DDR von A-Z, Band 1959

Wiedervereinigung (1959)

 

 

Siehe auch:


 

Äußerer Anlaß zu den Vorgängen, die zur Spaltung Berlins führten und damit auch die Teilung Deutschlands einleiteten, waren Meinungsverschiedenheiten unter den Besatzungsmächten über Fragen ihrer Deutschlandpolitik; sie betrafen vor allem die sowjetischen Ansprüche auf Reparationen und den Status des Ruhrgebiets. Tiefere Ursache war jedoch die von Jahr zu Jahr klarer hervortretende Absicht der SU, Deutschland (unter dem Vorwande der Entmachtung der Kriegsverbrecher, Nazis, Junker, Monopole usw.) auf den Weg der Umwandlung seiner Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung im bolschewistischen Sinne zu führen. In den Auseinandersetzungen mit den Westmächten spielte die unterschiedliche Interpretation des Potsdamer Abkommens (Besatzungspolitik) eine wesentliche Rolle. Diese Auseinandersetzungen waren von vornherein durch eine von östlicher Seite systematisch gepflegte abweichende Terminologie belastet und vernebelt; sie weiteten sich (insbesondere während der Blockade Berlins und später nach dem kommunistischen Einmarsch in Südkorea, Juli 1950) zur weltpolitischen Krise aus, in der schließlich die Frage der W. Deutschlands für die beiden Weltmächte zu einer Funktion der Behauptung ihrer Machtposition und Sicherheit zu werden drohte.

 

Seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland am 23. 5. 1949 und der Konstituierung der sog. „Deutschen Demokratischen Republik“ am 7. 10. 1949 ist die Frage der W. Hauptgegenstand der innerdeutschen Auseinandersetzung. Die Bundesregierung als einzige aus freien Wahlen hervorgegangene und nach Freiheit und Recht konstituierte Regierung beansprucht die Legitimation, für ganz Deutschland zu sprechen, und sieht freie gesamtdeutsche Wahlen als unabdingbare Voraussetzung der W. an. Sie wünscht jedoch die ehemaligen Alliierten von der Verantwortung für die Beseitigung der von ihnen verursachten Spaltung Deutschlands nicht zu entlasten; der Deutsche Bundestag ermächtigte sie am 14. 9. 1950, Schritte zur Durchführung freier, allgemeiner, gleicher, geheimer und direkter Wahlen zu einem gesamtdeutschen Parlament bei den Besatzungsmächten zu tun.

 

Die SBZ-Regierung dagegen wollte bereits in ihrer ersten programma[S. 395]tischen Äußerung vom 25. 10. 1950 an den Anfang aller Schritte zur W. ein paritätisches Gremium, einen „Gesamtdeutschen Konstituierenden Rat“, gesetzt sehen; sie übernahm außerdem von der SU den Begriff des „einheitlichen, friedliebenden, demokratischen Staates“, der in den ferneren Erörterungen nicht etwa nur als Propagandafloskel figurierte, sondern mit von Jahr zu Jahr zunehmender Deutlichkeit das politische Leitbild eines Gesamtdeutschlands im kommun. Sinn der Arbeiter-und-Bauern-Macht bezeichnete. Das paritätische Gremium (ob es nun „Gesamtdeutscher Konstituierender Rat“ oder — in späteren Programmen — „Gesamtdeutscher Rat“, „Gesamtdeutsche Beratungen“, „Gesamtdeutsche souveräne demokratische und friedliebende Regierung“, schließlich „Konföderation der beiden deutschen Staaten“ genannt wurde) sollte zunächst die Anerkennung des sowjetzonalen Staatswesens und seiner Regierung einbringen; falls es zu gesamtdeutschen Wahlen kommen sollte (die Volkskammer hatte sich am 30. 1. 1951 bereit erklärt, über die „Bedingungen“ solcher Wahlen zu verhandeln), sollte dies Gremium die „Bedingungen vorbereiten“ (Brief Grotewohls vom 30. 11. 1950). Als solche Bedingungen wurden u. a. der Abzug aller Besatzungstruppen, die Beteiligung der Massenorganisationen an den Wahlen, die Ausschaltung des Einflusses der „Monopole“ genannt; gelegentlich wurde sogar das Verfahren der sowjetzonalen Wahlen als vorbildlich bezeichnet. Wann immer in der Folgezeit die SU oder die SBZ-Regierung freie Wahlen als Schritt zur W. zu akzeptieren scheinen (z. B. Note der SU vom 9. 4. 1952, Genfer Direktiven vom 23. 7. 1955), müssen diese „Bedingungen“ in Betracht gezogen werden.

 

Die W.-Politik der SU und der SBZ wurde seit 1952 aber auch dadurch immer unglaubwürdiger, daß jeder Schritt der Bundesrepublik auf dem Wege zur Integration Europas, späterhin zur Leistung ihres Verteidigungsbeitrages im Rahmen der NATO, als ein Hindernis für die W. hingestellt wurde, obschon z. B. der sogenannte „Generalvertrag“ vom 23. 10. 1954 festlegte, daß im Fall der W. das Verhältnis Gesamtdeutschlands zur NATO neu vereinbart werden sollte.

 

Die sowjetische Seite sprach nun immer entschiedener aus, daß sie einer „mechanischen Verschmelzung der beiden Teile Deutschlands“ (d. h. der W. aus dem freien Entschluß der Deutschen selbst) nicht zustimmen werde (so Bulganin am 23. 7. 1955, Chruschtschew am 26. 7. 1955), und stellte der W. Deutschlands die Schaffung eines „Systems der kollektiven Sicherheit in Europa“ voran. Die Folgen der Spaltung Deutschlands wurden von der SU nun als innerdeutsche Fragen bezeichnet, die die „beiden deutschen Staaten“ unter sich zu regeln hätten; dementsprechend forderte auch das ZK der SED am 27. 10. 1955 „Verhandlungen auf der Grundlage der Gleichberechtigung“, und Ulbricht ergänzte diese Forderung am 30. 12. 1956 im „Neuen Deutschland“ durch den Vorschlag, „zunächst eine Annäherung der beiden deutschen Staaten herbeizuführen, später eine Zwischenlösung in Form der Konföderation oder Föderation zu finden, bis es möglich ist, die Wiedervereinigung und wirklich demokratische Wahlen zur Nationalversammlung zu erreichen“. Und im Beschluß des V. Parteitages der SED vom 16. 7. 1958 heißt es mit unverkennbarem Bezug auf die W.: „Die DDR und ihre sozialistischen Errungenschaften werden niemals ein Objekt des Schachers sein. Fest verbunden mit der SU und dem ganzen sozialistischen Lager sind die Arbeiter-und-Bauern-Macht des deutschen Volkes und ihre sozialistischen Errungenschaften für immer unantastbar.“

 

Die W.-Politik der SED folgt somit offensichtlich dem Konzept der Blockpolitik, nach dem die Kommunisten die Macht in der SBZ an sich gerissen hatten.

 

Literaturangaben

  • : Die Bemühungen der Bundesrepublik um Wiederherstellung der Einheit Deutschlands durch gesamtdeutsche Wahlen. Dokumente und Akten, I. Teil (4., erw. Aufl.) Bonn 1958. 153 S.; II. Teil (erw. Neuaufl.) 1958. 290 S.; III. Teil: Systemat. Regist. 1958. 58 S. Je eine englische und eine französische Ausgabe in einem Bande enthält die in den beiden deutschen Sammlungen zusammengestellten Dokumente und Akten bis Januar 1954.
  • Die deutsche Frage 1952–1956 — Notenwechsel und Konferenzdokumente der vier Mächte, hrsg. v. Eberhard Jäckel (Bd. XXIII der Dokumente, hrsg. v. d. Forschungsstelle f. Völkerrecht … d. Univ. Hamburg) Frankfurt a. M. 1957, Alfred Metzner. 169 S.
  • Lukas, Richard: 10 Jahre sowjetische Besatzungszone … Mainz 1955, Deutscher Fachschriften-Verlag. 215 S.
  • SBZ von 1945 bis 1954 — Die Sowjetische Besatzungszone Deutschlands in den Jahren 1945 bis 1954 (gesichtet und zusammengestellt von Fritz Kopp). (BMG) 1956. 364 S. m. 9 Anlagen u. 1 Karte.
  • SBZ von 1955 bis 1956 — Die Sowjetische Besatzungszone Deutschlands in den Jahren 1955 bis 1956. Ergänzungsband zu SBZ von 1945 bis 1954 (zusammengestellt und bearbeitet von Fritz Kopp und Günter Fischbach). Bonn 1958. 255 S. m. 3 Anlagen.
  • Schütze, Hans: Mitteldeutschlands Weg zur Volksdemokratie (hrsg. v. d. Niedersächs. Landeszentrale f. Heimatdienst). Hannover 1957. 78 S., 2 Taf.
  • Schütze, Hans: „Aufbau des Sozialismus“ in Mitteldeutschland (hrsg. von der Niedersächs. Landeszentrale für Heimatdienst). Hannover 1959. 108 S.. 3 Taf.
  • Siegler, Heinrich von: Wiedervereinigung und Sicherheit Deutschlands. 3., erw. Aufl., Bonn 1958, Verlag für Zeitarchive. 305 S. m. 4 Karten.

 

Fundstelle: SBZ von A bis Z. Fünfte, überarbeitete und erweiterte Auflage, Bonn 1959: S. 394–395


 

Information

Dieser Lexikoneintrag stammt aus einer Serie von Handbüchern, die zwischen 1953 und 1985 in Westdeutschland vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (ab 1969 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen) herausgegeben worden sind.

Der Lexikoneintrag spiegelt den westdeutschen Forschungsstand zum Thema sowie die offiziöse bundesdeutsche Sicht auf das Thema im Erscheinungszeitraum wider.

Ausführliche Informationen zu den Handbüchern finden Sie hier.