Erziehungswesen (1956)
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[S. 76]Die marxistisch-leninistische Pädagogik unterscheidet drei Institutionen der „Erziehung“ der Heranwachsenden Jugend: Familie, Schule und Jugendorganisation. Die Schule — insbesondere die „allgemeinbildende“ im Unterschied zur „berufsbildenden“ — gilt jedoch als die „Hauptkraft“ der Erziehung. Die FDJ, die Jungen Pioniere und die Familie sind verpflichtet, ihr „Hilfe“ zu leisten. Die „Schulreform“ und der Aufbau einer privilegierten Jugendorganisation waren in der Praxis tatsächlich die entscheidenden Mittel, mit denen die kommunistischen Machthaber der SBZ ihre Autorität in der Jugend zu verankern versuchten. Der Einfluß der Familie ist — soweit er sich nicht gleichschalten ließ — trotz gegenteiliger Beteuerungen ständig zurückgedrängt worden.
Die wesentlichsten Grundlagen des Schulwesens sollen nach der offiziellen Doktrin in dem Klassencharakter der Schule und in ihrer Unterstellung unter die staatliche Leitung gegeben sein. Geleitet und verwaltet vom Staat, dient die sowjetzonale Schule — so heißt es — den Interessen der Arbeiterklasse, die im Bündnis mit der werktätigen Bauernschaft und der Intelligenz die Herrschaft ausübt und seit 1952 den „Sozialismus“ aufbaut. Dieses angeblich „offene“ Bekenntnis zum Klassencharakter der Schule ist nur als Propagandaformel zu werten. Das öffentliche E. der SBZ ist vielmehr das Produkt einer unter dem Schutz der Sowjetmacht vollzogenen „Revolution von oben“ und dient tatsächlich der Erhaltung und Entwicklung der kommunistisch-totalitären Autokratie.
Zielsetzung, organisatorischer Aufbau und pädagogischer Inhalt des Schulwesens sind seit 1945 von der kleinen kommunistischen Minderheit, die das Monopol politischer Machtausübung besitzt, im Einklang mit der Entwicklung des kommunistisch-totalitären Staates fortlaufend verändert worden. Dabei sollen — nach der offiziellen Doktrin — drei „Grundsätze“ der „Erziehung und Bildung“ als Regeln der gesamten pädagogischen Arbeit verwirklicht worden sein: 1. der Grundsatz der Demokratisierung, 2. der der Wissenschaftlichkeit und Parteilichkeit, 3. der des demokratischen Humanismus der „Erziehung und Bildung“. Der erste Grundsatz rechtfertigt die totale Politisierung des Schulwesens, d. h. seine Anpassung an die totalitäre Machtordnung und seine Verwandlung in ein Werkzeug der herrschenden politischen Gruppe. Ausdrücklich wird die Einheit von Schule und Politik gefordert. Der zweite Grundsatz zielt auf die Durchdringung von Schule und Marxismus-Leninismus. Sie ist nach 1945 schrittweise verwirklicht worden. Die Verbindlichkeit des Marxismus-Leninismus für jeden Lehrer ist erstmalig offen von der Entschließung des ZK der SED von 19. 1. 1951 gefordert worden.
Der dritte Grundsatz verherrlicht die sowjetzonale Schule als Verkörperung der dem Humanismus adäquaten Werte (z. B. Achtung des anderen Menschen, Liebe zum werktätigen Volk), obwohl die sowjetzonale Schule wesentlich mit dazu beiträgt, den Menschen auf seine Rolle als Funktionär des totalitären Staates zu reduzieren. Die „bürgerliche“ Schule wird als „antihumanitär“ kritisiert, weil sie angeblich den Kindern des werktätigen Volkes nicht die Chancen zu einer allseitigen Entwicklung gibt.
Die „Schulreform“ begann mit der Zerschlagung der überlieferten Schulorganisation und mit deren Neugestaltung durch das „Gesetz zur Demokratisierung der deutschen Schule“ (Sommer 1946). Es schuf die [S. 77]Einheitsschule und beseitigte den Parallelismus von Volksschule und höherer Schule. Das wird als Liquidierung des Bildungsprivilegs der alten besitzenden Klassen gefeiert. Dazu kommt die in der Verfassung der „DDR“ verankerte Trennung von Schule und Kirche.
Auf den Kindergarten (Vorstufe) baut sich die allgemeine, für alle Kinder obligatorische achtstufige Grundschule auf. „Nach Beendigung der Grundschule erfolgt die systematische Weiterbildung in der Berufsschule und Fachschule, in der Oberschule und in anderen Bildungseinrichtungen.“ („Gesetz zur Demokratisierung …“) An die vierstufige Oberschule schließen sich Universitäten und Hochschulen an, an die dreistufige Berufsschule die viersemestrigen Fachschulen, die ebenfalls den Übergang zur Universität ermöglichen. Den Hilfsschulen begegnete die SMAD mit großem Mißtrauen, sie sind erst seit 1950 wieder zugelassen. Eine neue, 1946 nicht vorgesehene Schulform ist die Zehnjahresschule, jetzt Mittelschule (Oberschule).
Die Zulassung zur Oberschule ist im Widerspruch zur Verfassung willkürlich beschränkt worden. Alljährliche Verfügungen setzten eine Rangordnung fest, nach der Kinder von Arbeitern und „werktätigen“ Bauern in erster Linie zu berücksichtigen sind. Im Laufe der Jahre sind ihnen die Kinder der „Helden der Arbeit“, Nationalpreisträger u. dgl. sowie die Kinder der „neuen“ Intelligenz gleichgestellt worden. Der Anteil der Arbeiter- und Bauernkinder an den Oberschulen soll nach offiziellen Angaben 1954 48 v. H. betragen haben.
Die weiteren Auslesekriterien — neben dem sozialen Herkommen — sind die Schulleistungen und die politische Zuverlässigkeit. Diese drei Gesichtspunkte bestimmen auch die Auslese der Studierenden der Hoch- und Fachschulen. Durch die Arbeiter- und Bauernfakultät und die Sonderreifeprüfung sind besondere Wege zur Hochschule geschaffen worden. Die strenge Kontingentierung der Oberschüler und Studierenden in den ersten Jahren ist mit wachsendem Nachwuchsmangel der riesigen Apparate der Wirtschaft, der Parteien und Verbände und der staatlichen Verwaltung gelockert worden. Die Zahl der Oberschüler und Studierenden ist nach 1949 ständig gewachsen.
Das offizielle pädagogische Ziel des sowjetzonalen E. ist wiederholt umformuliert worden und im Laufe der Jahre immer stärker mit der Deutschland-Politik der SBZ in Übereinstimmung gebracht worden. So forderte die 4. Tagung des ZK der SED vom 19. 1. 1951, die Jugend zu „aktiven Erbauern“ eines „einigen, demokratischen und friedliebenden Deutschland“ zu erziehen. Dem entspricht die seit 1949 immer stärkere Betonung des Patriotismus. Die „Verordnung zur Arbeit der allgemeinbildenden Schulen vom 4. 3. 1954“ fordert an erster Stelle die Erziehung „aufrechter Patrioten“. Diese Zielsetzung impliziert die Mobilisierung der Jugend für den kommunistisch-totalitären Staat. Die speziellen Forderungen für die körperliche, intellektuelle, polytechnische, sittliche und ästhetische Erziehung (die 5 „Bestandteile“ des Bildungs- und Erziehungsprozesses) stehen in festem Zusammenhang mit der patriotischen Erziehung. Die der Schule und der FDJ gesetzten Ziele decken sich in bezug auf die patriotische Erziehung.
Der intellektuellen Erziehung, d. h. der Vermittlung „eines hohen Maßes“ „wissenschaftlicher Kenntnisse“ wird nach sowjetischem Vorbild „die führende Rolle“ zuerkannt. Sie zielt in der Praxis auf die Vermittlung einer kommunistischen Weltorientierung und Weltanschauung. Wenn diese Zielsetzung auch eine besondere Pflege des Geschichts-, Deutsch- und Russisch-Unterrichts erfordert, so sind die mathematischnaturwissenschaftlichen Fächer in den Schulen und Hochschulen nicht [S. 78]vernachlässigt worden. Die durch sie vermittelten Kenntnisse gelten als Grundlage der Berufsausbildung. Der Unterricht zielt vor allem auf die „Aneignung“ „fester“ und „systematischer“ Kenntnisse bzw. eines „aktiven“ Wissens. Dem verstärkten Lernzwang entsprechen verstärkte Disziplinarforderungen. „Regeln für die Schüler“ und bestimmte Hausordnungen formulieren die Pflichten des Schülers. Verstöße gegen sie lösen bestimmte Sanktionen aus, die um so nachhaltiger wirken, als das Verhalten des Schülers in der Schule eine immer größere Bedeutung für seine Berufsaussichten erhält. Die Körpererziehung dient zugestandenermaßen auch der vormilitärischen Erziehung. Die Arbeit der FDJ ist in entsprechender Abwandlung ebenfalls auf diese gekennzeichneten Zielsetzungen und Wertungen verpflichtet. Alle fünf „Bestandteile“ des E. sind dem Grundsatz der „Parteilichkeit“ der Erziehung unterworfen — auch die ästhetische Erziehung.
Der Realisierung der politischen und pädagogischen Zielsetzung dient ein Schul- und Jugendverbandsleben, das modellartig die Anforderungen des Erwachsenenlebens im totalitären Staat vorwegnimmt. Die Arbeit der Schule — ebenso wie die der FDJ — wird durch eine Fülle von Plänen reguliert. So hat beispielsweise jede allgemeinbildende Schule folgende Pläne aufzustellen: 1. Jahresarbeitsplan der Schule, 2. Plan des Leiters der Schule und seines Stellvertreters, 3. Plan des Klassenleiters, 4. Plan des Lehrers. Dazu kommen dann die Pläne aller in der Schule vorhandenen Organisationen: der SED-Betriebsgruppe, der Gewerkschaftsgruppe, des Pädagogischen Rates, des Elternbeirates, der Pionier- bzw. FDJ-Gruppen, der Arbeitsgemeinschaften der Lehrer usw. Diese Pläne haben sich, soweit sie den Unterricht betreffen, strikt an die für die Zone verbindlichen Lehrpläne zu halten, die den Rang staatlicher Verfügungen besitzen. Die Lehrpläne formulieren das zu leistende „Soll“ der Schule. Die Erfüllung des Solls wird gefordert und kontrolliert. Die ersten Lehrpläne kamen 1946/47 heraus. Erst die 1951 erschienenen Lehrpläne trugen einen konsequenten marxistisch-leninistischen Charakter. Sie sind seitdem wiederholt geändert worden. Die Lehrpläne sind keine Rahmenpläne, sondern geben eine eingehende Aufgliederung des Stoffes, setzen die Stundenzahl für die Behandlung der Themen, für Wiederholungen, Exkursionen usw. fest. Einzelne Lehrpläne (z. B. Geschichte, Erdkunde) reglementieren sogar die verbindliche Auffassung der einzelnen Gegenstände. Den Lehrplänen der Schule entsprechen die Studienpläne der Hochschulen. Die für Schüler und Lehrer bestimmten Schul- und Lehrbücher orientieren sich an den Lehrplänen. Das Monopol der Schulbuchherstellung besitzt der „volkseigene Verlag Volk und Wissen“. Er trägt die Verantwortung dafür, daß die herausgegebenen Bücher in jeder Einzelheit der Erziehung von aktiven Parteigängern des Kommunismus dienen.
Der Kontrolle der Lehrplanerfüllung dient ein System von Zwischen- und Abschlußprüfungen für alle Schulen und Hochschulen. Auch die FDJ hat ein Prüfungssystem geschaffen. Der durch die Lehrpläne und Prüfungen vermittelte Druck wird, soweit es sich um die Schüler handelt, durch die Registrierung der Ergebnisse der kontinuierlichen „Leistungskontrolle“ in Klassen- und Schülertagebüchern verschärft. Die Elternbeiräte, die Schulgruppen der Jungen Pioniere und der FDJ, die mit der Schule besonders verbundenen Betriebe (Patenschaftsbetriebe) werden ebenso wie die staatlichen Behörden und die gelenkte Presse eingeschaltet, um die Schüler zur Intensivierung der „Lernarbeit“ und Lerndisziplin zu zwingen. Die Lehrer werden nicht nur von der Schul[S. 79]aufsichtsbehörde kontrolliert, sondern unterliegen auch dem vornehmlich von den SED-Betriebsgruppen verkörperten Zwang. Als Anreize zur Erzielung eines konformistischen Verhaltens von Schülern und Lehrern dienen Stipendien, Orden und Medaillen, Titel, Prämien, höhere Gehaltseinstufungen und große Möglichkeiten des beruflichen Aufstiegs für verschiedene Parteigänger.
Obwohl die SBZ behauptet, erstmalig in Deutschland eine „demokratische“ Schule geschaffen zu haben und den pädagogischen Fortschritt zu verkörpern, haben ihre führenden Funktionäre fortlaufend „Mängel“ der Schularbeit festgestellt. Jahre hindurch sind die nicht ausreichende Lehrplanerfüllung, der nicht ausreichende Stand der Kenntnisse kritisiert worden. Wenn auch eine Verbesserung anerkannt wird, so wird immer noch der „Formalismus“ der Kenntnisse beanstandet, d. h. das Auswendiglernen, das bis heute den Unterrichtsbetrieb beherrscht.
1953 sind jedoch die Anforderungen der Lehrpläne im Interesse einer vertieften „Aneignung“ des Stoffes gesenkt worden. Ein ständiger Punkt auf der Liste der „Mängel“ ist die Kritik der politischen Haltung und des „ideologisch-politischen Bewußtseins“ einer nicht angegebenen Zahl von Lehrern. Es wird ihnen vorgeworfen, daß sie sich noch nicht wie „Funktionäre des Arbeiter- und Bauernstaates“ verhielten. Dem entspricht die Tatsache, daß nur eine kleine Minderheit von Lehrern als entschiedene Parteigänger der kommunistischen Führung gelten kann. Sie ist jedoch groß genug, um die Mehrheit im Rahmen der staatlichen Machtordnung zur Anpassung zu zwingen. In den letzten Jahren kritisierten die Behörden der SBZ vornehmlich den nicht ausreichenden Stand der patriotischen Erziehung und der Beteiligung der Schule an der Arbeit der Jugendorganisationen. Seit 1955 ist wiederholt der „Intellektualismus“ der Schule bemängelt und eine stärkere Berücksichtigung der musischen Fächer und des Werkunterrichts (polytechnische Erziehung) gefordert worden. Schulen und Hochschulen sind aufgefordert worden, die Verbindung mit der Praxis, insbesondere mit der Produktion, enger zu gestalten. Diese Kritik spiegelt das Streben der kommunistischen Machthaber wider, das E. als Werkzeug zur Formung einer Jugend zu benutzen, die sich aktiv für den Aufbau und die Verteidigung der kommunistischen Interessen einsetzt.
Es ist nicht zu bestreiten, daß die SBZ relativ große Mittel für die öffentliche Erziehung aufwendet. Das ist nicht auf ihre Liebe zur Kultur, sondern auf politische Motive zurückzuführen. Die kleine herrschende Minderheit kann sich angesichts der Umwälzung der bestehenden Verhältnisse nur dann behaupten, wenn sie Schule und Jugendverband dazu benutzt, ihre autokratische Herrschaft zu sichern. (Erziehungswissenschaft)
Literaturangaben
- Baumgart, Fritz: Das Hochschulsystem der sowjetischen Besatzungszone. (BMG) 1953. 31 S.
- Jeremias, U.: Die Jugendweihe in der Sowjetzone. Bonn 1956. 78 S.
- Lange, Max Gustav: Totalitäre Erziehung — Das Erziehungssystem der Sowjetzone Deutschlands. Mit einer Einl. v. A. R. L. Gurland (Schr. d. Inst. f. pol. Wissenschaft, Berlin, Bd. 3). Frankfurt a. M. 1954, Verlag Frankfurter Hefte. 432 S.
- Lange, Max Gustav: Wissenschaft im totalitären Staat. Die Wissenschaft der sowjetischen Besatzungszone auf dem Weg zum „Stalinismus“, m. Vorw. v. Otto Stammer (Schr. d. Inst. f. pol. Wissenschaft, Berlin, Bd. 5). Stuttgart 1955, Ring-Verlag. 295 S.
- Möbus, Gerhard: Das Menschenbild des Ostens und die Menschen im Westen. Bonn 1955. 90 S.
- Möbus, Gerhard: Klassenkampf im Kindergarten — Das Kindesalter in der Sicht der kommunistischen Pädagogik. Berlin 1956, Morus-Verlag. 110 S.
- Müller, Marianne, und Egon Erwin Müller: „… stürmt die Festung Wissenschaft!“ Die Sowjetisierung der mitteldeutschen Universitäten seit 1945. Berlin 1953, Colloquium-Verlag. 415 S.
- Säuberlich, Erwin: Vom Humanismus zum demokratischen Patriotismus. — Schule und Jugenderziehung in der sowjetischen Besatzungszone (Rote Weißbücher 13). Köln 1954, Kiepenheuer und Witsch. 170 S.
- Froese, Leonhard: Die ideengeschichtlichen Triebkräfte in der russischen und sowjetischen Pädagogik. Heidelberg 1956, Quelle und Meyer. 198 S.
- Dübel, Siegfried: Deutsche Jugend im Wirkungsfeld sowjetischer Pädagogik. (BB) 1953. 88 S.
- Möbus, Gerhard: Bolschewistische Parteilichkeit als Leitmotiv der sowjetischen Kulturpolitik. Dokumente der Diktatur. (BB) 1951. 32 S.
Fundstelle: SBZ von A bis Z. Dritte, überarbeitete und erweiterte Auflage, Bonn 1956: S. 76–79
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