Juni-Aufstand (1956)
Siehe auch die Jahre 1954 1958 1959 1960 1962 1963 1965 1966 1969 1975 1979 1985
Im engeren Sinne die Streiks und Demonstrationen am 16. 6. und der Massenaufstand am 17. 6. 1953 in Ostberlin und in der SBZ; Reaktion der Bevölkerung der Zone auf die jahrelange Unterdrückung durch das SED-Regime, die katastrophale Lebensmittelversorgung und insbesondere auf die jüngste Phase der Sowjetisierung im Zeichen des Aufbaus des Sozialismus. Der am 9. 6. 1953 vom Politbüro des ZK der SED beschlossene Neue Kurs wurde mit Recht als Zeichen der Schwäche der SED-Regierung verstanden. Anlaß zum Juni-Aufstand gab die „administrative“ Erhöhung der Normen. Am 28. 5. 1953 wurde durch Ministerratsbeschluß die allgemeine Erhöhung der Normen um durchschnittlich 10 v. H. vorgenommen, die einer Lohnsenkung um 30 bis 42 v. H. gleichkam. Der Widerstand gegen diese Maßnahme kam schon vor dem 9. 6. in Protesten und Einzelstreiks zum Ausdruck. Nachdem das Kommuniqué des Ministerrats vom 11. 6. bei der Verkündung des „Neuen Kurses“ gar nicht auf die Normenfrage eingegangen war, löste ein Artikel in der „Tribüne“ (Organ des FDGB) vom 16. 6. die Ostberliner Demonstrationen aus. Der Artikel hatte festgestellt: „… die Beschlüsse über die Erhöhung der Normen sind in vollem Umfange richtig.“ Unter dem Eindruck der Demonstrationen wurde die Normenerhöhung am Nachmittag des 16. 6. rückgängig gemacht. Am gleichen Tage um 7 Uhr beschlossen die Arbeiter vom VEB Bau:Union in der Stalin-Allee den Streik und marschierten, bald durch andere Arbeiter verstärkt, zu dem in der Leipziger Straße gelegenen „Haus der Ministerien“ (ehem. Reichsluftfahrtministerium). Hier entwickelte sich der Streik zur Volkserhebung mit der Forderung nach freien Wahlen, besseren materiellen Lebensbedingungen und Rücktritt der SED-Regierung. Die Streikbewegung dehnte sich inzwischen auch auf die Randgebiete Berlins aus. Volkspolizei stand bereit, griff aber nicht ein. Die SED-Gegenpropaganda versagte völlig, sie verstärkte im Gegenteil den Ausbruch der jahrelang unterdrückten Volkswut.
Am 17. 6. wurde das Ziel der Demonstranten klar: der Volksaufstand wollte das SED-Regime hinwegfegen. Mit dem Marsch von 12.000 Arbeitern des Stahl- und Walzwerks Hennigsdorf griff die Zone in den Aufstand ein. Brennpunkte der nun erfolgenden Zusammenstöße mit der Volkspolizei waren die Leipziger Straße, der Potsdamer Platz, der Lustgarten, das Brandenburger Tor. Inzwischen waren sowjetische Truppen in Stärke von mindestens 2 Divisionen mit zahlreichen Panzern und Panzerspähwagen nach Berlin geworfen worden. Vom Brandenburger Tor wurde um 11 Uhr 10 die rote Fahne heruntergeholt. Gegen 12 Uhr fielen die ersten Schüsse. Ab 13 Uhr wurde vom sowjetischen Stadtkommandanten, Generalmajor Dibrowa, für den Sowjet-Sektor der Ausnahmezustand verhängt. Während die sowjetischen Truppen den Sturm auf das „Haus der Ministerien“ verhindern konnten, wurden u. a. das Columbus-Haus, das Haus „Vaterland“, Aufklärungslokale, Zeitungskioske und Parteibüros in Brand gesteckt oder demoliert.
Die Haltung der Volkspolizei war vielfach zweideutig. Zahlreiche Volkspolizisten gingen zu den Streikenden über. Infolgedessen [S. 128]wurden bald Volkspolizisten nur zusammen mit Rotarmisten eingesetzt. Aber auch Teile der Besatzungsarmee sympathisierten vereinzelt offensichtlich mit den Demonstranten. Um 18 Uhr teilte das Presseamt beim Ministerpräsidenten mit, daß der Regierungsbeschluß über die Normenerhöhung aufgehoben sei. Ab 21 Uhr herrschte in Ostberlin die durch den Ausnahmezustand erzwungene Ruhe. Die Sektorengrenzen waren völlig abgeschlossen.
Die Nachricht von den Berliner Ereignissen verbreitete sich wie ein Lauffeuer in der Zone, und in fast allen größeren Städten machte sich der Volkszorn in ähnlicher Weise Luft. Wo sowjetische Truppen nicht sofort zur Verfügung standen, erzielten die Demonstranten teilweise beträchtliche Erfolge. Industriewerke, Verwaltungszentren und Gerichtsgebäude befanden sich vielfach völlig in ihrer Hand, Gefängnisse und Zuchthäuser wurden gestürmt, politische Gefangene befreit. Nach Verhängung des Ausnahmezustandes wurde der Aufstand meist durch sowjetische Truppen niedergeschlagen.
Der J. nat der SU und dem westlichen Ausland den moralischen Zusammenbruch des SED-Regimes und die Unmöglichkeit, die SBZ zu bolschewisieren, unwiderleglich bewiesen. Er hat ferner die weit verbreitete Auffassung widerlegt, daß Volkserhebungen in totalitären Systemen unmöglich seien. Ohne das Eingreifen der Besatzungsmacht hätte der Aufstand, obschon er in keiner Weise vorbereitet war und ihm jede zentrale Führung fehlte, wahrscheinlich zum Sturz des SED-Regimes geführt. Während des Aufstandes zeigte das Regime sich entschlußlos, erschrocken und konzessionsbereit. Viele Funktionäre gingen zu den Aufständischen über. Nach Festigung der Lage jedoch versuchte man die katastrophale moralische Schlappe des Regimes durch die Sprachregelung zu vertuschen, der Aufstand sei von „westlichen Provokateuren und Agenten“ inszeniert worden.
Die Verluste des J. sind noch nicht genau bekannt. Der damalige Staatssicherheitsminister Zaisser gab am 25. 6. folgende Zahlen bekannt: 4 Volkspolizisten und 21 Zivilisten getötet, 191 Volkspolizisten und 187 Zivilisten verletzt. Die tatsächlichen Verluste liegen jedoch erheblich höher. Zu ihnen sind noch die standrechtlich Erschossenen, darunter auch völlig Unbeteiligte, und die wegen Gehorsamsverweigerung hingerichteten Volkspolizisten und Rotarmisten zu zählen.
Literaturangaben
- Brant, Stefan: Der Aufstand — Vorgeschichte, Geschichte und Deutung des 17. Juni 1953. Stuttgart 1954, Steingrüben Verlag. 325 S. m. 1 Karte u. zahlr. Tafeln.
- Riess, Curt: Der 17. Juni. Berlin 1954, Ullstein. 260 S.
Fundstelle: SBZ von A bis Z. Dritte, überarbeitete und erweiterte Auflage, Bonn 1956: S. 127–128