
Verfassung (1958)
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[S. 325]Wie das deutsche Volk aus der Erfahrung seiner jüngsten Geschichte weiß, bietet das geschriebene Wort einer V. allein noch nicht die Gewähr dafür, daß nicht ihr Geist verfälscht oder ihr Inhalt ausgehöhlt wird. Blieb doch die Weimarer Reichsverfassung unter der Herrschaft des Nationalsozialismus in Geltung, obwohl dessen Diktatur zu den Normen dieser V. in eklatantem Widerspruch stand. Wenn man sich nicht die Möglichkeit eines solchen Widerspruchs zwischen äußerem Wortlaut und tatsächlichem Geschehen vor Augen hält, ist die staatsrechtliche Entwicklung in der SBZ nur schwer zu verstehen.
Durch die militärische Eroberung Ost- und Mitteldeutschlands und durch die Bestimmungen der dem Potsdamer Abkommen vorangegangenen Vereinbarungen der vier Siegermächte über das Kontrollverfahren in Deutschland vom 5. Juni 1945 (die die höchste Regierungsgewalt für das betreffende Besatzungsgebiet dem jeweiligen Oberbefehlshaber der Besatzungsstreitkräfte übertrugen), war die SU in die tatsächliche, unbeschränkte Verfügungsgewalt über ein Gebiet gelangt, dessen Bewohner — durch Hunger, Not und Entbehrungen und die seelische Erschütterung des politischen und militärischen Zusammenbruchs gelähmt — bereit waren, sich an den von der Besatzungsmacht gegebenen Richtlinien für den staatlichen Neuaufbau zu orientieren. — Daß die SU schon 1945 die Absicht hatte, das von ihr besetzte Gebiet politisch, wirtschaftlich und kulturell im Sinne des Bolschewismus umzuformen, ergibt sich aus dem heute — nach dreizehnjähriger Besetzungsdauer — erreichten hohen Grad der Anpassung an sowjetische Verhältnisse. Ob diese Tendenz der sowjetischen Besatzungspolitik von vornherein erkennbar war, ist umstritten.
Als Richtschnur für die staatliche Entwicklung in der SBZ wie in Deutschland überhaupt sind von der Potsdamer Konferenz die Begriffe Demokratisierung und Entmilitarisierung verkündet worden (Potsdamer Abkommen, Abschnitt III, Einleitung).
Das Wort Demokratie hat in der sowjetischen Vorstellungswelt jedoch einen völlig anderen Inhalt als in der freien Welt. Nach Stalin ist „die Demokratie in der SU … eine Demokratie für die Werktätigen“, und er glaubt daher, „daß die Verfassung der UdSSR die einzige bis zum letzten demokratische Verfassung der Welt ist“ (Rede Stalins über die V. der UdSSR am 25. 11. 1936, in „Die Stalinsche Verfassung“, Ostberlin, 1950, S. 34 f.). In der gleichen Rede hatte Stalin wörtlich gesagt: „Ich muß zugeben, daß der Entwurf der neuen Verfassung tatsächlich das Regime der Diktatur der Arbeiterklasse aufrechterhält, ebenso wie er die jetzige führende Stellung der Kommunistischen Partei der UdSSR unverändert beibehält.“ (a. a. O., S. 33 f.) Nach sowjetischer Auffassung sind also vollendete „Demokratie“ und bolschewistische Diktatur gleichbedeutende Begriffe.
Für die deutsche Bevölkerung, die nach den schmerzlichen Erfahrungen unter der nationalsozialistischen Diktatur eine echte Demokratie und damit freiheitliche und rechtsstaatliche Verhältnisse ersehnte, hielt die sowjetische Besatzungsmacht 1945 jedoch politische Formen bereit, die eine solche echte Demokratie nur zu bedeuten schienen. Im Sommer 1945 hatte die SMAD nicht nur die KPD, sondern auch drei im westlichen Sinne demokratische Parteien zugelassen: die SPD, die CDU und die LDPD. Das schien auf eine annähernde Wieder[S. 326]herstellung des Parteiensystems der Weimarer Republik hinauszulaufen. Die Wiedererweckung der deutschen Demokratie war aber in der SBZ nur eine scheinbare. Die vier Parteien haben niemals Gelegenheit erhalten, sich in freien Wahlen miteinander zu messen. Bevor nämlich im Oktober 1946 die ersten Wahlen (Gemeinde- und Landtagswahlen) erfolgten, war bereits der erste entscheidende Schritt auf dem Wege zur „Volksdemokratie“ getan worden: der im April 1946 unter sowjetischem Druck vorgenommene Zusammenschluß von KPD und SPD zur „Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands“, der SED.
Nach den Wahlen im Oktober 1946, bei denen die SED trotz massivster sowjetischer Wahlbeeinflussung nicht die absolute Mehrheit erhielt, hat sich die SED nie wieder zu einer Wahl gestellt, bei der zwischen mehreren Listen gewählt werden konnte. Die Sowjets erzwangen vielmehr die sog. Blockpolitik, in die nicht nur die drei Parteien SED, CDU und LDPD, sondern auch die im Sommer 1948 auf sowjetischen Befehl gegründete „Nationaldemokratische Partei Deutschlands“ (NDPD) und die „Demokratische Bauernpartei Deutschlands“ (DBD) sowie die sog. demokratischen Massenorganisationen einbezogen wurden.
Ohne Wahlen, lediglich auf dem Wege der Delegierung, wurden von den Blockparteien und Massenorganisationen Vertreter nominiert, die am 6. und 7. 12. 1947 als erster sog. Volkskongreß zusammentraten. In derselben Weise wurde der am 17. und 18. 3. 1948 (gleichzeitig mit der Hundertjahrfeier der deutschen Revolution von 1848) tagende „Zweite Volkskongreß“ berufen, der sich selbst zu einem „Deutschen Volksrat“ erklärte.
Dieser nicht aus Wahlen, sondern durch willkürliche Berufungen entstandene „Deutsche Volksrat“ ließ durch einen Verfassungsausschuß den „Entwurf einer Verfassung für die Deutsche Demokratische Republik“ ausarbeiten, der am 22. 10. 1948 veröffentlicht wurde. Am 19. 3. 1949 wurde dieser Verfassungsentwurf von dem „Volksrat“ nach unbedeutenden Änderungen angenommen.
Am 15. und 16. 5. 1949 erfolgte schließlich in der SBZ eine Abstimmung über eine willkürlich zusammengesetzte „Einheitsliste“ des „Blocks“, bei der nur mit „Ja“ oder „Nein“ gestimmt oder ein ungültiger Stimmzettel abgegeben werden konnte. Trotz der sehr intensiven, z. T. auf national gefärbte Parolen gestutzten Propaganda wurden insgesamt nur 61,8 v. H. „Ja“-Stimmen, in Ostberlin sogar nur 51,7 v. H. „Ja“-Stimmen gezählt. Dieses Abstimmungsergebnis reichte aber aus, um die „Einheitsliste“ als „gewählt“ zu erklären. So entstand der „Dritte Deutsche Volkskongreß“ (mit 1523 Delegierten), der am 30. 5. 1949 die V. bestätigte und die Ernennung der 330 Abgeordneten des neuen „Deutschen Volksrates“ vornahm.
Wieder ohne Wahlen konstituierte sich dieser „Volksrat“ schließlich am 7. 10. 1949 auf Grund des der LDP und CDU aufgezwungenen verfassungsändernden Gesetzes vom 7. 10. 1949 (GBl. S. 1) als „Provisorische Volkskammer der DDR“. Zugleich wurden eine „Provisorische Regierung der DDR“ eingesetzt, eine „Provisorische Länderkammer der DDR“ gebildet und durch Gesetz vom 7. 10. 1949 die „Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik“ (GBl. S. 5) in Kraft gesetzt. Diese V. ist in ihrem Wortlaut weitgehend der Weimarer Reichsverfassung nachgebildet. So erscheint deren Art. 1 Abs. 2: „Die Staatsgewalt geht vom [S. 327]Volke aus“ in der Fassung: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“ (Art. 3 Abs. 1). Auch das Bekenntnis zu dem Grundsatz freier Wahlen ist in der V. der „DDR“ in fast die gleichen Worte gekleidet wie in Art. 22 der Weimarer Reichsverfassung: „Die Abgeordneten werden in allgemeiner, gleicher, unmittelbarer und geheimer Wahl … gewählt.“ (Art. 51 Abs. 2)
Insbesondere haben den Vorschriften über die Grundrechte die Grundrechtsartikel der Weimarer Reichsverfassung als Vorbild gedient; sie stimmen z. T. fast wörtlich überein. Wie die entsprechenden Normen des Grundgesetzes sind diese Artikel unmittelbar geltendes Recht. Ihr Sinngehalt ist jedoch ein völlig anderer als der gleichlautender Formulierungen der V. rechtsstaatlicher Demokratien. Denn die volksdemokratische Ordnung kennt nur das Primat der Gemeinschaft, nicht dagegen die Freiheit des einzelnen um des einzelnen willen. So ist auch der Schutz der Grundrechte vor Maßnahmen der Staatsgewalt denkbar schwach ausgestaltet und bezeichnenderweise jeder richterlichen Nachprüfung entzogen. Wesentlich ausgeprägter ist dagegen der Schutz der Grundrechte vor Mißbrauch durch den einzelnen. Diese Tendenz wird besonders in Art. 6 Abs. 2 deutlich, der „Boykotthetze gegen demokratische Einrichtungen und Organisationen, Mordhetze gegen demokratische Politiker, Bekundung von Glaubens-, Rassen-, Völkerhaß, militaristische Propaganda sowie Kriegshetze und alle sonstigen Handlungen, die sich gegen die Gleichberechtigung richten“ zu „Verbrechen im Sinne des Strafgesetzbuches“ und damit zu unmittelbar geltendem Strafrecht erklärt. (Strafgesetzbuch)
Der Grundrechtskatalog zählt weitgehend die gleichen Grundrechte auf wie das Grundgesetz. Als wichtigstes politisches Recht nennt Art. 3 Abs. 2 das Recht jedes Bürgers „zur Mitgestaltung in seiner Gemeinde, seinem Kreis, seinem Lande und in der DDR“. Die V. kennt ihrem Wortlaut nach aber auch die herkömmlichen Freiheitsrechte: persönliche Freiheit, Unverletzlichkeit der Wohnung, Postgeheimnis und Freizügigkeitsrecht werden in Art. 8, freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit in Art. 9, Freiheit der Kunst, Wissenschaft und ihrer Lehre in Art. 34 garantiert. Art. 10 enthält Auslieferungsverbot, Asylrecht und Auswanderungsrecht. Vereinigungs- und Koalitionsrecht räumen Art. 12, 13, 53 bzw. 14 ein. Eigentum, Erbrecht und Urheberrechte werden in Art. 22–24 Abs. 1 gewährleistet. Die Freiheit der Religionsausübung garantiert Art. 41. Sämtliche Grundrechte stehen jedoch nur auf dem Papier und werden seit dem Inkrafttreten der V. ständig und bewußt verletzt und sogar durch die Gesetzgebung in verfassungsmäßig unzulässiger Weise eingeschränkt.
Den Grundrechten stellt die V. Grundpflichten gegenüber. Die zentrale Vorschrift ist Art. 4 Abs. 2, in dem es heißt: „Jeder Bürger ist verpflichtet, im Sinne der Verfassung zu handeln und sie gegen ihre Feinde zu verteidigen.“ Diese nach sowjetischem Staatsdenken weit auszulegende Norm wird durch den mit Gesetz vom 26. 9. 1955 (GBl. I S. 653) geänderten Art. 5 dahin ergänzt, daß „der Dienst zum Schutze des Vaterlandes und der Errungenschaften der Werktätigen“, mithin des bolschewistischen Systems, eine „ehrenvolle nationale Pflicht ist“. Zusammenfassend muß festgestellt werden, daß die V. der „DDR“ nach dem Willen Moskaus zu keiner Zeit der Errichtung einer echten demokratischen Ordnung dienen sollte, sondern von vornherein lediglich als scheindemokratische Fassade vor die auf die Bolschewisierung Mitteldeutschlands zielende Wirklichkeit gestellt war.
Literaturangaben
- Drath, Martin: Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands. 4., erw. Aufl. (BMG) 1956. 91 S.
- Die Wahlen in der Sowjetzone, Dokumente und Materialien. 2., erw. Aufl., Bonn 1958. 119 S.
- Weber, Werner: Die Frage der gesamtdeutschen Verfassung. München 1950, C. H. Beck. 28 S.
Fundstelle: SBZ von A bis Z. Vierte, überarbeitete und erweiterte Auflage, Bonn 1958: S. 325–327
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