne der SED.
Der Schwerpunkt der gesamten Rechtsprechung liegt auf dem Gebiet des Strafrechts. Hier können drei Gruppen strafbarer Handlungen unterschieden werden: die politischen Strafsachen, die Wirtschaftsstrafsachen und alle übrigen Delikte. Dieser Unterscheidung entspricht die Dezernatseinteilung bei den Staatsanwaltschaften und den Gerichten. Die Abteilungen I bearbeiten die rein politischen Sachen, die Abteilungen II die Wirtschaftsdelikte und die Abteilungen III alles andere. Auf dem Gebiet des politischen Strafrechts gelangen drei Gesetze zur Anwendung. Der Art. 6 der Verfassung erklärt die sogenannte Boykott-, Kriegs- und Mordhetze für strafbar. Der Art. III A III der Kontrollrats-Direktive 38 wird zur Urteilsfindung wegen „Erfindung oder Verbreitung tendenziöser friedensgefährdender Gerüchte“ (Friedensgefährdung) herangezogen. Am 14. 5. 1952 hat das Oberste Gericht zum erstenmal das „Gesetz zum Schutz des Friedens“ vom 16. 12. 1950 (Friedensschutzgesetz) angewandt und vier Angeklagte, die weder in der SBZ wohnhaft waren noch dort irgendwelche Handlungen begangen hatten, zu zweimal lebenslänglicher Zuchthausstrafe, 15 und 10 Jahren Zuchthaus verurteilt. Hohe Zuchthausstrafen werden in politischen Prozessen auch gegen Jugendliche verhängt (Jugendstrafrecht).
Auf wirtschaftsstrafrechtlichem Gebiet gelangen vor allem vier Gesetze zur Anwendung. Sie haben im Regelfall neben einer hohen Zuchthausstrafe die Einziehung des gesamten Vermögens des Angeklagten zur Folge. Es handelt sich um den Befehl 160 der SMAD vom 3. 12. 1945 (Sabotage), die Wirtschaftsstrafverordnung vom 23. 9. 1948, das Gesetz zum Schutz des ➝innerdeutschen Handels vom 21. 4. 1950 und das Gesetz zum Schutze des ➝Volkseigentums vom 2. 10. 1952. Das „Gesetz zum Schutz des innerdeutschen Handels“ ist von der Volkskammer beschlossen worden, wie dies nach Art. 81 der Verfassung vorgeschrieben ist. Im Wege einer Ministerratsverordnung hat die sowjetzonale Regierung die Anwendungsmöglichkeit dieses Gesetzes dann erweitert. Während nach dem Gesetz der nicht genehmigte Warentransport aus der SBZ nach Berlin oder aus Westberlin in die SBZ unter Strafe gestellt war, wird durch die Regierungsverordnung zum Schutz des innerdeutschen Warenverkehrs vom 26. 7. 1951 (GBl. S. 705/51) das Gesetz zum Schutz des innerdeutschen Handels auf den gesamten Warenverkehr zwischen der SBZ und dem übrigen Deutschland ausgedehnt. Mit dieser Verordnung sollte die schon vor der Verordnung entwickelte Praxis der Strafgerichte sanktioniert werden. Wirtschaftsprozesse werden vornehmlich gegen solche Angeklagte durchgeführt, die sich entweder gerade noch rechtzeitig aus der SBZ in die Bundesrepublik oder nach Westberlin begeben konnten, oder die ihren Wohnsitz niemals in der SBZ hatten, wohl aber irgendwelche Vermögenswerte oder Betriebe. Diese sog. Abwesenheitsverfahren waren nach der bis zum 15. 10. 1952 geltenden Strafprozeßordnung nur zulässig, wenn sich der Angeschuldigte im Ausland aufhielt oder im Inland verbarg. Da in fast allen Fällen die Angeschuldigten den sowjetzonalen Behörden eine ladungsfähige Anschrift in der Bundesrepublik mitteilten, entfielen beide Voraussetzungen. Dennoch wandten die sowjetzonalen Gerichte die §§ 276 ff. StPO analog an, um das Vermögen oder den Betrieb des Angeklagten enteignen zu können. [S. 133]Die neue Strafprozeßordnung vom 2. 10. 1952 hat diese bisherige Praxis der sowjetzonalen Strafgerichte sanktioniert. Die erwähnten Wirtschaftsstrafgesetze finden auch Anwendung bei den Strafverfahren gegen Landwirte wegen Nichterfüllung des Ablieferungssolls. Diese wurden vornehmlich als Schauprozesse durchgeführt.
Aus der Statistik der sowjetzonalen Strafjustiz ergeben sich über die Verurteilungen in den Jahren 1950 und 1951 folgende Zahlen: 1950 wurden gegen insgesamt 78.293 Angeklagte 15.712 Jahre Zuchthaus und 42.461 Jahre Gefängnis verhängt, 1951 gegen 51.596 Angeklagte über 50.000 Jahre Gefängnis und gegen 10.114 Angeklagte über 30.000 Jahre Zuchthaus. Insgesamt wurden 1951 112.382 Personen durch sowietzonale Strafgerichte verurteilt. Die Vermögenseinziehungen sind 1951 im Verhältnis zu 1950 um das Zweieinhalbfache erhöht worden. In diesen Zahlen sind die Verurteilungen aus den sogenannten Kriegsverbrecherprozessen in Waldheim nicht enthalten.
Auf zivilrechtlichem Gebiet muß teilweise von einem Stillstand der Rechtspflege gesprochen werden. Die Volksrichter sind nicht in der Lage, schwierigere zivilrechtliche Fragen zu entscheiden. Wenn sie doch einmal ein Urteil fällen, dauert es durchschnittlich 100 bis 130 Tage, bis das Urteil schriftlich abgesetzt wird (nach Fechner in seinem Rechenschaftsbericht vom 1. 4. 1952). Auch in Zivilsachen muß festgestellt werden, daß die gerichtlichen Erkenntnisse von politischen Erwägungen bestimmt werden. Dies gilt auch auf dem Gebiet des Familienrechts sowie vor allem bei Klagen, an denen „volkseigene“ Betriebe (VEB), Verwaltungen oder sowjetische Aktiengesellschaften (SAG) beteiligt sind. Die Zwangsvollstreckung aus einem obsiegenden Urteil gegen einen „volkseigenen“ Betrieb darf erst dann durchgeführt werden, wenn das Innenministerium der „DDR“ — Hauptabteilung „Amt zum Schutz des Volkseigentums“ — dazu seine Zustimmung gegeben hat. Die gleiche Regelung gilt auch bei arbeitsrechtlichen Streitigkeiten (vgl. Rundverfügung Nr. 5 des Ministeriums für Arbeit und Gesundheitswesen der „DDR“ vom 31. 8. 1950). Wenn also die Hauptabteilung „Amt zum Schutz des Volkseigentums“ als oberste Verwaltungsbehörde über alle „volkseigenen“ Betriebe mit einem Gerichtsurteil nicht einverstanden ist, wird dieses Urteil für die gewinnende Partei wertlos. In der Regel wird dann das Urteil im Wege der Kassation durch das Oberste Gericht beseitigt, und der Rechtsstreit wird im Sinne des „volkseigenen“ Betriebes entschieden.
Literaturangaben
- Rosenthal, Walther, Richard Lange, und Arwed Blomeyer: Die Justiz in der Sowjetzone. (BB) 1953. 100 S.
Fundstelle: SBZ von A–Z. Zweite, durchgesehene und erweiterte Auflage, Bonn 1954: S. 130–133
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