DDR von A-Z, Band 1958

Gesundheitswesen (1958)

 

 

Siehe auch die Jahre 1953 1954 1956 1959 1960 1962 1963 1965 1966 1969 1975 1979 1985

 

[S. 116]Im Umbau des G. wurden die Entwicklungsphasen der SU zusammengedrängt wiederholt: 1946 brachte die Bekämpfung von Tuberkulose und Geschlechtskrankheiten die Zusammenfassung von Vorsorge und Behandlung (entgegen der deutschen Tradition) in „Beratungsstellen“; 1946 wurde den Stadt- und Landkreisen die Errichtung von Polikliniken und Landambulatorien, der Industrie die von Betriebspolikliniken und -ambulatorien (Betriebsgesundheitswesen) aufgegeben, ab 1949 die Vorbeugung in die Arbeit dieser „Staatlichen Behandlungseinrichtungen“ einbezogen und ihre Verbindung mit Krankenhäusern eingeleitet. Ab 1950 folgte der Ausbau der fachlich gegliederten Vorbeugung in Beratungsstellen (russ. Dispensaire). Die zunächst sich uberschneidenden zwei Systeme der regional (nach Wohnbezirken oder Betrieben) abgegrenzten Behandlungsstellen, die auch Vorbeugung treiben (Polikliniken), und der fachlich gegliederten Beratungsstellen, die auch behandeln, wurden 1952 unter der Führung der Poliklinik als Leitorgan jedes Kreises koordiniert.

 

Stärkste Förderung haben die Einrichtungen für Mütter und Kinder erfahren: Frauenberatungsstellen (Schwangerschaftsverhütung, Schulung in der Säuglingspflege, Rechtsberatung usf.), Schwangerenberatung, systematische Förderung der Anstaltsentbindung (1956: 75 v. H. aller Entbindungen in Krankenhäusern und Heimen; Soll der Bettenkapazität 1960 ausreichend für ausschließliche Anstaltsentbindung), Frühgeburtendienst, Frauenmilchsammelstellen und Milchküchen zur Minderung der Säuglingssterblichkeit, dazu ein dichtes Netz von Krippen und Kindertagesstätten unter ärztlicher Aufsicht für die Kinder der zahlreichen erwerbstätigen Frauen, Hauspflege für den Fall ihrer Erkrankung (DRK). Alles dies entsteht (wie in der SU) auch auf dem Lande. Weiter Ausbau der Schulgesundheitspflege bis zum Ende des Berufsschulalters (Jugendarzt) mit ausgedehnten Maßnahmen der Erholungsfürsorge (besonders durch die Betriebe), Jugendzahnpflege und ärztlicher Überwachung des Sports. In allen Kreisen bestehen Krebsbetreuungsstellen mit Meldepflicht jeder Erkennung und Überwachung der Behandlung. Ähnlich für Diabetes; für weitere Krankheiten (Rheumatismus, Kreislauf) in Vorbereitung. Dem Betriebsgesundheitswesen ist neben Behandlung und Betriebshygiene die Verhütung und Früherfassung von Berufskrankheiten und Arbeitsschäden unter Kontrolle der Arbeitssanitätsinspektionen aufgetragen (Akademie für Sozialhygiene).

 

Das alles entspricht Punkt für Punkt dem G. der SU: ein umfassendes und rationelles System von Vorbeugung und Behandlung unter Betonung der ersten, zu Gunsten der Entwicklung und Erhaltung gegenwärtiger und zukünftiger Arbeitskraft — eine Konzeption von bemerkenswerter Geschlossenheit. Aber der Absicht, der Verhütung von Erkrankungen, steht entgegen, daß Leerlauf und Fehlleitung von Arbeitskräften, vor allem durch Aufblähung der Bürokratie, die Einspannung aller erreichbaren Arbeitskräfte fordern und insbesondere (angesichts des ohnehin erschwerenden Frauenüberschusses) durch Überspannung der Arbeit von Frauen und Jugendlichen unter Mißachtung elementarer Grundsätze des Arbeitsschutzes (Nacht- und Schwerarbeit der Frauen und Jugendlichen vom 17. Lebensjahr an) kaum abschätzbare Gesundheitsschäden gesetzt werden, verstärkt durch ständige nervliche Belastung (Überspannung von Normen und Prämienwesen, politi[S. 117]scher Druck), durch Mangelernährung und das Fehlen ausreichender Entspannungsmöglichkeit (ungenügende Freizeit durch Überstunden, Sonderschichten und -einsätze, politische Schulung, Sorge um den alltäglichen Lebensbedarf usf.). Der „Gesundheitsschutz“ bleibt praktisch auf die Früherfassung von Krankheiten beschränkt. Eine wertvolle, neuen psychosomatischen Erkenntnissen entsprechende Einrichtung wie das Nachtsanatorium entartet unter der alles beherrschenden Ausbeutung der Arbeitskraft.

 

Der Krankenstand läßt sich auch mit ständigem Druck nicht unter 5 v. H. senken. Die Kontrolle der Arbeitsbefreiung, seit 1953 den Staatlichen Einrichtungen übertragen, gehört zu deren schwierigsten Aufgaben. Sie verhindert sehr oft die zulängliche Behandlung. Die auffallend hohe durchschnittliche Dauer der Krankheitsfälle macht wahrscheinlich, daß weniger ein (psychologisch verständliches) Ausweichen der Arbeitnehmer als ernste Gesundheitsschäden zu Grunde liegen; hinzu kommt die Erschwerung durch lückenhafte Arzneimittelversorgung und unzulängliche Ausstattung der (der Bettenzahl nach ausreichenden) Krankenhäuser mit qualifizierten Pflegekräften und mit Material.

 

Die Verstaatlichung des Gesundheitsdienstes ist bisher durch Abgang sehr vieler Ärzte und Zwang zu relativer Schonung der verbliebenen behindert worden. Die Arztdichte ist nur etwa 40 v. H. derjenigen in der BRD. Dem Regime wird dadurch auch vieles erleichtert, so die Durchsetzung der Polikliniken in der Bevölkerung, die starke Einschränkung der freien Arztwahl, die Einführung des Arzthelfers. Die Zahl der in Ausbildung Begriffenen liegt bei Ärzten und anderem Medizinischen Personal sehr hoch. In naher Zukunft mag jede Rücksicht entfallen und die Verstaatlichung des G. zum Abschluß gebracht werden können. „Private“ Tätigkeit von Ärzten und Zahnärzten und anderen Heilberufen wird, wie in der SU, nicht verboten sein. Aber bei der Berufszulassung kommt schon jetzt der Verpflichtung in die Einrichtungen des staatlichen G. der absolute Vorrang zu. Die 1949 eingeleitete Verstaatlichung der Apotheken ist fast abgeschlossen.

 

Die zentrale Leitung des G. liegt, nach Zeiten starker Einwirkung der Sozialversicherung, ausschließlich bei dem Gesundheitsministerium. Beide Verwaltungsstufen sind „demokratisiert“, d. h. der örtlichen politischen Kontrolle unterworfen: „Bezirksarzt“ und „Kreisarzt“, als Leiter der „Abt. G.“ bei den Räten von Bezirk und Kreis für das gesamte G. ihres Bereiches verantwortlich, sind weniger fachliche als politische Exponenten. Dagegen ist die Seuchenbekämpfung auf dem Weg über die Hygiene-Inspektion ausschließlich zentral gesteuert. Die Ausbildung in allen Heilberufen ist nach dem Muster des sowjetischen Ausbildungssystems umgestaltet und stark politisiert. Auch die wissenschaftliche Arbeit unterliegt wirksamer politischer Einwirkung, erkennbar an der Herrschaft der materialistischen Theorie der Physiologie und Psychologie nach Pawlow. Auf wenige Jahre verstärkten Kontaktes mit Westdeutschland auf Tagungen und dgl. ist auch in der Medizin rasch eine verschärfte Durchsetzung sowjetischer Grundsätze gefolgt.

 

Literaturangaben

  • Weiss, Wilhelm: Das Gesundheitswesen in der sowjetischen Besatzungszone. 3., erw. Aufl. (BB) 1957. Teil I (Text) 98 S., Teil II (Anlagen) 188 S.

 

Fundstelle: SBZ von A bis Z. Vierte, überarbeitete und erweiterte Auflage, Bonn 1958: S. 116–117


 

Information

Dieser Lexikoneintrag stammt aus einer Serie von Handbüchern, die zwischen 1953 und 1985 in Westdeutschland vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (ab 1969 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen) herausgegeben worden sind.

Der Lexikoneintrag spiegelt den westdeutschen Forschungsstand zum Thema sowie die offiziöse bundesdeutsche Sicht auf das Thema im Erscheinungszeitraum wider.

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