DDR von A-Z, Band 1956

Theorie des Marxismus-Leninismus-Stalinismus (1956)

 

 

Siehe auch:

 

[S. 259]

 

1. Theorie und Praxis. Parteimäßigkeit der Theorie.

 

 

Die europäischen Philosophen suchen seit den Griechen die Wahrheit zu erkennen. Dagegen sagt Marx: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern.“ Marx und Engels haben ihre Analyse des Kapitalismus zugleich mit der Zielsetzung unternommen, die Aufstellung sozialer Gesetzmäßigkeiten dem revolutionären Handeln dienstbar zu machen. Auf dieser Linie hat sich der Marxismus zum Leninismus und Stalinismus weiterentwickelt. Alle theoretischen Streitigkeiten der Bolschewisten werden stets in dem Sinne entschieden, daß die Theorie mit der jeweils gebotenen revolutionären Praxis in Übereinstimmung sein muß. Ebenso gilt aber auch das Gegenteil: Weil die Theorie revolutionär ist, kann die revolutionäre Praxis auf die Theorie begründet werden. „Ohne revolutionäre Theorie kann es keine revolutionäre Bewegung geben“ (Lenin).

 

Die Theorie des Marxismus stützt sich auf die Hegelsche Dialektik. Hegel erklärte das Weltgeschehen als eine Entwicklung, die durch Widersprüche in den Dingen selbst vorwärtsgetrieben wird; der Gegensatz, das plötzliche Umschlagen, der „Sprung“ sei die Form der Weltentwicklung. In dieser Entwicklung und durch diese gelange der Geist zum Bewußtsein seiner selbst. Marx übernimmt von Hegel die dialektische Methode der Widersprüche und des revolutionären Sprunges, setzt aber an die Stelle des Geistes die Materie. Er betrachtet die Bewegung der Dinge nicht „von oben“, vom Bewußtsein, sondern „von unten“, vom Materiellen her. Seine Theorie ist also zugleich dialektisch und materialistisch. Stalin sagt von der Weltanschauung der marxistisch-leninistischen Partei, sie sei dialektisch der Methode nach und marxistisch der Deutung nach. — Sehr oft wird das Wort „dialektisch“ freilich nur in dem Sinne gebraucht, daß man die Theorie und die Praxis, die eine Seite und die entgegengesetzte, berücksichtigen müsse. Auf diese Weise wird die Dialektik zu einer bloß formalen Technik des Denkens. Was wahr und falsch, richtig und unrichtig ist, wird nicht durch das Denken (das Bewußtsein), sondern durch die Partei entschieden. Die Partei steuert den theoretischen wie den praktischen Kurs zwischen den möglichen Abweichungen hindurch. Wer sich z. B. der Kolchospolitik widersetzt, weil er den Bauern erhalten will, macht sich einer „Rechtsabweichung“ schuldig. Wer sich zuviel mit Begriffen wie Dialektik, Revolution, Entwicklung usw. beschäftigt, kann der „Linksabweichung“, d. h. eines „phrasenhaften Revolutionarismus“, beschuldigt werden. Was jeweils richtig ist, kann nur von der obersten Stelle bestimmt werden. Wer bestrebt ist, die „Wahrheit zu erkennen“, stellt sich damit außerhalb des Kampfes, der von der kommunistischen Partei geführt wird. Die „Wahrheit“ ist für den Kommunisten nicht zeitlos, sondern zeitgebunden, sie fällt mit seinem zukünftigen Siege zusammen. In der klassenlosen Gesellschaft sollen Theorie und Praxis eins sein. Bis dahin, wird erklärt, ist der Objektivismus (Abweichungen) bürgerlich und reaktionär; bis dahin würden wir um so objektiver erkennen, je entschiedener wir uns auf den Standpunkt des kämpfenden Proletariats stellen.

 

2. Bourgeoisie und Proletariat. Klassenkampf.

 

 

Unter dem Kapitalismus versteht Marx die auf dem Privateigentum an Produktionsmitteln beruhende Wirtschaftsweise. Erst im Zeitalter der „großen Industrie“ (d. h. der Maschinenindustrie) habe der Kapitalismus [S. 260]seine moderne Form erreicht. Diese höchste Erscheinungsform des Kapitalismus sei zugleich seine letzte. Denn der Zustand der Gesellschaft sei unter dem Kapitalismus derartig unversöhnlich gegensätzlich (antagonistisch), daß er sich notwendig auflösen und in einen anderen Zustand übergehen müsse. Die Klasse derer, die keinen Anteil an den Produktionsmitteln besitzen und nur ihre Arbeitskraft zu Markte tragen, und die Klasse derer, die über alle Produktionsmittel einschließlich dieser Arbeitskraft verfügen, also einerseits Proletariat und andererseits Bourgeoisie, stehen sich, sagte Marx, in unversöhnlichem Kampf gegenüber. In der industriellen Gesellschaft gelange dieser Klassenkampf (Materialistische Geschichtsauffassung) auf seinen Höhepunkt.

 

An sich sei die Bourgeoisie positiv und notwendig, denn sie sei fortschrittlich (progressiv), ja revolutionär in der Geschichte der Menschheit gewesen: „Die Bourgeoisie hat in ihrer kaum hundertjährigen Klassenherrschaft massenhaftere und kolossalere Produktionskräfte geschaffen als alle vergangenen Generationen zusammen. Unterjochung der Naturkräfte, Maschinerie, Anwendung der Chemie auf Industrie und Ackerbau, Dampfschiffahrt, Eisenbahnen, elektrische Telegraphen, Urbarmachung ganzer Weltteile, Schiffbarmachung der Flüsse, ganze aus dem Boden hervorgestampfte Bevölkerungen — welches frühere Jahrhundert ahnte, daß solche Produktionskräfte im Schoße der gesellschaftlichen Arbeit schlummerten“ (Kommunistisches Manifest).

 

Der Kapitalismus sei ein durchdachtes System der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen. Indem sich aber der Kapitalismus entwickele, bringe er nicht nur Maschinen und Waren in immer größeren Mengen hervor, sondern er erzeuge auch das Heer der Proletarier, die er um ihren Lohn betrüge, indem er ihnen zugleich die letzte Reserve an Arbeitskraft auspresse. „Mit der Entwicklung der großen Industrie wird also unter den Füßen der Bourgeoisie die Grundlage selbst hinweggezogen, worauf sie produziert und die Produkte sich aneignet. Sie produziert vor allem ihren eigenen Totengräber. Ihr Untergang und der Sieg des Proletariats sind gleich unvermeidlich“ (Kommunistisches Manifest).

 

Zunächst sahen Marx und Engels nur den von Krisen geschüttelten Konkurrenz-Kapitalismus des 19. Jahrhunderts vor sich und warteten von Jahr zu Jahr auf die endgültige letzte „Handelskrise“, die das Proletariat in den Besitz der Produktionsmittel bringen sollte. Aus dem Schicksal der Kommune von Paris (d. h. der Herrschaft des sozialistischen Gemeinderats in Paris von März bis Mai 1871) und deren blutigem Ende zogen sie die Lehre, daß die Bourgeoisie nur durch Gewalt enteignet werden könne. „Die Arbeiterklasse kann nicht die fertige Staatsmaschinerie einfach in Besitz nehmen und diese für ihre eigenen Zwecke in Bewegung setzen“ (Adresse des Generalrats). Da der Staat nur eine Maschine zur Unterdrückung einer Klasse durch die andere sei, müsse zuvor die alte Staatsmaschine zerschlagen werden, wenn eine neue Gesellschaft entstehen soll. Im „Kapital“ hatte Marx geschrieben: „Die Gewalt ist der Geburtshelfer jeder alten Gesellschaft, die mit einer neuen schwanger geht. Sie selbst ist eine ökonomische Potenz“ (I. Bd., Volksausg., S. 680).

 

3. Materialistische Geschichtsauffassung.

 

 

Die auf den Begriffen Kapitalismus, Bourgeoisie, Proletariat und Klassenkampf aufgebaute Theorie wurde von Marx und Engels den vorhandenen sozialistischen Theorien als „kommunistisch“ (Bolsche[S. 261]wismus) entgegengesetzt. Sie nannten die älteren, aus einer unklaren Sehnsucht nach einer allgemeinen Umgestaltung der Gesellschaft hervorgegangenen Theorien, die nur unzulängliche ökonomische Vorschläge und moralische Forderungen brachten, utopistisch (Utopie). Die eigene Theorie dagegen, die auf eine ökonomische Analyse der kapitalistischen Gesellschaft gegründet war, nannten sie wissenschaftlich. Die Formel für ihre Zielsetzung haben Marx und Engels jedoch dem älteren Sozialismus entnommen: Jeder solle nach seinen Fähigkeiten produzieren und nach seinen Bedürfnissen genießen.

 

Die Wirkung der marxistischen Theorie beruht darauf, daß sie aus einer einheitlichen „materialistischen“ Geschichtsauffassung hervorgeht, die den Anschein erweckt, daß jedem politischen und geistigen Ereignis sein Platz in einem allumfassenden notwendigen Geschehen angewiesen werden könne. Rechtsverhältnisse und Staatsformen, Wissenschaft, Philosophie und Kunst, so wird von Marx gelehrt, seien nicht aus der „sogenannten allgemeinen Entwicklung des menschlichen Geistes“ zu begreifen, sondern wurzelten in den „materiellen Lebensverhältnissen“. Der Mensch müsse wohnen, sich ernähren und kleiden, bevor er denken könne. Die tägliche Produktion und Reproduktion seines materiellen Daseins, seiner Basis, sei nicht ein nebensächliches Geschäft, sondern in der Tat die Grundlage seiner ganzen Existenz. Um diese Existenz materiell produzieren zu können, müsse sich der Mensch in Verhältnisse der Abhängigkeit begeben. „Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt“ (Einl. z. Kritik d. pol. Ökonomie).

 

Die Revolution, die zur klassenlosen Gesellschaft führen soll, könne weder durch den bloßen guten Willen der Proletarier herbeigeführt noch durch den bösen Willen der Bourgeoisie verhindert werden. In den Verhältnissen selber stecke die Dialektik, die den Untergang der alten Klasse und den Aufstieg des Proletariats herbeiführe. Nicht um die Verwirklichung von „Idealen“ oder von wirtschaftlichen „Programmen“ handele es sich, sondern um die Vollstreckung dessen, was in der antagonistischen Struktur der kapitalistischen Gesellschaft angelegt sei.

 

4. Staat und Revolution.

 

 

Im Jahre 1864 haben Marx und Engels in London die „Internationale Arbeiterassoziation“ gegründet, die später den Namen der I. Internationale erhielt. Die nach deren Auflösung gegründete II. Internationale suchte das revolutionäre Element aus dem Marxismus zu entfernen und aus der Lehre von Marx und Engels ein evolutionäres, rein „ökonomisches“ System zu machen. Ihre Politik bestand darin, die Lage der Arbeiter zu verbessern und sich für demokratische Regierungsformen einzusetzen. Die Formel für diesen Revisionismus (Abweichungen) gab der deutsche Sozialdemokrat Eduard Bernstein mit den Worten: „Der Weg ist alles, das Ziel ist nichts.“ In die Theorie strömten idealistische, vor allem Kantische Elemente ein. Man zog es mehr und mehr vor, nicht mehr von der materialistischen, sondern von der ökonomischen Geschichtsauffassung zu reden.

 

[S. 262]Gegen diese staatspolitisch verantwortungsbewußten Bemühungen der II. Internationale kämpfte mit Erfolg Lenin, der spätere Begründer der III. Internationale (Kommunistische Internationale = Komintern). Seine für die Entwicklung des Marxismus entscheidende Abrechnung mit dem Revisionismus gab Lenin in seiner Abhandlung „Staat und Revolution“, die er unmittelbar vor der Oktoberrevolution im Jahre 1917 verfaßte. Darin wird unter einseitiger Auslegung von Marx und Engels gezeigt, daß der Prozeß, der zur klassenlosen Gesellschaft (Materialistische Geschichtsauffassung) führt, den revolutionären Terror als notwendiges Moment in sich einschließt. Die Lehre von der Dialektik, von dem in „Sprüngen“ sich vorwärts bewegenden geschichtlichen Prozeß, wird von Lenin wieder in den Mittelpunkt der revolutionären Theorie gerückt, nachdem sie vom Revisionismus als eine hegelianisierende Schwäche Marx' abgetan worden war. Alle opportunistischen oder demokratischen Auffassungen wurden von Lenin rücksichtslos ausgemerzt. Die Philosophie fand dabei besondere Berücksichtigung. Im Jahre 1908 befaßte sich Lenin in seinem Buch „Materialismus und Empiriokritizismus“ in aggressiver Weise mit den philosophischen Theorien russischer Marxisten, die sich dem westlichen Positivismus zuneigten. Nach Lenins Tode wurden Auszüge und Randglossen zu Hegels „Logik“ aus seinem Nachlaß veröffentlicht (Lenin, „Aus dem philosophischen Nachlaß“, 2. Aufl. Berlin 1949). In der materialistisch aufgefaßten Dialektik Hegels sah Lenin den Schlüssel zur Lösung aller wissenschaftlichen Probleme.

 

Die marxistische Lehre vom Staat, so behauptet Lenin, sei durch den Revisionismus entstellt worden. Erst nach der sozialistischen Revolution „stirbt der Staat ab“. Der bürgerliche Staat schläft nicht von selber ein, wie der Opportunismus der Sozialdemokraten gelehrt habe, er müsse von den Proletariern beseitigt werden. „Die Ablösung des bürgerlichen Staates durch den proletarischen ist ohne gewaltsame Revolution unmöglich“ (Lenin, Ausg. Werke, Moskau 1947, Bd. II, S. 173). Da jeder Staat nach der sozialistischen Auffassung, die von Marx und Engels geteilt wird, eine Diktatur ist, so bedeutet Diktatur des Proletariats nichts anderes als den Staat des Proletariats, der dazu bestimmt ist, den Staat der Bourgeoisie abzulösen. Der Ausdruck „Diktatur des Proletariats“ ist zuerst von Marx in seiner „Kritik des Gothaer Programms“ (1875) gebraucht worden. Aber schon im „18. Brumaire“ hat Marx den Gedanken von der notwendigen Zerstörung der alten Staatsmaschinerie angedeutet, was von Lenin als ein gewaltiger Schritt über das Kommunistische Manifest hinaus ausgelegt wird („Staat und Revolution“, Ausg. W. II, S. 177).

 

Der entscheidende Motor der revolutionären Umgestaltung ist für Lenin die straff organisierte, aus einer aktiven Minderheit (zunächst den sog. „Berufsrevolutionären“) bestehende proletarische Partei, die als „Avantgarde der Arbeiterklasse“ in diese erst das revolutionäre Bewußtsein hineinträgt, sie organisiert und über sie hinaus (Bündnispolitik) eine Fülle weiterer Gruppen dem revolutionären Anliegen dienstbar macht.

 

Die Diktatur des Proletariats wird von Lenin lediglich als erste Phase der kommunistischen Gesellschaft aufgefaßt. In dieser Phase, „die gewöhnlich Sozialismus genannt wird“, bestehe zwar schon das Gemeineigentum in bezug auf die Produktionsmittel, das bürgerliche Recht sei aber noch nicht ganz abgeschafft. Kommunismus sei das nicht. „Solange es einen Staat gibt, gibt es keine Freiheit. Wenn es [S. 263]Freiheit geben wird, wird es keinen Staat geben“ („Staat und Revolution“, Ausg. W. II, S. 230 u. 231). Die klassenlose Gesellschaft ist die Gesellschaft der Freiheit. Wenn die Arbeiter selber die Großproduktion organisieren, dann entsteht — mit dem Absterben jedes Vorgesetztenwesens und Beamtentums — eine neue Ordnung, eine „Ordnung ohne Gänsefüßchen“, als deren Vorbild von Lenin nach dem Vorgang eines deutschen Sozialdemokraten die Postverwaltung angeführt wird („Staat u. Revolution“, Ausg. W. II, S. 195). Die Funktionen der Aufsichts- und Rechenschaftsablegung, meint Lenin, würden mit der Zeit von selbst fortfallen. „In unserem Streben zum Sozialismus sind wir überzeugt, daß er in den Kommunismus hinüberwachsen wird, und im Zusammenhang damit jede Notwendigkeit der Gewaltanwendung gegen Menschen überhaupt … verschwinden wird, denn die Menschen werden sich gewöhnen, die elementaren Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens ohne Gewalt und ohne Unterordnung einzuhalten“ („Staat und Revolution“, Ausg. W. II, S. 220). Ist die erste Phase vorüber, dann soll die sozialistische Gesellschaft klassenlos und damit staatenlos werden. Es wird hier deutlich, daß die Utopie von einer staatsfreien Gesellschaft von Lenin ebenso festgehalten wird wie von Marx und Engels. Auch nach der Oktoberrevolution hat sich bei Lenin in dieser Hinsicht nichts geändert. Auch nachdem zwei Jahre des Aufbaus „auf sozialistischer Grundlage“ vorüber waren, sprach Lenin immer noch von der neuen Ordnung, in der alles auf Freiwilligkeit aufgebaut sein würde. Kommunistische Arbeit wurde von ihm als freiwillige Arbeit ohne Norm und ohne Entlohnung bezeichnet, als Arbeit, die aus Gewohnheit und aus der zur Gewohnheit gewordenen Erkenntnis ihrer Notwendigkeit für das Gesamtwohl geleistet würde (Ausg. W. II, S. 667). Zu gleicher Zeit begründete Lenin aber in seiner Schrift über den Linksradikalismus die Notwendigkeit einer „eisernen und kampfgestählten Partei“, weil er voraussah, daß die Klassen noch „jahrelang“ bestehenbleiben würden (Ausg. W. II, S. 691).

 

Als Stalin die Herrschaft antrat, war das Problem, das Lenin ungelöst liegenlassen mußte, in der Praxis dasselbe wie in der Theorie. Es war das Problem des Staates. Ein anderer Gedankengang konnte durch Stalin unverändert von Lenin übernommen werden. Marx und Engels hatten der unter ihren Augen sich vollziehenden Umbildung des Kapitalismus aus dem Konkurrenz-Kapitalismus in den Monopol-Kapitalismus (Imperialismus) nicht genügend Beachtung geschenkt. Lenin nahm die durch Kartelle, Syndikate und Trusts geschaffene neue Gestalt des Kapitalismus in die Theorie auf und bestimmte sie als „höchste Form des Kapitalismus“. „Der Imperialismus ist das monopolistische Stadium des Kapitalismus“ (Ausg. W. II, S. 839).

 

5. Die Umgestaltung der Theorie durch Stalin.

 

 

Die Probleme, denen Stalin sich gegenübersah, ergaben sich aus der Situation: Sozialismus in einem Lande, und zwar in einem überwiegenden Agrarlande, dessen erste Anfänge einer Industrieproduktion über das Stadium dies Frühkapitalismus kaum hinausgewachsen waren. In diesem Lande fehlten also die wichtigsten, von Marx und Engels geforderten Voraussetzungen für die Einführung des Sozialismus: der Hochstand der Industrialisierung und die Masse des Proletariats. Praxis und Theorie mußten daher einer neuen Lage angepaßt werden. Die marxistisch-leninistische Theorie bedurfte also einer radikalen Umgestaltung, wenn sie einigermaßen mit der von Stalin befolgten [S. 264]Machtpolitik, einer in kürzester Zeit mit Gewalt und Terror zu erzwingenden Umgestaltung der Wirtschaft, Gesellschaft und der Einzelmenschen, übereinstimmen sollte. Diese Umgestaltung der Theorie ist in zwei Schüben (1934 und 1950) durchgeführt worden.

 

Indem Stalin, an zaristische Traditionen anknüpfend, den großen russischen Staat schuf, mußte er den letzten Rest von allgemeiner sog. „humanistischer“ Zielsetzung aus dem Kommunismus entfernen. Sein gigantischer, sich sozialistisch nennender neuer Staat gab restlos den Gedanken preis, daß das Ziel eine auf Freiwilligkeit beruhende neue Gesellschaftsordnung sei. Damit kam der auf dem Grunde der marxistisch-leninistischen Theorie lauernde Widerspruch zu offenem Ausbruch: um die Staatenlosigkeit zu erreichen, muß der ungeheuerste Staatsapparat konstruiert werden, den die Welt je gesehen hat. Daß die gigantische Sowjetmacht sich jemals wieder von selber auflösen würde, glaubt natürlich niemand, obwohl es von der offiziellen Theorie auch weiterhin unterstellt wird. Damit ist die Theorie zynisch geworden. Die philosophische Wendung im Jahre 1950 bedeutet die theoretische Rechtfertigung des Sowjetstaates und damit des Staates überhaupt, der „Repressivgewalt“, wie ihn Engels unter dem Beifall von Lenin definiert hatte.

 

Im Jahre 1934 wurde die Geschichtsschreibung (Materialistische Geschichtsauffassung) und der Geschichtsunterricht in der Sowjetunion von einem Tag zum andern unter Verfemung der internationalen, marxistischen Auffassung auf die nationale, russische Auffassung umgestellt. Der dem Marxismus unbekannte Begriff Rodina (Heimat) wurde Ausgangspunkt einer „neuen“ Ideologie, die uralte Vorstellungen von dem führenden Volk der Russen wiederbelebte. Von Klassen war hier nicht mehr die Rede. Im Jahre 1950 entzog Stalin durch einige Briefe, die er an die „Prawda“ über das Problem der Sprache schrieb (Linguistik-Briefe), der marxistisch-leninistischen Auffassung von der „Basis“ und vom „Überbau“ den Boden. Er widerlegte damit zugleich den wesentlichen Inhalt seiner früheren Schrift „über dialektischen und historischen Materialismus“.

 

In einigen entscheidenden Sätzen des ersten Linguistik-Briefes hat Stalin den Begriff des Staates als einer „aktiven Macht“ wiederhergestellt und damit die sozialistische Lehre von der Überführung der Zwangsordnung in eine neue Ordnung der Freiheit zu den Akten geschrieben. Der Revisionismus, den Lenin erledigt zu haben meinte, kehrt bei seinem Nachfolger als ein Über-Revisionismus wieder zurück. „Der Überbau wird von der Basis hervorgebracht, aber das bedeutet keineswegs, daß er die Basis lediglich widerspiegelt, daß er passiv, neutral ist, daß ihm das Schicksal seiner Basis, das Schicksal der Klassen, der Charakter der Gesellschaftsordnung gleichgültig sind. Im Gegenteil, einmal entstanden, wird er zu einer ganz gewaltigen aktiven Macht, hilft er aktiv seiner Basis, feste Formen anzunehmen und sich zu konsolidieren, trifft er alle Maßnahmen, um der neuen Gesellschaftsordnung zu helfen, der alten Basis und den alten Klassen den Rest zu geben und sie zu beseitigen“ (Stalin, „Zum Marxismus in der Sprachwissenschaft“).

 

Mit der Wiederherstellung des Staates ist die Aufhebung der revolutionären, dialektisch-materialistischen Geschichtsauffassung notwendig verbunden. Ironisch macht Stalin jenen Genossen, „die für Explosionen begeistert sind“, klar, daß das Gesetz des Umschlagens aus einer Qualität in eine neue vermittels einer Explosion nicht immer gültig [S. 265]ist. „Es ist unbedingt gültig für eine in feindliche Klassen geteilte Gesellschaft. Aber es ist durchaus nicht unbedingt gültig für eine Gesellschaft, die keine feindlichen Klassen kennt“ („Zum Marxismus in der Sprachwissenschaft“).

 

6. Umbau der Theorie seit Stalins Tod.

 

 

Die Veränderungen, denen die Theorie und Praxis des Bolschewismus seit dem Frühjahr 1953 ausgesetzt war und die zunächst im 20. Parteitag der KPdSU (Anfang 1956) mit der Ausstoßung des toten Stalin aus der Reihe der „Klassiker des Marxismus-Leninismus“ ihren Höhepunkt erreichten, haben bisher zu keiner Revision der entscheidenden Punkte der Theorie geführt. Die Betonung der Rolle der Staatsmacht ist erhalten geblieben (dementsprechend auch keine Abwertung der Lehre von der „Aktivität des Überbaues“). Die Repressionsgewalt wurde lediglich dadurch abgeschwächt, daß — unter Verdammung der These Stalins von der fortschreitenden Verschärfung des Klassenkampfes auch innerhalb der sozialistischen Weltzone — für die bolschewistischen Länder ein Abbau des innerstaatlichen Terrors (Wiederherstellung der „demokratischen Gesetzlichkeit“) postuliert wurde. Offenbar geht die Tendenz — in Fortsetzung des im Frühjahr 1953 von Malenkow proklamierten „Neuen Kurses“ — dahin, die Volksmassen bei unverminderter Aufrechterhaltung von Partei-, Staats- und Militärgewalt stärker für das Regime zu gewinnen. Die Umakzentuierung betrifft dementsprechend in erster Linie die Außenpolitik (Koexistenz, Sonderwege, Lager) und das innere Gefüge der politischen Willensbildung (Kollektive Führung, Personenkult), die gemäß den von Lenin gegebenen Normen des Parteilebens durchgeführt werden soll. Dabei bleibt das Prinzip des demokratischen Zentralismus als Norm der Willensbildung ebenso erhalten wie die weltrevolutionäre Zielsetzung. Lediglich mit veränderter Einschätzung der Weltlage hat sich die Taktik gewandelt. Doch gibt es Hinweise auf eine Abkehr vom großrussischen Imperialismus Stalins, auf Liberalisierungstendenzen in der Wissenschaft und auf einen Stil größerer Toleranz und verstärkter Sozialstaatlichkeit in der UdSSR selbst und einigen Satelliten, ohne daß indes das Gefüge des Ostblocks gelockert worden wäre.

 

Literaturangaben

  • Andreas, Theodor: Zur Widerlegung des dialektischen und historischen Materialismus. Pfaffenhofen/Ilm 1954, Ilmgau-Verlag. 114 S.
  • Berdiajew, Nikolai: Wahrheit und Lüge des Kommunismus. Darmstadt 1953, Holle-Verlag. 128 S.
  • Bochenski, Joseph M.: Der sowjetrussische dialektische Materialismus (Diamat). Bern 1950, Francke. 213 S.
  • Bochenski, Joseph M.: Die kommunistische Ideologie … Bonn 1956, Bundeszentrale für Heimatdienst. 75 S.
  • Buchholz, Arnold: Ideologie und Forschung in der sowjetischen Naturwissenschaft (Schriftenreihe Osteuropa Nr. 1). Stuttgart 1953, Deutsche Verlagsanstalt.
  • Fetscher, Iring: Von Marx zur Sowjetideologie (Sozialkundebriefe … hrsg. v. d. Hessischen Landeszentrale für Heimatdienst, April–Juni 1956) 20 S.
  • Gollwitzer, Helmut, und Gerhard Lehmbruch: Kleiner Wegweiser zum Studium des Marxismus-Leninismus. 2., erw. Aufl., Bonn 1957. 24 S.; 3. Aufl. 1958.
  • Karisch, Rudolf: Der Christ und Stalins Dialektischer Materialismus. Berlin 1954, Morus-Verlag. 157 S.
  • Lange, Max Gustav: Marxismus — Leninismus — Stalinismus. Stuttgart 1955, Ernst Klett. 210 S.
  • Lieber, Hans-Joachim: Die Philosophie des Bolschewismus in den Grundzügen ihrer Entwicklung (Staat u. Gesellschaft, Bd. 3) Frankfurt a. M. 1956, Moritz Diesterweg. Etwa 107 S.
  • Marxismusstudien, Sammelband, hrsg. v. E. Metzke. Tübingen 1954, Mohr. 243 S.
  • Mehnert, Klaus: Weltrevolution durch Weltgeschichte. Die Geschichtslehre des Stalinismus. 2. Aufl. (Schriftenreihe Osteuropa Nr. 1) Stuttgart 1953, Deutsche Verlagsanstalt. 92 S.
  • Milosz, Czeslaw: Verführtes Denken (mit Vorw. von Karl Jaspers). Köln 1955, Kiepenheuer und Witsch. 239 S.
  • Stalin: Über dialektischen und historischen Materialismus (vollst. Text, m. krit. Kommentar von Iring Fetscher). Frankfurt a. M. 1956, Moritz Diesterweg. 126 S.
  • Wetter, Gustav A.: Der dialektische Materialismus. Seine Geschichte und sein System in der Sowjetunion. Freiburg 1952, Herder. 647 S.

 

Fundstelle: SBZ von A bis Z. Dritte, überarbeitete und erweiterte Auflage, Bonn 1956: S. 259–265


 

Information

Dieser Lexikoneintrag stammt aus einer Serie von Handbüchern, die zwischen 1953 und 1985 in Westdeutschland vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (ab 1969 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen) herausgegeben worden sind.

Der Lexikoneintrag spiegelt den westdeutschen Forschungsstand zum Thema sowie die offiziöse bundesdeutsche Sicht auf das Thema im Erscheinungszeitraum wider.

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