
Kirchenpolitik (1959)
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Die Lage der Kirchen in der SBZ wird entscheidend mitbestimmt durch die kirchenpolitische Entwicklung von 40 Jahren in der SU und durch die unterschiedliche Religionspolitik in den Satellitenländern. In den ersten Etappen der rücksichtslosen Kirchenverfolgung von 1917–1939 trat der Bolschewismus als Antikirche mit dem Ausschließlichkeitsanspruch des Dialektischen Materialismus auf. Gottlosigkeit wurde aus Grundsatz gefordert. Auslöschung der Kirche war das Ziel. Es kam zwischen 1925 (Gründung des Bundes der Gottlosen) und 1932 zu Massenaustritten. Aber die orthodoxe Kirche überlebte und blieb. Die Sowjetregierung erkannte schon beim Tode des Patriarchen Tychon (25. 3. 1925), daß ihre Bemünungen um die völlige Ausmerzung des Christentums vergeblich waren. Sie änderte die Methode, ohne das Ziel aufzugeben, indem sie die Kirche zwang, die Tatsache der Verfolgung formell abzuleugnen und das „Martyrium der Lüge“ dem Leben der Kirche zuliebe auf sich zu nehmen; die Anzahl der Gläubigen jedoch, die ohne Anklage gegen die Kirche das Martyrium der Wahr[S. 175]heit auf sich nahmen, blieb groß genug zur Wachhaltung des Gewissens. Während des Krieges schließlich wurde die Kirche „anerkannt“ und gleichgeschaltet.
In der SBZ war die Ausgangssituation eine wesentlich andere. Es gab im Deutschland von 1945 nicht wie im Rußland von 1917 ein Staatsoberhaupt, dem (laut § 64 der alten russischen Verfassung) der Titel „Beschützer der Dogmen des … Glaubens und Aufseher der Rechtgläubigkeit“ zuerkannt war. Die Kirchen in Deutschland hatten schon während des „Dritten Reiches“ unter einer christentumsfeindlichen Diktatur leiden müssen. Die SED zog darum für die Bekämpfung der Kirchen ihre Nutzanwendungen aus den veränderten Methoden in der SU und aus den Erfahrungen in den Satellitenländern, wo Schauprozesse und Liquidierungen das System selber diskreditiert hatten. Die SED-Regierung hoffte, ohne Verzicht auf gelegentliche Schockaktionen, das Kirchenvolk langsam der Kirche entfremden zu können. Erfahrungen in nationalkirchlichen und Spaltungsexperimenten wurden mit Prag und Warschau ausgetauscht. Immer, wenn eine Verschärfung des politischen Kurses in der Zone vorbereitet wurde, ging eine osteuropäische Konferenz „fortschrittlicher Christen“ oder eine „Friedenstagung“ mit christlichen Sprechern voraus. Chruschtschows Mahnung vom 1. 11. 1954, die Gefühle der Gläubigen zu schonen, die Dilettanten auszuschalten und nur noch einen ideologischen Kampf gegen die „unwissenschaftliche religiöse Weltanschauung“ zu führen, brachte für die Zone keine Erleichterung, denn hier vollzog sich ja der Hauptkampf in den Schulen, Parteischulen, in Presse und Rundfunk. Die Gesellschaft zur Verbreitung wissenschaftlicher Kenntnisse übernahm von der fast gleichnamigen sowjetischen Organisation Kampfschriften von niedrigem Niveau (z. B. Pawjolkin, „Der religiöse Aberglaube und seine Schädlichkeit“), die in großen Auflagen verbreitet wurden. Vortragszyklen an Hand des Buches „Weltall, Erde, Mensch“ wurden mit der Tendenz der Verächtlichmachung des Glaubens zur Vorbereitung der Jugendweihe veranstaltet. Auch die Volkshochschule wurde in diese „populärwissenschaftlichen“ Aufklärungsaktionen einbezogen bei Verminderung der Anzahl der christlichen Dozenten. Der wachsende Widerstand gegen die Jugendweihe wurde mit öffentlicher Beschimpfung der Pfarrer und mit Gesinnungsterror gegenüber den Eltern beantwortet. in einem Schreiben des Evangelischen Bischofs von Berlin an die Eltern der Konfirmanden (vom 17. 10. 1955) hieß es: „Wer sich konfirmieren lassen will, kann nicht zur Jugendweihe gehen. Hier können wir keine Kompromisse schließen mit dem Atheismus“ Im Katholischen Amtsblatt (Bischöfl. Ordinariat Berlin) vom 1. 2. 1955 wurde gesagt: „Hier gibt es nur ein Entweder-Oder. Katholischer Glaube und Jugendweihe stehen sich unversöhnlich gegenüber.“ Im Frühjahr 1958 setzen Massenpropaganda und erstmalig offene Nötigung ein. (ADN nennt am 26. 3. 1958 die Zahl von 90.000 Jugendweihlingen.) Gegen die Vorbereitung im Herbst 1957 erfolgten neue Kanzelverlesungen der kathol. Bischöfe am 17. 10. 1957 und des ev. Bischofs Dibelius am 20. 10. 1957. Die scharfen Maßnahmen gegen kirchliche Jugendorganisationen (Junge Gemeinde) und die am 15. 2. 1956 verfügte Behinderung des Religionsunterrichts an den Schulen Ost-Berlins (Verbot des Religionsunterrichts an den Oberschulen) zeigten erneut, wo die Hauptangriffe gegen die Kirchen geführt werden. Eine Anordnung des Volksbildungsministeriums vom 12. 2. 1958 verlangte Maßnahmen zur Aufklärung der Eltern über „die Schädlichkeit der Überbeanspruchung der Kinder durch die Christenlehre“. Weitere Beispiele für die mit verschiedenen Mitteln durchgeführte Absicht, der Kirchenarbeit den Boden zu entziehen, sind: Die Schließung der ev. Bahnhofsmissionen und die Verhaftung zahlreicher Helfer dieser Missionen unter der Anschuldigung der Sabotage und Republikfluchtbegünstigung, die Kürzung der staatlichen Zuschüsse an die Kirchen, die Beschränkung der kirchlichen karitativen Tätigkeit „auf den kirchlichen Raum“, die Verächtlichmachung führender Geistlicher in der Öffentlichkeit, die Verweigerung jeden Kirchenbaues im neuen Industriegebiet Schwarze Pumpe, in Stalinstadt usw., Schließung kirchl. Kinderheime, Verspottung des Weihnachtsfestes („Eulenspiegel“ Nr. 52/57), die Einschränkung der Sammelerlaubnis und die Einführung von Ersatzriten für Taufe, Trauung und Begräbnis. Der Pressekampf gegen die Synode Ende April 1958, Störtrupps im Stoeckerstift und Einreiseverbot für kathol. und ev. Bischöfe leiteten neue Großoffensive ein. Vorwand u. a. der Militärseelsorgevertrag. („Neue Zeit“ v. 22. 4. 1958: „Unterstützung des Militärseelsorgevertrages ist Staatsverbrechen.“) Die Kampfmilderung nach dem Juni-Aufstand ist vergessen.
[S. 176]Über langwierige Verhandlungen zwischen Vertretern des Staates (Grotewohl, Maron, Eggerath) und Vertretern der Ev. Kirche (in Abwesenheit von Propst Gröber) erschien am 21. 7. 1958 ein gemeinsames Kommuniqué, in dem die kirchlichen Vertreter erklärten, daß 1. die Kirchen in der „DDR“ an den Militärseelsorgevertrag nicht gebunden sind, 2. die Kirchen grundsätzlich mit den Friedensbestrebungen der „DDR“ und ihrer Regierung übereinstimmen, 3. die Christen ihre staatsbürgerlichen Pflichten auf der Grundlage der Gesetzlichkeit erfüllen, 4. die Christen die Entwicklung zum Sozialismus respektieren und zum friedlichen Aufbau des Volkslebens beitragen, 5. die Kirchen den gegen den Staat erhobenen Vorwurf des Verfassungsbruches nicht aufrechterhalten. Die Regierung der „DDR“ erklärte: Jeder Bürger genießt volle Glaubens- und Gewissensfreiheit. Die ungestörte Religionsausübung steht unter dem Schutz der Republik.
Beide Seiten gaben zu erkennen, daß klärende Aussprachen über die Beseitigung etwaiger Mißstände in ihren gegenseitigen Beziehungen durchgeführt werden sollen. Trotzdem äußerte der Rat der EKD bereits im Oktober 1958 ernste Sorge über die Behinderung des kirchlichen Lebens, insbesondere auf dem Gebiet der Jugenderziehung. Zur gleichen Zeit legte Propst Grüber sein Amt als Bevollmächtigter der EKD nieder. Am 2. 5. 1959 erließ die ev. Kirchenleitung Berlin-Brandenburg eine Notverordnung für den Fall, daß „die bestehende Einheit der Berlin-Brandenburgischen Kirche durch die politische Entwicklung unterbunden“ werden sollte.
Literaturangaben
- Adolph, Walter: Atheismus am Steuer. Berlin 1956, Morus-Verlag. 103 S.
- Jeremias, U.: Die Jugendweihe in der Sowjetzone. 2., erg. Aufl. (BMG) 1958. 120 S.
- Shuster, George N.: Religion hinter dem Eisernen Vorhang (übers. a. d. Amerik.). Würzburg 1954, Marienburg Verlag. 288 S.
Fundstelle: SBZ von A bis Z. Fünfte, überarbeitete und erweiterte Auflage, Bonn 1959: S. 174–176
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