DDR von A-Z, Band 1959

Erziehungswesen (1959)

 

 

Siehe auch:

 

[S. 97]Die marxistisch-leninistische Pädagogik unterscheidet drei Institutionen der „Erziehung“ der Heranwachsenden Jugend: Familie, Schule und Jugendorganisation. Die Schule — insbesondere die „allgemeinbildende“ im Unterschied zur „berufsbildenden“ — gilt jedoch als die „Hauptkraft“ der Erziehung. Die FDJ, die Jungen Pioniere und die Familie sind verpflichtet, ihr „Hilfe“ zu leisten. Der Einfluß der Familie ist — soweit er sich nicht gleichschalten ließ — trotz gegenteiliger Beteuerungen ständig zurückgedrängt worden.

 

Die wesentlichsten Grundlagen des Schulwesens sollen nach der offiziellen Doktrin in dem Klassencharakter der Schule und in ihrer Unterstellung unter die staatliche Leitung gegeben sein. Geleitet und verwaltet vom Staat, dient die sowjetzonale Schule — so heißt es — den Interessen der Arbeiterklasse, die im Bündnis mit der werktätigen Bauernschaft und der Intelligenz die Herrschaft ausübt und seit 1952 den „Sozialismus aufbaut“. Zielsetzung, organisatorischer Aufbau und pädagogischer Inhalt des Erziehungswesens sind seit 1945 den politischen und gesellschaftlichen Veränderungen angepaßt worden. Die kommun. Führung operierte 1945 mit der Parole „der allseitigen Demokratisierung des gesamten Schulwesens“. Sie gab vor, eine „demokratische Schulreform“ durchführen zu wollen, die die schulpolitischen Kampfziele der deutschen Arbeiterbewegung und der „fortschrittlichsten Pädagogen des Bürgertums“ verwirkliche. Mit dieser Begründung wurde die relative Autonomie des E. radikal beseitigt und das Schulwesen in ein Instrument der kommun. Führung verwandelt, das sie bewußt als Mittel der „revolutionären Umgestaltung“ der Gesellschaft handhabte und handhabt. Sie orientiert sich dabei am sowjetischen Schulwesen und an der Sowjetpädagogik. Dieser Prozeß der „Demokratisierung“ wurde durch den Juni-Aufstand 1953 und den XX. Parteitag der KPdSU gehemmt. Kritische Stimmen wurden laut, in denen die deutsche pädagogische Tradition stärker als bisher in Erscheinung trat. Seit Ende 1957 setzte die Gegenbewegung gegen diese „revisionistischen Tendenzen“ ein. Die Parteiführung stellte nunmehr die Aufgabe, die sog. „demokratische Schule“ in die „sozialistische Schule“ zu verwandeln bzw. die eigentlich schon längst begonnene Entwicklung entschieden voranzutreiben.

 

Die „demokratische Schulreform“ begann mit der Zerschlagung der überlieferten Schulorganisation und mit deren Neugestaltung durch das „Gesetz zur Demokratisierung der deutschen Schule“ (Sommer 1946). Es schuf die Einheitsschule. Sie beseitigte den Parallelismus von Volksschule und höherer Schule und führte die radikale Trennung von Kirche und Schule durch, die später auch in der Verfassung der „DDR“ verankert wurde. Die Schaffung der einheitlichen „deutschen demokratischen Schule“ wird heute noch als Liquidierung des Bildungsprivilegs der alten besitzenden Klassen gefeiert.

 

Auf den Kindergarten folgt die allgemeine, für alle Kinder obligatorische achtklassige Grundschule. Seit 1955 wird der Aufbau einer zehnklassigen Schule betrieben, die, heute als zehnklassige allgemeinbildende polytechnische Oberschule bezeichnet, allmählich an die Stelle der Grundschule treten soll. 1959 soll die Hälfte aller Absolventen der 8. Klassen zur zehnklassigen bzw. zwölfklassigen Oberschule übergehen. (Schule)

 

[S. 98]Die Zulassung zu den Ober-, Fach- und Hochschulen wird nicht nur vom Prinzip der Leistung, sondern auch von dem des Herkommens und der politischen Zuverlässigkeit bestimmt. Die Zahl der Arbeiter- und Bauernkinder an den Schulen, die der mittleren und höheren Berufsausbildung dienen, beträgt mehr als 50 v. H.

 

Das offizielle pädagogische Ziel des sowjetzonalen E. ist wiederholt umformuliert worden und im Laufe der Jahre immer stärker mit der Deutschland-Politik der SBZ in Übereinstimmung gebracht worden. So forderte die 4. Tagung des ZK der SED vom 19. 1. 1951, die Jugend zu „aktiven Erbauern“ eines „einigen, demokratischen und friedliebenden Deutschland“ zu erziehen. Die „Verordnung zur Arbeit der allgemeinbildenden Schulen vom 4. 3. 1954“ fordert an erster Stelle die Erziehung „aufrechter Patrioten“. ;

 

Die „Anweisungen für die Durchführung des Schuljahres 1958/59“ fordern die „Erziehung für die sozialistische Zukunft“. Dem entspricht die Forderung der Erziehung eines „allseitig entwickelten sozialistischen Menschen“. Damit ist ein Mensch gemeint, der, von der marxistisch-leninistischen Weltanschauung und Moral bestimmt, seine individuellen Interessen den gesellschaftlichen unterordnet. Den Inhalt der gesellschaftlichen Interessen aber bestimmt die SED-Führung. Dieses Erziehungsziel gilt auch für die berufliche Ausbildung mittlerer und höherer Kader; es intendiert in der Praxis die Synthese von Parteigänger und qualifiziertem Fachmann.

 

Das allgemeine Erziehungsziel wird aufgegliedert in besondere Anforderungen an die weltanschauliche und intellektuelle, polytechnische, politisch-moralische, musische bzw. ästhetische und körperliche Erziehung und Bildung.

 

Die intellektuelle Erziehung und Bildung, d. h., die Vermittlung „eines hohen Maßes“ „wissenschaftlicher Kenntnisse und Fähigkeiten“ erfolgt in engstem Zusammenhang mit der dialektisch-materialistischen Weltanschauung. Vom Kindergarten an zielt die Vermittlung der Kenntnisse in allen Schulfächern auf die Aneignung der sog. allgemeinen Gesetzmäßigkeiten in der Natur und in der Entwicklung der Gesellschaft. Der Kern der offiziellen Weltanschauung ist in dem obligatorischen geschichtlichen Standortbewußtsein gegeben, das jedem Schüler mit dem Bewußtsein der Teilnahme an der angeblich „fortschrittlichsten“ Weltbewegung die Grundlage des „sozialistischen Bewußtseins“ zu vermitteln hat. Dieses Bewußtsein impliziert eine effektive Abwertung des kapitalistischen Systems und die Bereitschaft zum Kampf gegen die ständigen feindlichen Einflüsse „aus dem Lager der Bonner NATO-Politiker“.

 

In der kommun. Lehre vom hartnäckigen Nachwirken der alten kapitalistischen Anschauungen und Gewohnheiten besitzt die marxistisch-leninistische Pädagogik ein hervorragendes Mittel zur Diskriminierung jeder Abweichung und zur Erzeugung von Schuldgefühlen angesichts der ständigen Überforderung der Kinder und Jugendlichen durch die kommun. Zielsetzungen.

 

Die polytechnische Erziehung und Bildung erstrebt unter ideologischen Aspekten mit Hilfe der gesellschaftlich-nützlichen und produktiven Arbeit eine Anpassung an die Forderungen der modernen Technik und eine Verinnerlichung der Arbeitsmoral. Die Einführung des polytechnischen Unterrichts wird heute als die Kernfrage der Weiterentwicklung des Schulwesens angesehen.

 

[S. 99]Dem entsprechen auch die heutigen Anforderungen an die politisch-moralische Erziehung und Bildung. An erster Stelle hat sie die Aufgabe, die Kinder zur Liebe zur Arbeit, aber auch zur Liebe zu den arbeitenden Menschen, „zur Arbeiterklasse und zur Partei“ zu erziehen. Erst an zweiter Stelle wird heute die „Erziehung zum sozialistischen Patriotismus und proletarischen Internationalismus“ gefordert (Patriotische Erziehung). Der dritte große Komplex ist die „Erziehung zur Kollektivität“ (Kollektiverziehung).

 

Die musische Erziehung hat u. a. den Willen der Schüler zu stärken, später als Erwachsene an der Gestaltung des politischen und kulturellen Lebens in der „sozialistischen Gesellschaft“ aktiv teilzunehmen. Bei der Zielsetzung für die körperliche Erziehung wird niemals der Bezug auf die Bereitschaft zur Arbeit und zur „Verteidigung der Heimat“ vergessen.

 

Der Realisierung der politischen und pädagogischen Zielsetzung dient ein Schul- und Verbandswesen, das dem Modell der totalitären kommunistischen Ordnung angepaßt ist. 1. Das E. ist total politisiert. Das Prinzip der Einheit von Erziehung und Politik zwingt alle Institutionen und Pädagogen zu strenger „Parteilichkeit“. 2. Die Arbeit der Schulen und Jugendverbände wird durch ein System von Plänen dirigiert und damit dem planrationellen Charakter der kommun. Ordnung angepaßt. Lernen ist Training in der Sollerfüllung. 3. Erziehung und Unterricht zielen auf die Erzeugung von Handlungsbereitschaften, die den Anforderungen einer industriellen Gesellschaft und der kommun. Herrschaftsordnung entsprechen. 4. Der Lehrstoff der Schulen und Hochschulen entspricht der marxistisch-leninistischen Einheitswissenschaft. 5. Das E. richtet sich nicht auf den Einzelnen als Einzelnen, sondern als Mitglied einer Gruppe. 6. Trotzdem arbeitet das kommun. E. mit der Methode des Wettbewerbs. Gute Leistungen werden mit erhöhtem Prestige (z. B. Diplome, Medaillen) und materiellen Vorteilen (Stipendien, Karriere) belohnt. 7. Die Erfüllung der behördlichen Anordnungen wird durch ein doppeltes Kontrollsystem gesichert. Neben staatlichen Kontrollinstanzen stehen SED-Organisationen in Schulen, Hochschulen, Instituten und Behörden. Sie werden auf dem Sektor des Erziehungswesens von der Lehrergewerkschaft und der FDJ unterstützt. 8. Das E. ist die zentrale Dirigierungsstelle, die zunehmend über die spätere Position und damit über den zukünftigen Rang und die Möglichkeiten der Teilnahme am Konsum entscheidet.

 

Die Schule ist nur das Zentrum eines Systems paralleler pädagogischer Einwirkungen auf Kinder und Jugendliche. Zu ihm gehören neben den Jugendorganisationen der außerschulische Unterricht, die Verbindung von Schule und Betrieb, die Ferienlager und Aktionen und die staatlich dirigierte Jugendliteratur. Auch die Gesellschaft für ➝Sport und Technik gehört teilweise in diesen Zusammenhang.

 

Die behördlich gelenkten außerschulischen Arbeitsgemeinschaften haben die Aufgabe, Fähigkeiten, Talente und Interessen, die für die „sozialistische Gesellschaft“ wichtig sind, zu fördern (Schulklub). Zur Unterstützung dieser Arbeitsgemeinschaften sind Stationen für junge Techniker, Naturforscher und Touristen geschaffen worden. Im Zuge der Polytechnisierung wird eine Beschäftigung der Arbeitsgemeinschaften mit Maschinenbau, Landmaschinen-, Kraftfahrzeug-, Elektro-, Radio- und Fernmeldetechnik, Flugzeug- und Schiffsmodellbau, Tierhaltung und dergleichen angestrebt. Den Pioniergruppen sollen [S. 100]dagegen Basteln, Fotografieren, Touristik und Heimatkunde vorbehalten bleiben.

 

Die neuen Anforderungen, die die beruflichen Rollen, aber auch die politischen in einem komm. totalitären Staat stellen, haben die SBZ zur Entwicklung einer besonders strukturierten Erwachsenenbildung genötigt.

 

Es ist nicht zu bestreiten, daß die SBZ relativ hohe Mittel für die öffentliche Erziehung aufwendet. Das ist die Konsequenz der „gesellschaftlichen Umwälzung“; sie nötigt die kommun. Führung, die Erziehung als ein Mittel zur Erhaltung und Befestigung der totalitären Machtordnung und der Entwicklung der planrationalen Wirtschaft und Gesellschaft einzusetzen und die Traditionen des E. zu liquidieren bzw. zu manipulieren.

 

Literaturangaben

  • Baumgart, Fritz: Das Hochschulsystem der sowjetischen Besatzungszone. (BMG) 1953. 31 S.
  • Jeremias, U.: Die Jugendweihe in der Sowjetzone. 2., erg. Aufl. (BMG) 1958. 120 S.
  • Lange, Max Gustav: Totalitäre Erziehung — Das Erziehungssystem der Sowjetzone Deutschlands. Mit einer Einl. v. A. R. L. Gurland (Schr. d. Inst. f. pol. Wissenschaft, Berlin, Bd. 3). Frankfurt a. M. 1954, Verlag Frankfurter Hefte. 432 S.
  • Lange, Max Gustav: Wissenschaft im totalitären Staat. Die Wissenschaft der sowjetischen Besatzungszone auf dem Weg zum „Stalinismus“, m. Vorw. v. Otto Stammer (Schr. d. Inst. f. pol. Wissenschaft, Berlin, Bd. 5). Stuttgart 1955, Ring-Verlag. 295 S.
  • Möbus, Gerhard: Das Menschenbild des Ostens und die Menschen im Westen. Bonn 1955. 90 S.
  • Möbus, Gerhard: Klassenkampf im Kindergarten — Das Kindesalter in der Sicht der kommunistischen Pädagogik. Berlin 1956, Morus-Verlag. 110 S.
  • Möbus, Gerhard: Erziehung zum Haß — Schule und Unterricht im sowjetisch besetzten Deutschland. Berlin 1956, Morus-Verlag. 111 S.
  • Möbus, Gerhard: Kommunistische Jugendarbeit — zur Psychologie und Pädagogik der kommunistischen Erziehung im sowjetisch besetzten Deutschland. Berlin 1957, Morus-Verlag. 124 S.
  • Müller, Marianne, und Egon Erwin Müller: „… stürmt die Festung Wissenschaft!“ Die Sowjetisierung der mitteldeutschen Universitäten seit 1945. Berlin 1953, Colloquium-Verlag. 415 S.
  • Säuberlich, Erwin: Vom Humanismus zum demokratischen Patriotismus. — Schule und Jugenderziehung in der sowjetischen Besatzungszone (Rote Weißbücher 13). Köln 1954, Kiepenheuer und Witsch. 170 S.
  • Froese, Leonhard: Die ideengeschichtlichen Triebkräfte in der russischen und sowjetischen Pädagogik. Heidelberg 1956, Quelle und Meyer. 198 S.
  • Dübel, Siegfried: Die Situation der Jugend im kommunistischen Herrschaftssystem der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands. 2., erw. Aufl. (BB) 1960. 115 S.

 

Fundstelle: SBZ von A bis Z. Fünfte, überarbeitete und erweiterte Auflage, Bonn 1959: S. 97–100


 

Information

Dieser Lexikoneintrag stammt aus einer Serie von Handbüchern, die zwischen 1953 und 1985 in Westdeutschland vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (ab 1969 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen) herausgegeben worden sind.

Der Lexikoneintrag spiegelt den westdeutschen Forschungsstand zum Thema sowie die offiziöse bundesdeutsche Sicht auf das Thema im Erscheinungszeitraum wider.

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