Sozialversicherungs- und Versorgungswesen (1959)
Siehe auch die Jahre 1953 1954 1956 1958 1960 1962 1963 1965 1966 1969 1975 1979 1985
[S. 330]Der Vorsorge gegen die wirtschaftlichen Folgen von Alter, Invalidität, Arbeitslosigkeit und sonstigen Wechselfällen des Lebens sowie der Erhaltung der Gesundheit und Arbeitsfähigkeit der arbeitenden Bevölkerung und dem Schutze der Mutterschaft soll nach Art 16, 3 der Verfassung ein einheitliches, umfassendes Sozialversicherungswesen auf der Grundlage der Selbstverwaltung der Versicherten dienen. Obwohl stets die Sorge um den Menschen betont wird, bestimmt nicht sie die Gestaltung und die Grenzen dieser Vorsorge, vielmehr tun dies die Aufgaben, die die Sozialversicherung innerhalb der Planwirtschaft hat. Denn: „Die Sozialversicherung muß in den Fünfjahrplan eingeordnet werden und seiner Verwirklichung dienen. Zu seiner Durchführung ist die Pflege der Arbeitskraft und die Gesunderhaltung unserer Werktätigen notwendig“ (Grete Groh-Kummerlöw, „Die Übernahme der vollen Verantwortung für den weiteren Ausbau der Sozialversicherung durch die Gewerkschaften“, Berlin 1951, Seite 19). Organisation und Leistungen der Sozialversicherung sind darauf gerichtet, die Bevölkerung möglichst ausnahmslos zur Arbeit zu zwingen, damit die Produktion ein Höchstmaß erreicht. Mittel dazu sind: Möglichst kleine Alters- und Invalidenrenten, strengster Maßstab bei ärztlichen Untersuchungen auf Erwerbsminderung oder wegen zeitweiliger Arbeitsbefreiung infolge Krankheit, keine Versorgung für arbeitsfähige Witwen bis zu 60 Jahren. Außerdem soll durch eine geplante Staffelung der Leistungen nach der volkswirtschaftlichen Bedeutung des Betriebes, in dem der Versicherte arbeitet, die Fluktuation der Arbeitskräfte eingeschränkt werden. „Die Erfüllung des Fünfjahrplans muß seitens der Sozialversicherung unterstützt werden durch Zahlung höherer Renten in diesen Industriezweigen, um den Zustrom von Arbeitern dahin zu verstärken“ (Paul Peschke, „Sozialversicherung — Sache des FDGB und seiner Industriegewerkschaften“, in: „Die Arbeit“, S. 218/51).
Die Sozialversicherung ist eine zentralgelenkte Einheitsversicherung, in der alle früheren Versicherungsträger aufgegangen sind (Unfall-, Invaliden-, Alters-, Angestelltenversicherung, Knappschaftsversicherung sowie die Orts-, Innungs-, Betriebs- und Ersatzkrankenkassen). Durch die Verordnung über die Sozialpflichtversicherung vom 28. 1. 1947, erlassen auf Grund des Befehls Nr. 28 der SMAD („Arbeit und Sozialfürsorge“, S. 92/47), wurde das Sozialversicherungswesen auf eine einheitliche Grundlage gestellt, nachdem bereits ab Herbst 1945 in jedem Lande der SBZ durch Gründung einer Sozialversicherungsanstalt die Voraussetzung hierfür geschaffen worden war.
Durch die Verordnung über die Sozialversicherung vom 26. 4. 1951 (GBl. S. 325) wurde die Verantwortung für die Leitung und die Kontrolle der Sozialversicherung dem FDGB übergeben. Die 5 Sozialversicherungsanstalten der Länder wurden zu einer einheitlichen „Sozialversicherung, Anstalt des öffentlichen Rechtes“ mit dem Sitz in Berlin vereinigt, die vom Zentralrat der Sozialversicherung geleitet und verwaltet wurde. Dem Ministerium für Arbeit und Berufsausbildung oblag seitdem nur noch die Aufsicht über die Sozialversicherung. Der Zentralrat der Sozialversicherung wurde gesetzlicher Vertreter der Sozialversicherung und ihr oberstes Organ.
Auf einer Tagung des FDGB-Bundesvorstandes am 15. und 16. Februar 1956 wurde in Ausführung der bereits im Juni 1954 entworfenen „Politischen Grundsätze der Sozialversicherung für den zweiten Fünfjahrplan“ beschlossen, die Sozialversicherung, zu der in Zukunft nur noch die Arbeiter und Angestellten gehören sollten, vollständig dem FDGB [S. 331]zu übergeben. Zunächst ohne Änderung der gesetzlichen Bestimmungen wurde aus der Zentralverwaltung der Sozialversicherung und der Abteilung Sozialversicherung des FDGB-Bundesvorstandes eine „Verwaltung der Sozialversicherung des Bundesvorstandes des FDGB“ gebildet und der Zentralrat sowie die Räte für Sozialversicherung in den Bezirken und Kreisen, die bis dahin als „Selbstverwaltungsorgane“ galten, obwohl sie nicht von den Versicherten gewählt, sondern von den FDGB-Vorständen bestellt worden waren, aufgelöst. Durch VO vom 2. 3. 1956 (GBl. S. 257) wurden rückwirkend vom 1. Januar an die Selbständigen (Bauern, Handwerker, Kleinunternehmer usw.) aus der Sozialversicherung, Anstalt öffentlichen Rechts, ausgegliedert. Träger der Sozialversicherung wurde für diese Berufsgruppen die Deutsche ➝Versicherungsanstalt. Die völlige Übernahme der Sozialversicherung der Arbeiter und Angestellten durch den FDGB wurde durch VO vom 23. 8. 1956 legalisiert (GBl. S. 687). Der FDGB hat gleichzeitig das Recht erhalten, den Zentralvorständen der Industriegewerkschaften die volle Verantwortung für die Sozialversicherung für ihren Bereich zu übertragen. Von dieser Befugnis ist weitgehend Gebrauch gemacht worden. Die Staatsaufsicht entfiel.
In den „volkseigenen“ Betrieben (VEB) und Verwaltungen bestehen Räte, in den Privatbetrieben Kommissionen der Sozialversicherung. Die Räte in den VEB und in den Verwaltungen haben die Bevollmächtigten für Sozialversicherung anzuleiten und zu kontrollieren. Die Bevollmächtigten für Sozialversicherung in den VEB und Verwaltungen sowie auch in den Privatbetrieben müssen nach ihren Richtlinien („Handbuch für den Gewerkschaftsfunktionär im Betrieb“, 2. verbesserte Auflage 1955, hrsg. vom Bundesvorstand des FDGB, S. 528 ff.) u. a. Kranke innerhalb von drei Tagen in der Wohnung besuchen. „Wird die unberechtigte Inanspruchnahme von Mitteln der Sozialversicherung festgestellt, so soll der Bevollmächtigte veranlassen, daß sich die Kollegen auf der gewerkschaftlichen Mitgliederversammlung auseinandersetzen und auf die Verwerflichkeit einer solchen Handlungsweise hinweisen. Die Gewerkschaftsgruppe beschließt erzieherische Maßnahmen, die dem Rat für Sozialversicherung zur Bestätigung vorgelegt werden. Solche Maßnahmen sind: Mißbilligung der Gewerkschaftsgruppen, öffentliche Kritik in der Wandzeitung, Entzug des Krankengeldes und des Lohnausgleichs für die Dauer des unberechtigten Bezuges, Ausschluß aus der Brigade, Entlassung aus dem Betrieb.“
In den VEB und den Verwaltungen wählen die Bevollmächtigten für Sozialversicherungen die Räte, in den Privatbetrieben bestehen die Kommissionen aus den Bevollmächtigten. Die Bevollmächtigten werden auf Vorschlag der jeweiligen BGL von den Betriebsangehörigen gewählt.
Die Übertragung der Sozialversicherung auf den FDGB und das System der Räte und der Bevollmächtigten sollen angeblich die Selbstverwaltung der Sozialversicherung durch die Versicherten verwirklichen, in Wahrheit bedeutet es jedoch, daß die Versicherten keinerlei Einfluß haben. Die FDGB-Vorstände sind nicht die Vertreter aller Versicherten, sondern bestenfalls der FDGB-Mitgl., wobei schon dies bei der Fragwürdigkeit der Wahlen zu den Vorständen bezweifelt werden muß. Da die Räte in den VEB und Verwaltungen sowie die Kommissionen in den Privatbetrieben von den BGL angeleitet werden oder ihnen sogar, wie in den Privatbetrieben, unterstehen, ist auch hier der Einfluß der Versicherten praktisch ausgeschaltet.
Die Verwaltung besteht aus der Zentrale in Berlin und Außenstellen in [S. 332]den Bezirks- und Kreisstellen. Das Krankengeld wird meist in den Betrieben ausgezahlt (Anordnungen vom 2. 8. 1951, GBl. S. 113). Die Räte in den VEB und Verwaltungen sind befugt, über Leistungen zu entscheiden. Das gleiche gilt für die Kommissionen, wenn der Privatbetrieb die Leistungen auszahlen darf. Der Haushaltsplan der Sozialversicherung ist Bestandteil des Haushaltsplans der „DDR“ (§ 8 der Verordnung vom 26. 4. 1951). Die Pflichtbeiträge werden von den Abt. Finanzen bei den Kreisverwaltungen (Finanzämtern) eingezogen (VO vom 14. 12. 1950, GBl. S. 1195).
Gesetzliche Grundlage der Sozialpflichtversicherung und ihrer Leistungen sind noch die Verordnung über Sozialpflichtversicherung vom 28. 1. 1947 und zahlreiche Einzelverordnungen, obwohl schon bis zum 1. 10. 1951 eine neue Sozialversicherungsordnung erlassen werden sollte.
Der Sozialversicherungspflicht unterliegen ohne Rücksicht auf die Höhe des Einkommens alle Arbeiter und Angestellten (auch die Angestellten der Verwaltung, die in der SBZ an die Stelle der Beamten getreten sind); Bauern, die bis zu 5 Arbeiter beschäftigen; Handwerker, die zur Handwerkskammer gehören; die Angehörigen der freischaffenden Intelligenz, also z. B. Ärzte, Anwälte und Künstler; alle anderen selbständigen Erwerbstätigen, die bis zu 5 Arbeiter und Angestellte beschäftigen; die ständig mitarbeitenden Ehefrauen und Kinder sowie Studenten, Hoch- und Fachschüler.
Die Leistungen der Sozialversicherung bestehen a) im Krankheitsfalle aus freier ➝Heilbehandlung, Krankengeld und Hausgeld für die Zeit der Behandlung in einem Krankenhaus oder Sanatorium; b) aus Schwangerschafts- und Wochenhilfe; c) aus Sterbegeld; d) aus Renten bei Invalidität, im Alter, für die Folgen von Arbeitsunfällen und anerkannten Berufskrankheiten und für Hinterbliebene; e) aus Kuren für Rekonvaleszenten und angeblich erholungsbedürftige Aktivisten. Die ehemaligen Beamten und Berufssoldaten sowie deren Witwen und Hinterbliebene werden von der Sozialversicherung und nach deren Grundsätzen versorgt (Beamtenversorgung). Das gleiche gilt für Kriegsinvalide und Kriegshinterbliebene (Kriegsopferversorgung). Bergleute erhalten auf Grund verschiedener Verordnungen erhöhte Leistungen (Bergmannsrenten), desgleichen neuerdings Eisenbahner und Angehörige der Post, soweit sie sich bei Inkrafttreten der entsprechenden Bestimmungen (1. 1. 1956 und 1. 7. 1956) im Dienst befanden. Ausgeschiedene können sich die bessere Versorgung verdienen, wenn sie die Arbeit für ein Jahr wieder aufnehmen.
Für die technische ➝Intelligenz in den „volkseigenen“ und ihnen gleichgestellten Betrieben ist eine zusätzliche Altersversorgung geschaffen worden. Eine entsprechende Regelung gilt für die Intelligenz an wissenschaftlichen, künstlerischen, pädagogischen und medizinischen Einrichtungen. (Altersversorgung)
Die anerkannten, d. h. die heute im Sinne des Sowjetzonensystems tätigen Verfolgten des Naziregimes erhalten erheblich höhere Leistungen, auch wenn sie keine Versicherungszeiten nachweisen können.
Die Pflichtversicherungsbeiträge betragen für Arbeiter und Angestellte 20 v. H. — im Bergbau 30 v. H. — des lohnsteuerpflichtigen Arbeitsverdienstes bis zu 600 DM Ost monatlich. Die Beiträge sind je zur Hälfte von den Versicherten und den Betrieben zu tragen, im Bergbau tragen die Betriebe zwei Drittel. Selbständig Erwerbstätige zahlen 17 v. H. des steuerpflichtigen Einkommens bis zu 600 DM Ost monatlich. Der Mindestbeitrag beträgt für diese 8 DM Ost. Handwerker und [S. 333]Bauern zahlen gestaffelte Beiträge nach besonderen Tabellen. Außerdem wird für Arbeiter und Angestellte von den Betrieben eine besondere Unfallumlage eingezogen, deren Höhe sich nach den Unfallgefahren des jeweiligen Betriebes richtet und zwischen 0,3 und 3 v. H. des monatlichen Verdienstes des Beschäftigten bis zu 600 DM Ost liegt. Gegen Entscheidungen über Leistungen ist das Rechtsmittel der Beschwerde gegeben. Über sie entscheidet die Beschwerdekommission beim Rat für Sozialversicherung des Kreises. Gegen dessen Entscheidung kann entweder das Bezirksarbeitsgericht durch Anfechtungsklage oder die Beschwerdekommission des Bezirkes durch weitere Beschwerde angerufen werden. Der Beschluß der Bezirksbeschwerdekommission oder das Urteil des Bezirksarbeitsgerichts sind endgültig.
Die Sozialversicherung ist Träger der Arbeitslosenversicherung.
Eine freiwillige oder eine zusätzliche Versicherung kann bei der Sozialversicherung seit Erlaß der VO über Herausnahme der freiwilligen Versicherungen aus der Sozialversicherung vom 19. 3. 1953 (GBl. S. 463) nicht mehr abgeschlossen werden. Neue derartige Versicherungen können nur bei der Deutschen Versicherungsanstalt abgeschlossen werden. Ehemalige Pflichtversicherte, die sich bei der Sozialversicherung freiwillig rentenversichert hatten, bleiben dort auch in Zukunft versichert.
Trotz der großen Zahl der Anspruchsberechtigten kann die Sozialfürsorge aus öffentlichen Mitteln nicht entbehrt werden.
Literaturangaben
- Haas, Gerhard, und Alfred Leutwein: Die rechtliche und soziale Lage der Arbeitnehmer in der sowjetischen Besatzungszone. 5., erw. Aufl. (BB) 1959. Teil I (Text) 264 S., Teil II (Anlagen) 162 S.
- Leutwein, Alfred: Die technische Intelligenz in der sowjetischen Besatzungszone. (BB) 1953. 56 S. m. 6 Anlagen.
- Leutwein, Alfred: Die sozialen Leistungen in der sowjetischen Besatzungszone und in Ost-Berlin. 5., erw. Aufl. (BB) 1959, Teil I (Text) 171 S., Teil II (Anlagen) 191 S.
- Leutwein, Alfred: Die Sach- und Personenversicherung in der SBZ. 2., erg. Aufl. (BB) 1958, Teil I (Text) 158 S., Teil II (Anlagen) 192 S.
- Bosch, Werner: Die Sozialstruktur in West- und Mitteldeutschland. (FB) 1958. 240 S. m. 43 Tab.
- Caesar, Paul: Das Sozialversicherungsrecht in der Bundesrepublik und in der sowjetischen Besatzungszone. (FB) 1958. 120 S. mit 2 Anlagen.
Fundstelle: SBZ von A bis Z. Fünfte, überarbeitete und erweiterte Auflage, Bonn 1959: S. 330–333
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