Gesundheitswesen (1959)
Siehe auch die Jahre 1953 1954 1956 1958 1960 1962 1963 1965 1966 1969 1975 1979 1985
[S. 127]Im Umbau des G. wurden die Entwicklungsphasen der SU zusammengedrängt wiederholt: nach rigoroser Bekämpfung von Seuchen, Tuberkulose und Geschlechtskrankheiten wurde 1947 den Stadt- und Landkreisen und der Industrie die Errichtung von Polikliniken und Ambulatorien aufgegeben und ab 1949 in die Aufgaben dieser „Staatlichen Behandlungseinrichtungen“ auch die Vorbeugung einbezogen. 1950 begann der Ausbau der fachlich gegliederten Vorbeugung in „Beratungs- und Behandlungsstellen“ (russ. „Dispensaire“). Die sich überschneidenden zwei Systeme der regional, nach Wohnbezirken oder Betrieben, zuständigen allgemeinen Behandlungsstellen, die auch Vorbeugung treiben (Polikliniken), und der fachlich zuständigen Beratungsstellen, die auch behandeln, wurden 1952 unter der Führung der Poliklinik als Leitorgan jedes Kreises koordiniert. Damit war im Programm der Stand der SU erreicht. Ende 1954 wurden, wie dort, die Organisationsprinzipien umgekehrt (Krankenhaus-Ordnung): jedes Krankenhaus ist nun in seinem „Versorgungsbereich“ Leitorgan der gesamten ärztlichen Versorgung der Bevölkerung (außerhalb der Betriebe). Seinen leitenden Ärzten sind einerseits die jeweils kleineren Krankenhäuser, andrerseits die Poliklinik weisungsgebunden unterstellt, dieser wieder die kleineren Einrichtungen. Das ergibt eine einheitliche Gliederung von Bezirks-Krankenhaus und -Poliklinik abwärts bis zu Staatlicher Praxis und Außenstelle des Ambulatoriums. Das in der SBZ wie in der SU jahrelang propagierte Prinzip der gleichzeitig stationären und ambulanten Tätigkeit jedes Arztes für seine Patienten wurde dabei aufgegeben. Es war in der Praxis unhaltbar. Die Ärzte des Versorgungsbereiches sind (bis auf einzelne Fachgebiete) im „stationären“ oder im „ambulanten Sektor“ tätig. Die Zusammenfassung bezieht sich nur noch auf „Anleitung und Kontrolle“. Sie soll die einheitliche Behandlung und Überwachung jedes Kranken oder Gefährdeten ermöglichen und Mehrfachaufwand für Diagnostik vermeiden.
Eine entsprechende Staffelung wird im Betriebsgesundheitswesen versucht: unter der zentralen Steuerung der Arbeitssanitätsinspektion jedes Bezirks sollen die Betriebspolikliniken großer Betriebe die Funktion regionaler Leitstellen im Kreis übernehmen, denen Ambulatorien und Ambulanzen kleinerer Betriebe auch andrer Wirtschaftszweige unterstellt sind.
Beiden Zweigen gemeinsam ist die betonte Förderung der Vorbeugung nach dem Prinzip des Dispensaire. Besonders gilt die „Prophylaxe“ Kindern, Jugendlichen und Frauen: Frauenberatungsstellen (Schwangerschaftsverhütung, Schulung in der Säuglingspflege, Rechtsberatung usf.), Schwangerenberatung, systematische Förderung der Anstaltsentbindung (1958: 79 v. H. aller Entbindungen in Krankenhäusern und Heimen), Frühgeburtendienst, Frauenmilchsammelstellen und Milchküchen zur Minderung der Säuglingssterblichkeit, dazu ein dichtes Netz von Krippen und Kindertagesstätten unter ärztlicher Aufsicht für die Kinder der sehr zahlreichen erwerbstätigen Frauen, Hauspflege für den Fall ihrer Erkrankung (DRK). Alles das entsteht (wie in der SU) auch auf dem Lande. Daneben Ausbau der Schulgesundheitspflege bis zum Ende des Berufsschulalters (Jugendarzt) mit Jugendzahnpflege, ärztlicher Überwachung des Sports und Massenaufwand (der Be[S. 128]triebe) für Erholungsfürsorge der Jugend. In allen Kreisen Geschwulstberatungsstellen mit Meldepflicht jedes erkannten Krebsleidens und Überwachung seiner Behandlung, ebenso für Tbc und bestimmte Berufskrankheiten. Die Planung sieht Entsprechendes für weitere Krankheitsgruppen vor (Rheuma, Herz, Magen, Zucker u. a.).
Den dritten Zweig mit ebenso systematischer Ausgestaltung bilden Hygiene und Seuchenbekämpfung: unter der Leitung der Hygiene-Inspektion sind die Kontrollstellen des G. hier mit weitreichenden Exekutivvollmachten ausgestattet. Zahllose Gesetze, Verordnungen und Verwaltungsvorschriften sollen einwandfreie Verhältnisse bei Trink- und Abwasser, im Lebensmittelverkehr und den zahlreichen Betriebsküchen und dergleichen herbeiführen.
Das alles entspricht Punkt für Punkt dem G. der SU: ein umfassendes und rationelles System von Vorbeugung und Behandlung unter Betonung der ersten, zugunsten der Entwicklung und Erhaltung gegenwärtiger und künftiger Arbeitskraft — eine Konzeption von bemerkenswerter Geschlossenheit. Aber das Ziel, die Verhütung von Krankheiten, bleibt unerreichbar, wenn Leerlauf und Fehlleitung von Arbeitskräften, vor allem durch Aufblähung der Bürokratie, die Einspannung aller Menschen fordern und insbesondere (angesichts des ohnehin erschwerenden Frauenüberschusses und der Massenabwanderung jüngerer Männer) durch Überspannung der Arbeit von Frauen und Jugendlichen unter Mißachtung elementarer Grundsätze des Arbeitsschutzes (Nacht- und Schwerarbeit der Frauen und Jugendlichen vom 17. Lebensjahr an) kaum abschätzbare Gesundheitsschäden gesetzt werden, verstärkt durch ständige nervliche Belastung (Überspannung von Normen und Prämienwesen, politischer Druck), durch Mangelernährung und das Fehlen ausreichender Entspannungsmöglichkeit (ungenügende Freizeit durch Überstunden, Sonderschichten und -einsätze, politische Schulung, Sorge um den alltäglichen Lebensbedarf usf.). Der „Gesundheitsschutz“ bleibt praktisch auf die Früherfassung von Krankheiten beschränkt. Eine wertvolle, neuen psychosomatischen Erkenntnissen der Rehabilitation entsprechende Einrichtung wie das Nachtsanatorium entartet unter der alles beherrschenden Ausbeutung der Arbeitskraft. Der Krankenstand läßt sich auch mit ständigem Druck nicht unter 6 v. H. senken, trotz immer neuen Formen der Kontrolle der Arbeitsbefreiung, die nur zu oft eine zulängliche Behandlung verhindert. Die auffallend hohe durchschnittliche Dauer der Krankheitsfälle macht wahrscheinlich, daß weniger ein (psychologisch verständliches) Ausweichen der Arbeitnehmer als ernste Gesundheitsschäden zugrunde liegen; hinzu kommt die Erschwerung durch lückenhafte Arzneimittelversorgung und unzulängliche Ausstattung der Krankenhäuser mit qualifizierten Pflegekräften und mit Material.
Die Verstaatlichung des Gesundheitsdienstes schien lange durch Abgang vieler Ärzte und Zwang zu relativer Schonung der verbliebenen behindert. Die Arztdichte betrug schon 1957 nur noch 40 v. H. derjenigen der BRD. 1958 haben die Abgänge eine Krise herbeigeführt, die zu Notmaßnahmen zwang. Äußere Zugeständnisse verdecken, daß Ärzte aus anderen Ländern des Ostblocks herangezogen werden, um das Programm durchzusetzen. Doch wird dem Regime durch den Ärztemangel vieles erleichtert, so die Anerkennung der Polikliniken in der Bevölkerung, die starke Einschränkung der freien Arztwahl, die Einführung des Arzthelfers. Die Zahl der in Ausbildung Begriffenen liegt bei Ärzten und anderem Medizinischen [S. 129]Personal sehr hoch. In naher Zukunft mag jede Rücksicht entfallen und die Verstaatlichung des G. zum Abschluß gebracht werden können. „Private“ Tätigkeit von Ärzten und Zahnärzten und anderen Heilberufen wird, wie in der SU, nicht verboten sein. Aber bei der Berufszulassung kommt der Bindung an die Staatlichen Einrichtungen des G. der absolute Vorrang zu. Die Verstaatlichung der Apotheken ist praktisch abgeschlossen.
Die Ausbildung für alle Heilberufe ist nach dem Muster des sowjetischen Ausbildungssystems umgestaltet und stark politisiert. Auch die wissenschaftliche Arbeit unterliegt der politischen Einwirkung, gekennzeichnet durch die Herrschaft der materialistischen Theorie der Physiologie und Psychologie nach Pawlow.
Literaturangaben
- Weiss, Wilhelm: Das Gesundheitswesen in der sowjetischen Besatzungszone. 3., erw. Aufl. (BB) 1957. Teil I (Text) 98 S., Teil II (Anlagen) 189 S.
Fundstelle: SBZ von A bis Z. Fünfte, überarbeitete und erweiterte Auflage, Bonn 1959: S. 127–129
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