
Republikflucht (1958)
Siehe auch die Jahre 1954 1956 1959 1960 1962 1963 1965 1966 1969 1975 1979 1985
[S. 263]Bezeichnung für das fluchtartige Verlassen der „DDR“, zunächst nur Ausdruck des Pj., seit 11. 6. 1953 amtlicher Ausdruck in Gesetzen und VO. Um an das zurückgelassene Vermögen der Sowjetzonenflüchtlinge (Flüchtlinge) heranzukommen, wurden in der SBZ verschiedene VO erlassen. Nach der „VO über die Rückgabe deutscher Personalausweise bei Übersiedlung nach Westdeutschland oder Westberlin“ vom 25. 1. 1951 (GBl. S. 53) mußte jeder Bewohner der SBZ, der nach Westdeutschland oder Westberlin übersiedelt, seinen Personalausweis an die Volkspolizei zurückgeben. Nichtbeachtung dieser Vorschrift war mit Gefängnis bis zu 3 Monaten oder mit Geldstrafe bedroht. Diese Geldstrafen wurden nach der Flucht in einer solchen Höhe gegen den Flüchtling festgesetzt, daß zu ihrer Vollstreckung gerade eben das zurückgelassene Vermögen ausreichte. Immerhin verlangte dieses Verfahren noch ein Tätigwerden der Gerichte. Deshalb erging am 17. 7. 1952 die „VO zur Sicherung von Vermögenswerten“ (GBl. S. 615), deren § 1 Abs. 1 anordnet: „Das Vermögen von Personen, die das Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik verlassen, ohne die polizeilichen Meldevorschriften zu beachten oder hierzu Vorbereitungen treffen, ist zu beschlagnahmen.“ In Entscheidungen des Obersten Gerichts wurde zum Ausdruck gebracht, daß hier „Beschlagnahme“ gleich „Enteignung“ zu setzen sei. Jeder, der also Vermögensstücke eines Sowjetzonenflüchtlings verbirgt, machte sich nach dieser Rechtsprechung eines Verbrechens gegen das Gesetz zum Schutze des ➝Volkseigentums schuldig. Zahllose Zuchthausurteile waren die Folge. Mit dem Neuen Kurs wurde durch VO vom 11. 6. 1953 (GBl. S. 805) die „VO zur Sicherung von Vermögenswerten“ aufgehoben: „Alle republikflüchtigen Personen, die in das Gebiet der DDR und den demokratischen Sektor von Groß-Berlin zurückkehren, erhalten das auf Grund der VO vom 17. 7. 1952 zur Sicherung von Vermögenswerten beschlagnahmte Eigentum zurück.“ In verschiedenen Geheimerlassen des Staatssekretariats für Innere Angelegenheiten kommt entgegen diesem klaren Wortlaut zum Ausdruck, daß es bei dem Vermögen von Personen, die die SBZ vor dem 10. 6. 1953 „illegal“ verlassen haben, praktisch bei der „bisherigen Handhabung bleibt“. Das Vermögen dieser Flüchtlinge bleibt also enteignet. Eine Rückgabe derartiger Vermögenswerte an bevollmächtigte Personen oder andere Vertreter ist ausdrücklich verboten worden. Ausgenommen sind lediglich Vermögenswerte von Personen, die im Zeitpunkt der Flucht minderjährig waren. Derartiges Vermögen kann auf Antrag des jetzt im Westen lebenden Berechtigten aus der enteigneten Vermögensmasse herausgelöst werden (Beschlagnahme). Nach der „VO über die Ausgabe von Personalausweisen der Deutschen Demokratischen Republik“ v. 29. 10. 1953 (GBl. S. 1090) haben Personen, die die „DDR“ vorübergehend oder für ständig verlassen, ihren Ausweis bei der Volkspolizei abzugeben. Nichtabgabe zieht gem. § 10 der VO Gefängnisstrafe bis zu 3 Jahren und Geldstrafe nach sich.
Neben dieser weiter geltenden Bestimmung hat die Volkskammer am 11. 12. 1957 mit dem „Gesetz zur Änderung des Paßgesetzes“ (GBl. S. 650) einen selbständigen Tatbestand zur Bestrafung der R. geschaffen: „Wer ohne erforderliche Genehmigung das Gebiet der DDR verläßt …, wird mit Gefängnis bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. Vorbereitung und Versuch sind strafbar.“ Mit dieser gesetzlichen Neuregelung wurde das in der Verfassung garantierte Grundrecht der Freizügigkeit und das Recht auf Auswanderung endgültig beseitigt. Im Gegensatz zum bisherigen Zustand kann jetzt schon jede tatsächliche oder vermeintliche Vorbereitungshandlung zum Verlassen der SBZ wie das vollendete Delikt der R. mit Gefängnis bis zu drei Jahren geahndet werden (Paßwesen), Personen, die Bürger der „DDR“ zum Verlassen der Zone bewegen, werden wegen Abwerbung zu hohen Freiheitsstrafen verurteilt. (Rückkehrer)
Fundstelle: SBZ von A bis Z. Vierte, überarbeitete und erweiterte Auflage, Bonn 1958: S. 263