DDR von A-Z, Band 1954

Religion und Kirchen (1954)

 

 

Siehe auch:


 

Das Verhältnis des Kommunismus zur Religion ergibt sich aus der Doktrin der marxistisch-leninistischen Partei (Dialektischer Materialismus). Danach gibt es weder eine göttliche Offenbarung noch ein transzendentales Verhältnis des Menschen zu Gott, noch eine aus göttlicher Offenbarung abgeleitete Sittlichkeit (kommunistische ➝Moral). Religion ist für Marx „Das Opium des Volkes“, ein unter dem Einfluß des materiellen Elends von den Menschen erfundenes „verkehrtes Weltbewußtsein“, das durch die ursprüngliche „Wahrheit des Diesseits“ ersetzt werden müsse. Unter dem Einfluß von Engels und Lenin ist Religion im Bolschewismus vor allem die ideelle Widerspiegelung der Produktionsverhältnisse aus der Sicht der herrschenden und ausbeutenden Gesellschaftsklasse und dient als Mittel zur Vernebelung der antagonistischen Klassengegensätze und zur Unterdrückung des Proletariats.

 

Im Bolschewismus Lenins und Stalins ist die Verheißung eines irdisch-kommun. Paradieses in ferner Zukunft und der Glaube an die Auserwähltheit des Proletariats und heute des Sowjetvolks zur Herbeiführung der Weltrevolution zu einer stark gefühlsbetonten messianischen Lehre entwickelt worden, beeinflußt auch durch Vorstellungen orthodoxer großrussischer Strömungen aus den vergangenen Jahrhunderten. Das sowjetische Gesetz vom 23. 1. 1918 bestimmt, daß religiöse und kirchliche Verbände unter die allgemeinen Richtlinien für private Gesellschaften und Vereine fallen und kein Recht auf Eigentum haben. Die Schule wird von der Kirche getrennt. Religionslehre ist in allen staatlich geführten, allgemeinkulturellen schulischen Einrichtungen verboten. Die Anwendung dieses und der Erlaß weiterer noch gültiger Gesetze, die die Rede- und Pressefreiheit und die Freizügigkeit der Person unterbinden, haben öffentliches Bekennen der religiösen Überzeugung unmöglich gemacht. — Die systematische antireligiöse Propaganda und Verfolgung von Gläubigen wurde während des zweiten Weltkrieges aus taktischen Gründen eingeschränkt, jedoch in indirekter Form durch Verherrlichung der Wissenschaft als einzig wahrer Erkenntnisquelle weitergeführt. Die Wiedereinsetzung eines Patriarchen der russisch-orthodoxen Kirche 1943 hat an der strengen Trennung von Kirche und Staat und von Schule und Kirche nichts geändert. Die Würdenträger der orthodoxen Kirche müssen sich außerdem verpflichten, die Außen- und Innenpolitik der Sowjetregierung zu unterstützen. Im staatlichen Komsomol wird die junge Generation unverändert angehalten, den Widerspruch zwischen Religion und Wissenschaft zu betonen und der Aktivität der Kirche entgegenzutreten.

 

Wie in den osteuropäischen Satellitenstaaten empfand der Bolschewismus nach 1945 auch die Kirchen der SBZ als unbequemstes und stärkstes Hindernis einer planmäßigen Sowjetisierung. Die Einstellung der Machthaber der „DDR“ zu den Kirchen beider Konfessionen ist grundsätzlich feindlich und gekennzeichnet durch die Verfassungsbestimmungen, die die Religionsgemeinschaften anderen „Vereinigungen gleichstellen, die sich die gemeinschaftliche Pflege einer Weltanschauung zur Aufgabe machen“, und durch die hier gleichfalls gültigen Gesetze, die echte Freiheit der Meinungsäußerung durch Wort oder Druck und Freizügigkeit der Person unmöglich [S. 135]machen. Vor allem die willkürlich auslegbare Bestimmung, daß Einrichtungen der Religionsgemeinschaften, religiöse Handlungen und der Religionsunterricht „nicht für verfassungswidrige oder parteipolitische Zwecke mißbraucht werden“ dürften, lieferte der Regierung und SED immer wieder Vorwände zur Behinderung der Religionsausübung.

 

Seit 1945 ist das ganze öffentliche Leben durch die latente Spannung zwischen den christlich-ethischen Auffassungen der Kirchen und der revolutionär-klassenkämpferischen Haltung der SED gekennzeichnet. Das innere Gefüge der Kirchen beider Konfessionen und die Festigkeit der Gläubigen ist durch die erzwungene Abwehrbereitschaft eher gestärkt als geschwächt. Die Versuche der SED, die gesamtdeutschen kirchlichen Institutionen zu zerreißen, die Geistlichkeit politisch zu spalten und über die Ost-CDU einen sog. „christlichen Realismus“ zu proklamieren, der sich mit den sozialen Zielen des Bolschewismus identifizierte, waren vergeblich. Die Verantwortlichen beider Konfessionen, vor allem Bischof Dibelius und Kardinal Preysing, aber auch viele Geistliche in den Gemeinden, haben immer wieder mit Mut und Offenheit gegen alle Versuche der SED Stellung genommen, durch kleine Schikanen und Behinderung der kirchlichen Tätigkeit den Einfluß christlichen Gedankenguts auf die Bevölkerung einzuschränken.

 

Das Schwergewicht der von der SED gegen die religiöse Tradition und Haltung der Gläubigen eingeleiteten Maßnahmen lag jedoch auf dem Versuch, die Jugend der Religion zu entfremden und zum Atheismus zu erziehen. Die Konfessionsschulen wurden abgeschafft, die Erteilung des Religionsunterrichts aus der allgemeinen Schulerziehung der ordentlichen Lehrpläne verbannt und den Beauftragten der Kirchen nur außerplanmäßig mit Einwilligung der Eltern gestattet. Neue Schulbücher und die Propaganda der FDJ verkündeten atheistische, die Religion verächtlich machende Ideen. Die Verkündung eines „verschärften Klassenkampfs“ auf der II. Parteikonferenz der SED (1952) führte in steigendem Maße zu Willkürmaßnahmen gegen kirchliche Einrichtungen, Geistliche und vor allem gegen jugendliche Gläubige. In erster Linie wurden davon die Leiter und Mitglieder der evangelischen Jungen Gemeinde betroffen, von denen viele unter willkürlicher Auslegung des Friedensschutzgesetzes als „Saboteure“ und „amerikanische Agenten“ beschuldigt, von Schulen und Universitäten verwiesen und zum Teil zu hohen Zuchthausstrafen verurteilt wurden. Der dadurch ausgelöste scharfe Konflikt konnte zwar durch die Vereinbarungen vom 9. 6. 1953 (Neuer Kurs) beigelegt werden; Erklärungen der SED in der Folgezeit ließen aber keinen Zweifel daran, daß nur an eine vorübergehende taktisch bedingte Milderung des Kirchenkampfes, nicht aber an eine grundsätzlich gewandelte Einstellung der Partei gegenüber Religion und Kirchen zu denken ist.

 

Literaturangaben

  • Berdiajew, Nikolai: Wahrheit und Lüge des Kommunismus. Darmstadt 1953, Holle-Verlag. 128 S.
  • Sieger, Karl: Im Banne des Kommunismus … Idee und Gefahr des Kommunismus. Luzern 1952, Rex-Verlag. 360 S.
  • Stepun, Fedor: Das Antlitz Rußlands und das Gesicht der Revolution. Bern 1933, Gotthelf-Verlag. 104 S.

 

Fundstelle: SBZ von A–Z. Zweite, durchgesehene und erweiterte Auflage, Bonn 1954: S. 134–135


 

Information

Dieser Lexikoneintrag stammt aus einer Serie von Handbüchern, die zwischen 1953 und 1985 in Westdeutschland vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (ab 1969 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen) herausgegeben worden sind.

Der Lexikoneintrag spiegelt den westdeutschen Forschungsstand zum Thema sowie die offiziöse bundesdeutsche Sicht auf das Thema im Erscheinungszeitraum wider.

Ausführliche Informationen zu den Handbüchern finden Sie hier.