DDR von A-Z, Band 1958

Volksarmee, Nationale (1958)

 

 

Siehe auch:


 

Bezeichnung für die aus der früheren Kasernierten Volkspolizei hervorgegangenen Streitkräfte der „DDR“. Am 18. 1. 1956 wurde in der 10. Vollsitzung der Volkskammer das „Gesetz über die Schaffung der NVA und des Ministeriums für Nationale Verteidigung“ verabschiedet: Die Armee sei „für die Erhöhung der Verteidigungsfähigkeit und die Sicherheit der DDR“ notwendig. Sie besteht aus Land-, Luft- und Seestreitkräften. „Die zahlenmäßige Stärke wird begrenzt entsprechend den Aufgaben zum Schutze des Territoriums der DDR, der Verteidigung ihrer Grenzen und der Luftverteidigung.“ Für den Aufbau der NVA sind im Haushaltsplan 1958 980,0 Mill. DM Ost vorgesehen; tatsächlich liegen die Kosten der Remilitarisierung der SBZ aber höher: von 1948–1955 sind — ohne daß sie im Staatshaushalt erschienen — mehr als 30 Milliarden DM Ost ausgegeben worden. Verteidigungsminister: Generaloberst Stoph. Die „rechtlichen“ Voraussetzungen für den Aufbau einer Armee in der SBZ wurden am 26. 9. 1955 durch eine Verfassungsergänzung geschaffen, derzufolge der „Dienst zum Schutze des Vaterlandes und der Errungenschaften der Werktätigen“ zur „nationalen Ehrenpflicht der Bürger der DDR“ gemacht wird.

 

Bei der Annahme des Gesetzes über die Uniform der NVA betonte Generaloberst Willi Stoph am 18. 1. 1956 die Ausstattung der NVA „mit einer Uniform, die im Farbton, Schnitt und in der Trageweise der nationalen Tradition des deutschen Volkes entspricht“. Er versuchte, der taktisch-volkspsychologisch gewählten Wiedereinführung der alten feldgrauen Wehrmachtsuniform einen zugleich kommunistischen und nationalrevolutionären Sinn zu unterschieben: Es kämpften „in diesen Uniformen, mit roten Abzeichen aber, … Arbeiter und Bauern gegen die … Reichswehr. In diesen Uniformen traten … Offiziere und Soldaten im Nationalkomitee Freies Deutschland gegen die hitlerfaschistische Armee auf“.

 

Das Ministerium für Nationale Verteidigung in Strausberg (ostwärts von Berlin) ist der vormalige Stab der Kasernierten Volkspolizei (KVP). Seit dem Zeitpunkt, zu dem die NVA ihren Decknamen KVP ablegte, änderte sich ihre Gliederung im großen kaum, auch wuchsen Zahl und Kopfstärken ihrer Einheiten nur wenig an. Im Jahre 1957 wurden eine Flak-Div. und die 4. Flieger-Div. neu aufgestellt, ferner ist die Aufstellung neuer Marineverbände zu erwähnen. Die schon vor 1956 ausgebildete Politschulung änderte sich ebenfalls nicht, wenn auch ihr Netzwerk genauso zielbewußt verfeinert und verstärkt wurde wie das in der NVA aufgezogene Spitzel- und Zuträgerwesen des Staatssicherheitsdienstes.

 

Das Ministerium für Nationale Verteidigung ist oberste Kommandobehörde für die ganze NVA einschließlich Luftwaffe und Marine. Der Chef des Stabes des Ministeriums für Nationale Verteidigung hat im Aufträge des Ministers Weisungsrecht über das Heer (das kein besonderes Oberkommando hat), die Luft- und die Seestreitkräfte. Die Politverwaltung untersteht dem Minister wie auch dem ZK der SED unmittelbar. — Die Gesellschaft für ➝Sport und Technik untersteht seit 1. 3. 1956 dem Verteidigungsministerium. Von ihm wird auch die als Amt für Technik getarnte Leitung der Rüstungsproduktion gelenkt.

 

Auf dem Papier geblieben ist die Propaganda-Ankündigung des Ministerrates der „DDR“ vom 28. 6. 1956, die NVA würde von 120.000 auf 90.000 vermindert (Militärpolitik). Diese Ankündigung dürfte wohl deshalb erfolgt sein, weil der Mangel an Arbeitskräften in Stadt und Land eine wesentliche Vergrößerung der NVA zunächst verhindert. Zum Ausgleich dafür hat die NVA ihre Feuerkraft durch bessere Ausstattung mit Geschützen, Pan[S. 333]zern, Selbstfahrlafetten (Sturmgeschützen) und Infanterie-Begleitwaffen verstärken können. Die Ausbildung für eine Abwehr von Atomwaffen wird seit 1955 betrieben, die Divisionen haben je eine Atomschutz-Kompanie. (Eine Ausbildung an Atomgeschützen und Raketenwerfern, wie sie die Sowjetarmee besitzt, ist sehr wahrscheinlich.)

 

Seit 1956 lassen SED und NVA Zirkel und Komitees der Reservisten, d. h. der seit 1946 in den bewaffneten Organen Ausgebildeten, bilden. Sie sollen sich als Ausbilder in der GST und in den Kampfgruppen betätigen. Seit Ende 1957 werden diese Reservisten von den Kreiskommandos (Wehrmeldeämtern) listenmäßig erfaßt. Als Reserve der NVA sollen sie regelmäßig zu. Übungen einberufen werden. Auch werden gerade die Reservisten bei der Werbung für die NVA eingespannt. Diese Werbung geschieht wie schon vor 1956 unter einem als „freiwillig“ getarnten Zwang (Wehrpflicht). Die Dienstzeit beträgt zwei Jahre.

 

Seit Generalleutnant Vincenz ➝Müller seinen Dienst als Chef des Stabes für Nationale Verteidigung nicht mehr ausüben darf, seit Nov. 1957, dürfte General Heinz ➝Hoffmann (zumindest inoffiziell) als Befehlshaber des Heeres tätig sein. — Das Heer gliedert sich in Armeekorps Nord (amtlich: Militärbezirk V) und Süd (Militärbezirk III). Die Militärbezirke I, II, IV (Rostock, Magdeburg, Frankfurt/Oder) bestehen nur verwaltungsmäßig und haben keine Truppen unter sich. Zu Nord (Sitz Neubrandenburg) gehören die 6. (teilmechanisierte) mot. Schützen-Div. (Prenzlau), 8. (teilmechanisierte) mot. Schützen-Div. (Schwerin), 9. Panzer-Div. (Eggesin, südlich Ockermünde); dazu kommen Korpstruppen. — Zu Süd (Sitz Leipzig) gehören. 4. (teilmechanisierte) mot. Schützen-Div. (Erfurt), 11. (teilmechanisierte) mot. Schützen-Div. (Halle), 7. Panzer-Div. (Dresden); dazu kommen Korpstruppen. — Dem Verteidigungsministerium unterstehen unmittelbar: die 1. (teilmechanisierte) mot. Schützen-Div. (Potsdam), das Wachregiment und 5 Regimenter Heerestruppen. (Die mot. Schützen-Div. können nur als „teilmechanisiert“ bezeichnet werden, da nur ein Teil ihrer Verbände „mechanisiert“, d. h. mit Kettenfahrzeugen versehen ist.)

 

Die Bewaffnung mit modernen Kanonen und Haubitzen (bis zu 15,2 cm), Flak (bis zu 10 cm), Granatwerfern (bis zu 12 cm) und Salvengeschützen wurde verstärkt. Geschützzahl: rund 1.500, Granatwerferzahl: rund 900. — Moderne schwere und mittelschwere sowjetische Panzer, Sturmgeschütze auf Selbstfahrlafette, Panzerspähwagen und Schützenpanzerwagen, dazu Schwimmpanzer, werden mehr und mehr geliefert. Zahl der Panzer: rund 1.000; der Sturmgeschütze: rund 450; der Panzerwagen: 600. Dem Ministerium unterstehen die Offiziers-Schulen für die verschiedenen Waffengattungen, die Kriegsakademie (Dresden), die Kadettenanstalt (Naumburg), die Militärärzte-Akademie (Greifswald) und die Polit-Offiziersschule (Berlin-Treptow).

 

Die Verwaltung (= Kommando) der Luftstreitkräfte sitzt in Cottbus, Chef: Generalmajor Heinz ➝Kessler. Ihr unterstehen die 1. Flieger-Div. (Cottbus), 2. Flieger-Div. (Drewitz bei Cottbus), 3. Flieger-Div. (Bautzen), 4. Flieger-Div. (Preschen bei Guben), dazu die als technische Basen bezeichneten Flugplätze mit Flugplatz-Bataillonen. Die Luftwaffe hat eigene Lehranstalten. — Sie hat etwa 350 Flugzeuge YAK 18 und YAK 11 und rund 350 MIG-Düsenjäger. — Die Flak-Div. scheint einer eigenen Verwaltung (= Kommando) der Luftverteidigung zu unterstehen.

 

Die Verwaltung (= Kommando) der Seestreitkräfte sitzt in Rostock. Chef: Vizeadmiral Waldemar ➝Verner. Ihr unterstehen 1 Küstensicherungs-Div., 2 Minenleg- und Räumboot-Div., 1 Räumbootabt., 1 Räumbootpinassen-Div., 1 Hilfsschiff-Abt., 1 Bergungs- und Rettungskommando, 1 Schiffsstammabt. 1 Pioniereinheit und einige Spezialeinheiten, 1 Marineoffiziersschule, 1 Unterführerschule, 1 Ingenieur-Offiziersschule, 1 Nachrichtenoffiziersschule. Sie verfügt über etwa 120 Seefahrzeuge.

 

Stärke der NVA: mindestens 110.000 Mann, davon Luftwaffe 11.000 und Seestreitkräfte 10.000. (Nach ernst zu nehmenden Schätzungen zählt sie sogar 130.000 Mann, da die Verfügungstruppen des Ministeriums und der Armeekorps und das Stammpersonal der Schulen allein etwa 20.000 Mann ausmachen.) Zahl der Reservisten: rund 80.000 (einschließlich derer, die in der ehem. KVP, der Grenzpolizei und der Bereitschaftspolizei gedient haben).

 

Als Ersatz für die früheren Blätter der KVP gibt das Verteidigungsministerium seit Sept. 1956 die Halbwochenzeitung „Die Volksarmee“ heraus. — Im Verlag dieses Ministeriums erscheinen viele Broschüren, Abenteuer-Hefte und militärische Schriften, z. T. aus dem Russischen übersetzt.

 

Literaturangaben

  • Bohn, Helmut: Armee gegen die Freiheit — Dokumente und Materialien zur Ideologie und Aufrüstung in der Sowjetzone. Köln 1956, Markus-Verlag. 241 S.
  • Kopp, Fritz: Chronik der Wiederbewaffnung in Deutschland, Rüstung der Sowjetzone — Abwehr des Westens (Daten über Polizei und Bewaffnung 1945 bis 1958). Köln 1958, Markus-Verlag. 160 S.
  • Die Kasernierte Volkspolizei in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands (Denkschrift). (BMG) 1954. 44 S. m. 6 Anlagen.

 

Fundstelle: SBZ von A bis Z. Vierte, überarbeitete und erweiterte Auflage, Bonn 1958: S. 332–333


 

Information

Dieser Lexikoneintrag stammt aus einer Serie von Handbüchern, die zwischen 1953 und 1985 in Westdeutschland vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (ab 1969 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen) herausgegeben worden sind.

Der Lexikoneintrag spiegelt den westdeutschen Forschungsstand zum Thema sowie die offiziöse bundesdeutsche Sicht auf das Thema im Erscheinungszeitraum wider.

Ausführliche Informationen zu den Handbüchern finden Sie hier.