
Hochschulen (1960)
Siehe auch die Jahre 1953 1954 1956 1958 1959 1962 1963 1965 1966 1969 1975 1979
Die H. unterstanden bis 1951 dem Ministerium für Volksbildung der SBZ und den entsprechenden Volksbildungsministerien der Länder. Durch Verfügung vom 22. 2. 1951 wurde ein Staatssekretariat für das Hochschulwesen geschaffen, dem 1958 auch die Fachschulen unterstellt wurden. Der sog. Demokratisierung der H. in den ersten Jahren nach 1945 folgte seit 1951 die Hochschulreform bzw. Studienreform, die zu einer weitgehenden Angleichung an das sowjet. Hochschulwesen führte. Seit 1957/58 werden die Bemühungen um die Anpassung des Hochschulwesens an die Struktur der kommunistischen Herrschaft als seine „weitere sozialistische Umgestaltung“ etikettiert. Die „sozialistische“ H. läßt sich durch folgende Merkmale kennzeichnen:
1. Im Gesetz über den Siebenjahrplan (1959–1965) wird den Universitäten und H. die Aufgabe gestellt, wissenschaftlich hochqualifizierte Fachleute auszubilden, die den neuesten Stand der wissenschaftlich-technischen Erkenntnis beherrschen, über die Fähigkeit verfügen, ihre Kenntnisse in die Praxis des sozialistischen Aufbaues einzusetzen, erfolgreich im sozialistischen Kollektiv zu arbeiten und eine leitende Tätigkeit in Staat, Wirtschaft und Kultur auszuüben. Diese Zielsetzung impliziert auch eine politische Erziehung der Studenten. An die Stelle des traditionellen Postulats der Einheit von Forschung und Lehre ist die Forderung der Einheit von Forschung, Lehre und Erziehung getreten. Sie zielt auf eine „sozialistische Erziehung“ der jungen Intelligenz und mit ihr auf eine Synthese von ergebenem Parteigänger und wissenschaftlich qualifiziertem Fachmann.
2. Der Marxismus-Leninismus besitzt die Monopolstellung. Seit 1950/1951 sind die Studierenden verpflichtet, ein obligatorisches Studium der Parteiideologie, bezeichnet als gesellschaftswissenschaftliches ➝Grundstudium, zu absolvieren Dem entspricht der ständig zunehmende Druck zur Umgestaltung der Gesellschaftswissenschaften, insbesondere der Geschichts-, Rechts-, Staats-, Wirtschafts- und Erziehungswissenschaften sowie der Philosophie im Geiste des Marxismus-Leninismus. Sein Einfluß auf die mathematischnaturwissenschaftlichen Disziplinen ist nicht so tiefgreifend: mehr ihre Voraussetzungen und Horizonte beeinflussend, hat er ihre Orientierung an der internationalen Forschung eher begünstigt als gehemmt.
3. Bei der Ausbildung der Fachkräfte stehen die Anforderungen der späteren beruflichen Praxis im Vordergrund. Die Einheit von Theorie und Praxis ist nicht nur die Richtschnur für die Stoffauswahl, die Wahl der Prüfungsarbeiten usw., sondern bestimmt zunehmend auch die Organisation des Studiums: Wechsel zwischen Direktstudium und Fern- bzw. Abendstudium mit Arbeit in der Produk[S. 170]tion, Verbindung der theoretischen Unterweisung mit praktischer Arbeit im Rahmen bestimmter Projekte.
4. In den letzten Jahren ist die Gründung sozialistischer ➝Gemeinschaften forciert worden: Gemeinschaften von Studenten während der Durchführung des Studiums unter Teilnahme von Assistenten und Dozenten, Diplomanden- und Doktorandenkollektive, Forschungskollektive in Zusammenarbeit mit einem industriellen Betrieb u. dgl. zur Durchführung bestimmter Vorhaben. Grundmotto dieser Gemeinschaften zur Erzielung der Konformität: „Arbeite, lerne, lebe sozialistisch.“
5. Bei der Auslese der Studenten sind bisher Arbeiter- und Bauernkinder bevorzugt worden. Daneben werden neuerdings „vorrangig“ zugelassen: Bewerber, die mehrere Jahre in der „sozialistischen Wirtschaft“ oder in staatlichen und „gesellschaftlichen“ Einrichtungen gearbeitet haben und von ihren Betrieben zum Studium delegiert werden, sowie Bewerber, die als ehemalige Soldaten von den Einheiten der „bewaffneten Organe“ empfohlen werden. In der „Anweisung über die Auswahl, Zulassung und Vormerkung der Studienbewerber zum Direktstudium“ vom 10. 3. 1960 ist das Ziel gesetzt worden, den Anteil der Arbeiter, Genossenschaftsbauern, werktätigen Bauern sowie ihrer Kinder bei durchschnittlich 60 v. H. zu halten (1960). Neben Inhabern der „Hochschulreife“ werden junge Produktionsarbeiter nach Absolvierung von halb- bzw. einjährigen Vor- oder Sonderkursen zum Studium in bestimmten Fachrichtungen zugelassen. Die Absolventen der erweiterten Oberschulen haben unter bestimmten Bedingungen vor ihrer Zulassung ein „praktisches Jahr“ abzuleisten.
6. Die Auswahl der Dozenten wird durch das Staatssekretariat geleitet und zielt auf die Schaffung eines parteiergebenen Lehrkörpers, in dem die überzeugten Marxisten-Leninisten dominieren.
7. Das organisatorische Gefüge der H. ist weitgehend dem des sowjetischen Hochschulwesens angeglichen worden. Schon die „Vorläufige Arbeitsordnung der Universitäten und wissenschaftlichen Hochschulen“ (1949) beseitigte die Kuratorial-Verfassung und erweiterte die Befugnisse des Rektors sowie die Einflußmöglichkeiten der Behörden. Die verheißene akademische Selbstverwaltung konnte sich angesichts der Macht der SED-Führung nicht entwickeln. Alle akademischen Wahlen werden nach Bedarf manipuliert, jede Maßnahme der akademischen Organe ist Produkt der Lenkung durch Partei- und Staatsstellen. Neben dem Rektor, der für die gesamte Leitung und Verwaltung der H. bzw. Universität verantwortlich ist, stehen ernannte Prorektoren mit bestimmten Funktionen (für das Gesellschaftswissenschaftliche Grundstudium, die Forschungsangelegenheiten, den wissenschaftlichen Nachwuchs und die Studienangelegenheiten, d. h. die Angelegenheiten der „Kaderpolitik“ und das Fernstudium). Die Fakultäten sind in Fachrichtungen aufgegliedert worden (z. B. Geschichte, Germanistik), geleitet von Fachrichtungsleitern. An den 6 Universitäten und der Technischen Hochschule Dresden gab es 1955 21 fachlich unterschiedene Fakultäten mit 98 Fachrichtungen.
8. Die H werden unmittelbar von den SED-Betriebsgruppen der H. und den von ihnen geführten FDJ- Hochschulgruppen politisch überwacht.
9. Das Studium erfolgt an allen H. nach festen, für Studierende und Dozierende verbindlichen Studienplänen im 10-Monate-Studienjahr. Die Masse der Studenten ist im Interesse der besseren Überwachung in kleine Seminargruppen aufgeteilt worden (20 bis 30 Mitglieder). Das Ergebnis ist ein schulmäßiger Betrieb, der zwar ein regelmäßiges Lernen garantiert, aber das geforderte „Selbststudium“ verhindert. Die „Aneignung“ des Stoffes wird durch alljährliche Zwischenprüfungen kontrolliert. Nach bestandener Diplomprüfung bzw. nach bestandenem Staatsexamen (akademische Grade) erfolgt „Einsatz“ der Absolventen entsprechend dem Absolventenverteilungsplan.
10. die Studierenden haben während des Studiums eine vormilitärische und militärische Ausbildung zu absolvieren, die von der GST durchgeführt wird.
Zahl der Direktstudenten (1958): 64.006 gegen 27.822 im Jahre 1951; Fernstudenten: 18.713 (1958) gegen 3.690 im Jahre 1951. Bei den offiziellen Angaben werden in der Regel die Angehörigen der Arbeiter- und Bauern-Fakultäten mitgezählt. Der Anteil der Arbeiter- und Bauernkinder betrug 1958 58,2 v. H. bei den Direktstudenten, 48 v. H. bei den Fernstudenten.
Universitäten:
1. Humboldt-Universität zu Berlin;
2. Karl-Marx-Universität in Leipzig;
3. Martin-Luther-Universität, Halle-Wittenberg;
4. Friedrich-Schiller-Universität in Jena;
5. Universität Rostock;
6. Ernst-Moritz-Arndt-Universität in Greifswald.
Wissenschaftliche Hochschulen:
1. Technische H. Dresden;
[S. 171]2. Bergakademie Freiberg; Fach-Hochschulen:
1. H. für Schwermaschinenbau Magdeburg;
2. Technische H. für Chemie Leuna-Merseburg;
3. H. für Maschinenbau Karl-Marx-Stadt;
4. H. für Elektrotechnik Ilmenau;
5. H. für Verkehrswesen in Dresden;
6. H. für Architektur und Bauwesen Weimar;
7. H. für Bauwesen Cottbus;
8. H. für Bauwesen Leipzig;
9. H. für landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften Meißen;
10. Deutsche Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft „Walter Ulbricht“ Potsdam-Babelsberg;
11. H. für Ökonomie in Berlin;
12. H. für Binnenhandel in Leipzig;
13. Deutsche H. für Körperkultur in Leipzig;
14. Pädagogische H. Potsdam;
15. H.für bildende und angewandte Kunst Berlin;
16. H.für bildende Künste Dresden;
17. H. für Grafik und Buchkunst Leipzig;
18. Theaterhochschule Leipzig;
19. Deutsche H. für Filmkunst in Potsdam-Babelsberg;
20. Deutsche H. für Musik in Berlin;
21. H. für Musik Leipzig;
22. H. für Musik Dresden;
23. Franz-Liszt-H. in Weimar;
24. H. für industrielle Formgestaltung in Halle (Saale);
25. Medizinische Akademie Dresden „Carl-Gustav Carus“;
26. Medizinische Akademie Erfurt;
27. Medizinische Akademie Magdeburg.
Den Hochschulen gleichgestellte Institute:
1. Institut für Agrarökonomie Bernburg;
2. Institut für Archivwissenschaft. Institute mit Hochschulcharakter:
1. Pädagogisches Institut Leipzig;
2. Pädagogisches Institut „Karl- Friedrich Wilhelm Wander“ in Dresden;
3. Pädagogisches Institut Karl-Marx- Stadt;
4. Pädagogisches Institut Halle;
5. Pädagogisches Institut Erfurt;
6. Pädagogisches Institut Mühlhausen;
7. Pädagogisches Institut Güstrow.
Literaturangaben
- Baumgart, Fritz: Das Hochschulsystem der sowjetischen Besatzungszone. (BMG) 1953. 31 S.
- Kludas, Hertha: Zur Situation der Studenten in der Sowjetzone. (BMG) 1957. 55 S.
- Lange, Max Gustav: Wissenschaft im totalitären Staat. Die Wissenschaft der sowjetischen Besatzungszone auf dem Weg zum „Stalinismus“, m. Vorw. v. Otto Stammer (Schr. d. Inst. f. pol. Wissenschaft, Berlin, Bd. 5). Stuttgart 1955, Ring-Verlag. 295 S.
- Müller, Marianne, und Egon Erwin Müller: „… stürmt die Festung Wissenschaft!“ Die Sowjetisierung der mitteldeutschen Universitäten seit 1945. Berlin 1953, Colloquium-Verlag. 415 S.
Fundstelle: SBZ von A bis Z. Sechste, überarbeitete und erweiterte Auflage, Bonn 1960: S. 169–171