Gesundheitswesen (1954)
Siehe auch die Jahre 1953 1956 1958 1959 1960 1962 1963 1965 1966 1969 1975 1979 1985
Die Gesundheitspolitik des Sowjetzonen-Regimes ist einzig und allein auf die Erhaltung bzw Wiederherstellung des Produktionsfaktors „menschliche Arbeitskraft“ gerichtet; der kranke, leidende Mensch erhält die Hilfe des Staates nur insoweit, als er noch zur Erfüllung der Wirtschaftspläne gebraucht werden kann Diese Zielsetzung des öffentlichen G. kommt vor allem in der Entwicklung des Krankenversicherungswesens (Sozialversicherungs- und Versorgungswesen) und in der fortschreitenden Vergesellschaftung des Arztberufes zum Ausdruck. Krankschreibungen werden im Interesse der Planerfüllung auf ein Mindestmaß beschränkt, Ärzte und Patienten unter Mitwirkung der Betriebsgewerkschaftsleitungen überwacht; Abweichungen von der strengen Norm können als Wirtschaftsvergehen verfolgt werden Heilbehandlungen sollen nach Möglichkeit im Betrieb erfolgen, der auch vielfach bereits die Krankengelder bzw Lohnausgleichsbeträge auszahlt; nach sowjetischem Muster sind ferner Nachtsanatorien zur Behandlung in der arbeitsfreien Zeit geplant.
Mit der Abnahme aller freien und selbständigen Berufstätigkeit war in der SBZ eine beträchtliche Erweiterung der Versicherungspflicht verbunden; die freiwillige und zusätzliche Krankenversicherung ging erheblich zurück und wird, do es ein privates Versicherungsgewerbe nicht mehr gibt, von den staatlichen Versicherungsanstalten wahrgenommen. Der Privatpatient spielt kaum noch eine Rolle. Die ärztliche Versorgung verlagert sich auf die öffentlichen Polikliniken und Landambulatorien. Die individuelle Beziehung zwischen Patient und Arzt, auch im nichttotalitären Bereich in der Auflösung begriffen, wird in der SBZ aus doktrinär-politischen Gründen systematisch beseitigt und durch einen Fürsorgeapparat ersetzt.
Die Krankenziffer in der SBZ betrug Mitte 1952 6,7 v. H der Versicherten (gegenüber 3,72 v. H. in der Bundesrepublik); die Gründe für diesen alarmierenden Gesundheitszustand sind in den schlechten Lebensverhältnissen, der rigorosen Ausbeutung der Arbeitskraft, dem unzulänglichen Arbeits[S. 62]schutz, aber auch im passiven Widerstand gegen das Terror-Regime zu suchen.
Verhängnisvoller als organisatorische Eingriffe sind für die Versorgung der Kranken der empfindliche Mangel an Ärzten und Hilfspersonal, die unzulängliche Ausstattung der Krankenhäuser und Polikliniken und die bedenklichen Lücken im Arzneimittelbedarf (Arzneiversorgung).
Der Fehlbedarf der Zone an Ärzten wird amtlich auf 10.000 geschätzt. Die frei praktizierenden Ärzte sind aus den o. a. Gründen durch steuerliche Beanspruchung und andere Maßnahmen in ihren Existenzmöglichkeiten so beengt, daß sie in großer Zahl die Zone verlassen mußten; bevorzugte Behandlung der Polikliniker verminderte diese Verluste nicht, sondern zog Ärzte von den übrigen Krankenanstalten ab; die Bemühungen, Ersatz aus der Bundesrepublik zu gewinnen, blieben erfolglos, da im Widerspruch zu verlockenden Versprechungen politische Anpassung verlangt wird und die allgemeinen Arbeitsverhältnisse überaus schwierig sind. Um dem immer stärker werdenden Ärztemangel abzuhelfen, wurde nunmehr nach jahrelangem Zögern die Ausbildung von Arzthelfern beschlossen. Beim ärztlichen Hilfspersonal liegen die Dinge ähnlich. Eine „Schule für leitende Schwestern“ in Dresden erzieht in Kurzkursen mit stark politischem Ausbildungsprogramm künftige Oberinnen; die Beteiligung kirchlicher Organisationen an der Krankenpflege wird durch Reform und Kontrolle des Krankenpflegeschulwesens mehr und mehr zurückgedrängt.
Der immer noch erhebliche Fehlbedarf an unentbehrlichen Verbrauchsgütern (z. B. Wäsche, Geschirr, Glühlampen, im besonderen ferner an Instrumenten und Verbandmitteln) beeinträchtigt ebenfalls die Krankenversorgung; viele Polikliniken und Ambulatorien sind daher schlechter ausgestattet als die primitivste Landpraxis. Die Einfuhr von Medikamenten und Grundstoffen für die nicht sehr bedeutende und in „Volkseigentum“ übergeführte Heilmittelindustrie der Zone wird den Bedürfnissen der Grund- und Rüstungsindustrien nachgeordnet; Medikamente westlicher Herkunft dürfen von den Ärzten daher im allgemeinen nicht verordnet werden und werden vielfach durch minderwertige Erzeugnisse ersetzt. Die Verstaatlichung der Apotheken wurde durch die Verordnung der Deutschen Wirtschaftskommission über die Neuregelung des Apothekenwesens vom 22. 7. 1949 eingeleitet (Apothekenreform).
Die Heilmittel der Bäder und Kurorte sind in erster Linie der Kaste der Aktivisten und Funktionäre Vorbehalten; die Plätze werden unter Mitwirkung der Betriebsgewerkschaftsleitungen (BGL, Feriendienst des FDGB) verteilt; andere Kranke haben wenig Aussicht, in Heilbäder zu gelangen. Oberste Behörde für das sowjetzonale G. ist das Gesundheitsministerium (Minister Luitpold Steidle, Staatssekretärin Jenny Matern, die Ehefrau von Hermann ➝Matern). Das Ministerium leitet und überwacht auch die Tätigkeit der medizinischen Gesellschaften und Verlage (Verlagswesen), während es keinen Einfluß auf die medizinischen Fakultäten (Hochschulen) und die Ausbildung des ärztlichen Nachwuchses hat. Exekutivorgane der Gesundheitsverwaltung sind die kommunalisierten Gesundheitsämter.
Literaturangaben
- Weiss, Wilhelm: Das Gesundheitswesen in der sowjetischen Besatzungszone. 2., erw. Aufl. 1952. 130 S. m. 14 Anlagen.
Fundstelle: SBZ von A–Z. Zweite, durchgesehene und erweiterte Auflage, Bonn 1954: S. 61–62
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