
Nationale Volksarmee (1960)
Siehe auch:
Bezeichnung für die aus der früheren Kasernierten Volkspolizei hervorgegangenen Streitkräfte der „DDR“. Am 18. 1. 1956 wurde in der 10. Vollsitzung der Volkskammer das „Gesetz über die Schaffung der NVA und des Ministeriums für Nationale Verteidigung“ verabschiedet: Die Armee sei „für die Erhöhung der Verteidigungsfähigkeit und die Sicherheit der DDR“ notwendig. Sie besteht aus Land-, Luft- und Seestreitkräften. „Die zahlenmäßige Stärke wird begrenzt entsprechend den Aufgaben zum Schutze des Territoriums der DDR, der Verteidigung ihrer Grenzen und der Luftverteidigung.“ Für den Ausbau der NVA sieht der Haushaltsplan 1960 eine Milliarde DM Ost vor: tatsächlich liegen die Kosten der Remilitarisierung der SBZ aber höher: von 1948–1955 sind — ohne daß sie im Staatshaushalt erschienen — mehr als 30 Milliarden DM Ost ausgegeben worden. Verteidigungsmin.: Generaloberst Hoffmann. Die „rechtlichen“ Voraussetzungen für den Aufbau einer Armee in der SBZ wurden am 26. 9. 1955 durch eine Verfassungsergänzung geschaffen, derzufolge der „Dienst zum Schutze des Vaterlandes und der Errungenschaften der Werktätigen“ zur „nationalen Ehrenpflicht der Bürger der DDR“ gemacht wird.
[S. 287]Bei der Annahme des Gesetzes über die Uniform der NVA betonte Generaloberst Willi Stoph am 18. 1. 1956 die Ausstattung der NVA „mit einer Uniform, die im Farbton, Schnitt und in der Trageweise der nationalen Tradition des deutschen Volkes entspricht“. Er versuchte, der taktisch-volkspsychologisch gewählten Wiedereinführung der alten feldgrauen Wehrmachtsuniform einen zugleich kommunistischen und nationalrevolutionären Sinn zu unterschieben: Es kämpfen „in diesen Uniformen, mit roten Abzeichen aber, … Arbeiter und Bauern gegen die … Reichswehr. In diesen Uniformen traten … Offiziere und Soldaten im Nationalkomitee Freies Deutschland gegen die hitlerfaschistische Armee auf“.
Seit dem Zeitpunkt, zu dem die NVA ihren Decknamen KVP ablegte, änderte sich ihre Gliederung im großen kaum, auch wuchsen Zahl und Kopfstärken ihrer Einheiten nur wenig an. Seit 1957 wurde eine Flak-Div. aufgestellt und die Luftwaffe verbessert. Auch ist die Aufstellung neuer Marineverbände zu erwähnen. Die schon vor 1956 ausgebildete Politschulung änderte sich ebenfalls nicht, wenn auch ihr Netzwerk genauso zielbewußt verfeinert und verstärkt wurde wie das in der NVA aufgezogene Spitzel- und Zuträgerwesen des Staatssicherheitsdienstes.
Das Ministerium für Nationale Verteidigung in Strausberg (ostwärts Berlin) ist oberste Kommandobehörde für die ganze NVA einschließlich Luftwaffe und Marine. Der Chef des Hauptstabes des Ministeriums für Nationale Verteidigung hat namens des Ministers Weisungsrecht über das Heer (das kein besonderes Oberkommando hat), die Luft- und die Seestreitkräfte. Die Politverwaltung untersteht dem Minister wie auch dem ZK der SED unmittelbar. — Die Gesellschaft für ➝Sport und Technik untersteht seit 1. 3. 1956 dem Verteidigungsministerium. Von ihm wird auch die damals als Amt für ➝Technik getarnte Leitung der Rüstungsproduktion gelenkt, die seit 1958 gemeinsam vom Ministerium f. Nat. Verteidigung und von der Staatlichen ➝Plankommission geleitet wird.
Auf dem Papier blieb lange die Propaganda-Ankündigung des Ministerrates der „DDR“ vom 28. 6. 1956, die NVA würde von 120.000 auf 90.000 vermindert (Militärpolitik). Diese Ankündigung wurde dann allmählich doch verwirklicht, weil der Arbeitskräftemangel es unmöglich machte, die Stärke von 110.000 Mann dauernd aufrechtzuerhalten. Zum Ausgleich hat die NVA ihre Feuerkraft durch bessere Ausstattung mit Geschützen, Panzern, Selbstfahrlafetten (Sturmgeschützen) und Infanterie-Begleitwaffen verstärken können. Die Ausbildung für eine Abwehr von Atomwaffen wird seit 1955 betrieben; die Divisionen haben je eine Atomschutz-Kompanie, bezeichnet als „Chem. Komp.“. (Eine Ausbildung an Atomgeschützen und Raketenwerfern, wie sie die Sowjetarmee besitzt, ist nicht sicher belegt, aber wahrscheinlich.)
Seit 1956 lassen SED und NVA Zirkel und Aktivs der Reservisten, d. h. der seit 1946 in den Bewaffneten Organen Ausgebildeten, bilden, die seit 1958 meist als Reservistenkollektive bezeichnet werden. Sie sollen sich als Ausbilder in der GST und in den Kampfgruppen betätigen. Seit Ende 1957 werden diese Reservisten von den Kreiskommandos (Wehrmeldeämtern) listenmäßig erfaßt. Als Reserve der NVA sollen sie regelmäßig zu Übungen einberufen werden. Auch werden gerade die Reservisten bei der Werbung für die NVA eingespannt. Diese Werbung geschieht wie schon vor 1956 unter einem als „freiwillig“ getarnten Zwang (Wehrpflicht). Die Dienstzeit beträgt zwei Jahre. Die Ausbildung zum Reserveoffizier erfolgt bei der Truppe. Auch werden in großer Zahl solche Studenten zu Reserveoffizieren ausgebildet, die schon eine vormilitärische Ausbildung bei der GST, sei es ouf der Schule, sei es auf der Hochschule, hinter sich haben (militärische ➝Studentenausbildung). In 3 bis 4 Lehrgängen wird im allgemeinen die Befähigung zum Reserveoffizier erworben.
Seit Generalleutnant Vincenz ➝Müller seinen Dienst als Chef des Stabes für Nationale Verteidigung nicht mehr ausüben darf, seit Nov. 1957, dürfte Generaloberst Hoffmann (zumindest inoffiziell) als Befehlshaber des Heeres tätig gewesen sein. Wer Müllers Nachfolger ist, wurde noch nicht bekannt. Das Heer gliedert sich in Armeekorps Nord (amtlich: Militärbezirk V) und Süd (Militärbezirk III). Die Militärbezirke I, II, IV (Rostock, Magdeburg, Frankfurt/Oder) bestehen nur verwaltungsmäßig und haben keine Truppen unter sich. Zu Nord (Sitz Neubrandenburg) gehören die 1. (teilmechanisierte) mot. Schützen-Div. (Potsdam), 8. (teilmechanisierte) mot. Schützen-Div. (Schwerin), 9. Panzer-Div. (Eggesin, südlich ückermünde); dazu kommen Korpstruppen. — Zu Süd (Sitz Leipzig) gehören: 4. (teilmechanisierte) mot. Schützen-Div. (Erfurt), 1. (teilmechanisierte) mot. Schützen-Div. (Halle), 7. Panzer-Div. (Dresden); dazu kommen Korpstruppen. — Dem Verteidigungs[S. 288]ministerium unterstehen direkt: das in Strausberg liegende Wachregiment und 5 Regimenter Heerestruppen. (Die mot. Schützen-Div. können nur als „teilmechanisiert“ bezeichnet werden, da nur ein Teil ihrer Verbände „mechanisiert“, d. h. mit Kettenfahrzeugen versehen ist.) — Die Inf.-Div. werden, wie Nachrichten besagen, atomar umgegliedert. Die Schützenkomp, werden etwas verkleinert. Die vormals heeresunmittelbare 1. mot Schützen-Div. gehört zum Armeekorps Nord. Die 6. mot. Schützen- Div. wurde aufgelöst. Dafür gibt es drei Ausbildungs-Regimenter. Die Bewaffnung mit modernen Kanonen und Haubitzen (bis zu 15,2 cm), Flak (bis zu 10 cm) und Granatwerfern (bis zu 12 cm) wurde verstärkt. Geschützzahl: rund 900, ferner rund 400 Pak, Granatwerferzahl: rund 700. — Moderne schwere und mittelschwere sowjetische Panzer, Sturmgeschütze auf Selbstfahrlafette, Panzerspähwagen und Schützenpanzerwagen. dazu Schwimmpanzer, werden mehr und mehr geliefert. Zahl der Panzer: rund 1800; der Sturmgeschütze: rund 300; der Schwimm- und Panzerwagen: rund 1.200.
Dem Ministerium unterstehen die Offiziersschulen für Infanterie (Plauen/Vogtland), Artillerie (Dresden), Panzer (Großenhain/Bez. Dresden), Nachrichten (Döbeln), Pioniere und Chem. Dienste (Dessau), Panzer- und Artillerietechnik (Erfurt), Kraftfahrzeugtechnik (Stahnsdorf, südl. Berlin). Auch unterstehen ihm die Kriegsakademie „Friedrich Engels“ (Dresden), die Kadettenanstalt (Naumburg), die Militärärzte-Akademie (Greifswald) und die Polit-Offiziersschule (Berlin-Treptow). — Ferner werden Offiziere und Stabsoffiziere zu Lehrgängen an den Kriegsschulen der SU in Moskau, Kiew und Leningrad abgestellt.
Die Verwaltung (= Kommando) der Luftstreitkräfte und Luftverteidigung sitzt in Eggersdorf bei Strausberg. Chef: Generalleutnant Keßler. Ihr unterstehen die 1. Flieger-Div. (Cottbus), 2. Flieger-Div. (Drewitz, Bez. Cottbus), Flieger-Ausbildungs-Div. (Bautzen), dazu die als technische Basen bezeichneten Flugplätze mit Flugplatz-Bataillonen. Die Luftwaffe nat 4 eigene Lehranstalten. — Sie hat etwa 200 Flugzeuge YAK 18 und YAK 11 und rund 180 MIG-Düsenjäger. — Die Luftverteidigung verfügt über die 1. Flak-Div. (Sitz Frankenberg/Bez. Chemnitz), 2 Radar-Btl., 1 Radar-Schule und 1 Flak-Offiziers-Schule (Geltow b. Potsdam).
Die Verwaltung (= Kommando) der Volksmarine, che seit 3. 11. 1960 so heißt, ist in Rostock. Chef seit Juni 1960: Konteradmiral Willi Ehm.
Ihr unterstehen 7 Flottillen: 3 Zerstörer- u. Schnellboot-, 2 Minenlege- und Räumboot-, 1 U-Boot- und 1 U- Jäger-Flottillen. Ferner sind ihr unterstellt: 1 Bergungs- und Rettungskommando, 1 Schiffsstammabt., 1 Pioniereinheit und einige Spezialeinheiten, 1 Abt. Baubelehrung, 1 Flottenschule, 1 Marineoffiziersschule. Sie verfügt über etwa 180 Fahrzeuge, die z. T. nur küstendienstfähig sind: 4 Zerstörer, 5 Küstenschutzschiffe, 7 U-Boote, 22 Minenlege- und Räumboote, 49 Räumpinassen, 6 Räumboote, 11 U- Jäger, 14 Schnellboote, 40 Küstenschutzboote, 1 Schul- und Flakschiff, 7 Begleitschiffe, rund 12 Hilfs- und Schulfahrzeuge.
Die Machthaber der SBZ vermeiden es grundsätzlich, die Stärke ihrer bewaffneten Kräfte anzugeben. Naturgemäß ist es schwierig, Nachrichten über die Rüstung der SBZ zu beschaffen und richtig einzuschätzen. Nach zuverlässigen Berichten war die NVA im Herbst 1960 mindestens 90.000 Mann stark: davon Luftwaffe 13.000 und Seestreitkräfte 12.000. (Höhere Angaben über die NVA beruhen wohl auf der Miteinrechnung der starken Lehrgänge 1. für Reserveoffiziersanwärter, die meist aus Hoch- und Fachschülern bestehen; 2. für Reserveunteroffiziere und Reservisten.)
Zahl der Reservisten: etwa 160.000 (einschließlich derer, die in der ehem. KVP, der Grenzpolizei und der Bereitschaftspolizei gedient haben). Die SED mißtraut auch jenen Offizieren der Wehrmacht, die sie umgeschult hat. Sie wurden meist aus Kommandeurstellen entfernt, z. T. wurden sie den Kampfgruppen als Berater zugewiesen.
Als Ersatz für die früheren Blätter der KVP gibt das Verteidigungsministerium seit Sept. 1956 die Zeitung „Die Volksarmee“ heraus, die seit 1. 1. 1961 wöchentlich erscheint, „Deutscher Militärverlag“, der Verlag der NVA, auch Erzählungen und Jugendschriften im Sinne der SED heraus. Er veröffentlicht viele Übers. a. d. Russ.
Literaturangaben
- Bohn, Helmut: Die patriotische Karte in der sowjetischen Deutschland-Politik. (Aus: „Ostprobleme“ 1955, H. 38, 40, 42) Bad Godesberg. 32 S.
- Boutard, R. J.: L'Armée en Allemagne Orientale … Paris 1955, Nouvelles Éditions Latines. 208 S.
- Kopp, Fritz: Chronik der Wiederbewaffnung in Deutschland, Rüstung der Sowjetzone — Abwehr des Westens (Daten über Polizei und Bewaffnung 1945 bis 1958). Köln 1958, Markus-Verlag. 160 S.
- Die Kasernierte Volkspolizei in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands (Denkschrift). (BMG) 1954. 44 S. m. 6 Anlagen.
Fundstelle: SBZ von A bis Z. Sechste, überarbeitete und erweiterte Auflage, Bonn 1960: S. 286–288
Nationale Streitkräfte | A, B, C, D, E, F, G, H, I, J, K, L, M, N, O, P, Q, R, S, T, U, V, W, Z | Nationalhymne |