Historischer Materialismus (1959)
Siehe auch:
(Materialistische Geschichtsauffassung) Die Anwendung des Dialektischen Materialismus auf die Geschichte und damit zugleich für die Marxisten-Leninisten verbindliche Grundlage für das Verständ[S. 146]nis aller historischen und geistigen Erscheinungen (Gesellschaftswissenschaften).
Nach dem H. M. hat die Entwicklung der Gesellschaft durch die Entstehung des Privateigentums an den Produktionsmitteln mit dialektischer Gesetzmäßigkeit von einer kommunistischen Urgemeinschaft zur Klassenspaltung in Ausbeuter und Ausgebeutete, Unterdrücker und Unterdrückte, und damit zur Klassengesellschaft und zum Klassenkampf als dem bewegenden Moment der geschichtlichen Entwicklung, unabhängig von Landschaft und Volkstum, geführt. Die in der Produktionsweise jeder Entwicklungsstufe (Sklavenhaltergesellschaft, Feudalismus, Kapitalismus) entstehenden inneren Widersprüche hätten sich im Klassenkampf durch dialektische „Sprünge“ in revolutionärer Entwicklung zur jeweils höheren und fortschrittlicheren Produktionsweise entwickelt, ohne jedoch die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen zu beseitigen. Auf Grund dieser Gesetzmäßigkeit glaubte Marx auch, der Kapitalismus müsse an seinen inneren Widersprüchen zugrunde gehen (Krise) und durch die proletarische Weltrevolution zur klassenlosen Gesellschaft und zur kommun. Produktionsweise, zur Abschaffung aller Unterdrückung und Ausbeutung und zur Freiheit der neuen Gesellschaft führen. Im Widerspruch zu seiner eigenen Philosophie und dem Prinzip der unaufhörlichen dialektischen Bewegung in Natur und Geschichte verkündete er den Kommunismus als einen paradiesischen „Endzustand“, als Ziel der Geschichte, nach dessen Erreichung das bisher wirksame Bewegungsgesetz der gesellschaftlichen Entwicklung keine Gültigkeit mehr haben könnte. Während Marx jedoch diese Weltrevolution nur im Zustand höchstmöglicher Industrialisierung aller bedeutenden Länder für möglich und gerechtfertigt hielt, glaubte Lenin vor und in dem ersten Weltkrieg, im Stadium des Imperialismus die höchste und letzte Entwicklungsstufe des Kapitalismus erkannt zu haben, und versuchte, dem Herannahen der Weltrevolution während des ersten Weltkrieges einen Termin zu setzen. Er versuchte vergeblich, durch die Oktoberrevolution in Rußland 1917 und in den folgenden Jahren die Weltrevolution auszulösen (Komintern), in der Auffassung, daß sonst die russische Revolution zusammenbrechen müsse. Da die Weltrevolution jedoch ausblieb, zog Stalin nach Lenins Tod (1924) die Folgerungen und proklamierte — im Widerspruch zu Marx — die These, der Aufbau des Sozialismus und Übergang zum Kommunismus sei auch in einem einzelnen Lande möglich, und die Durchführung der Weltrevolution erfolge nicht überall gleichzeitig, sondern erstrecke sich über eine lange historische Epoche, in der die SU das Proletariat der anderen Länder im Kampf gegen ihre Regierungen unterstützen müsse. Der Stalin kritisierende XX. Parteitag (Febr. 1956) hat an diesen Auffassungen nichts geändert. (Marxismus-Leninismus, Stalinismus, Bolschewismus, Ostblock, Volksdemokratie, Linguistikbriefe, Koexistenz)
Literaturangaben
- Bochenski, Joseph M.: Der sowjetrussische dialektische Materialismus (Diamat). Bern 1950, Francke. 213 S.
- Bochenski, Joseph M.: Die kommunistische Ideologie … Bonn 1956, Bundeszentrale für Heimatdienst. 75 S.
- Buchholz, Arnold: Ideologie und Forschung in der sowjetischen Naturwissenschaft (Schriftenreihe Osteuropa Nr. 1). Stuttgart 1953, Deutsche Verlagsanstalt.
- Lange, Max Gustav: Marxismus — Leninismus — Stalinismus. Stuttgart 1955, Ernst Klett. 210 S.
- Lehmbruch, Gerhard: Kleiner Wegweiser zum Studium der Sowjetideologie. Bonn 1958. 90 S.
- Lieber, Hans-Joachim: Die Philosophie des Bolschewismus in den Grundzügen ihrer Entwicklung (Staat u. Gesellschaft, Bd. 3) Frankfurt a. M. 1957, Moritz Diesterweg. 107 S.
- Marxismusstudien, Sammelband, hrsg. v. E. Metzke (Schr. d. ev. Studiengemeinsch. Nr. 3). Tübingen 1954, Mohr. 243 S.
- Marxismusstudien, 2. F., Sammelband, hrsg. von I. Fetscher (Schr. d. ev. Studiengemeinsch. Nr. 5). Tübingen 1957, Mohr. 265 S.
- Stalin: Über dialektischen und historischen Materialismus (vollst. Text, m. krit. Kommentar von Iring Fetscher). Frankfurt a. M. 1956, Moritz Diesterweg. 126 S.
- Theimer, Walter: Der Marxismus. Lehre — Wirkung — Kritik (Sammlung Dalp, Bd. 73). Bern 1950, A. Francke. 253 S.
- Wetter, Gustav A.: Der dialektische Materialismus. Seine Geschichte und sein System in der Sowjetunion. 2. Aufl., Freiburg 1953, Herder. 659 S.
Fundstelle: SBZ von A bis Z. Fünfte, überarbeitete und erweiterte Auflage, Bonn 1959: S. 145–146